Entscheidungsstichwort (Thema)

Bürgerkriegspartei als staatsähnliche Organisation. quasi-staatliche Verfolgung. Abschiebungsschutz

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen an staatsähnliche Organisationen (hier: in Afghanistan; Fortführung von BVerwGE 101, 328 und Urteil vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 15.96 – NVwZ, 1131 ≪zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt≫).

 

Normenkette

GG Art. 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1, § 53 Abs. 4, 6; EMRK Art. 3

 

Verfahrensgang

Hessischer VGH (Urteil vom 08.07.1996; Aktenzeichen 13 UE 962/96.A)

VG Kassel (Urteil vom 18.10.1995; Aktenzeichen 3 E 13/94.A (3))

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 10.08.2000; Aktenzeichen 2 BvR 260/98)

 

Tenor

Die Urteile des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 8. Juli 1996 und des Verwaltungsgerichts Kassel vom 18. Oktober 1995 werden geändert.

Die Beklagte wird unter teilweiser Aufhebung von Nr. 3 ihres Bescheides verpflichtet festzustellen, daß beim Kläger die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistan vorliegen.

Im übrigen werden die Klage abgewiesen und die Berufungen des Klägers und des Beteiligten sowie die Revision des Beteiligten zurückgewiesen.

Der Kläger trägt fünf Sechstel der Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen; ein Sechstel der Verfahrenskosten tragen in erster Instanz die Beklagte, im Berufungs- und Revisionsverfahren der Beteiligte.

 

Tatbestand

I.

Der 1958 geborene Kläger ist afghanischer Staatsangehöriger tadschikischer Volkszugehörigkeit. Er verließ sein Heimatland Mitte Januar 1992 und reiste über Karatschi mit dem Flugzeug nach Deutschland, wo er Asyl beantragte. Er trug vor, er sei seit 1973 Mitglied der kommunistischen Partei Afghanistans (DVPA) gewesen und habe der Khalq-Fraktion angehört. Er sei zuletzt Oberst der afghanischen Luftwaffe gewesen und habe an zahlreichen Kampfeinsätzen gegen die Mudjaheddin teilgenommen. Anfang Februar 1990 habe er sich an einem Putsch gegen die vom Parcham-Flügel der DVPA geführte Regierung Nadschibullah beteiligt. Der Umsturzversuch sei gescheitert; er sei inhaftiert worden, habe aber aus dem Gefängnis entkommen und ausreisen können.

Den Asylantrag des Klägers lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) ab (Nr. 1 des Bescheides) und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG (Nr. 2) sowie des § 53 AuslG (Nr. 3) nicht vorliegen; außerdem enthielt der Bescheid eine Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung nach Afghanistan (Nr. 4). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Verfolgung, die der Kläger bei einer Rückkehr in seine Heimat befürchte, sei keine politische Verfolgung, weil es infolge des andauernden Bürgerkriegs zur Zeit keine staatliche oder staatsähnliche Gewalt gebe. Auch Abschiebungshindernisse lägen nicht vor.

Das Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des entgegenstehenden Bescheids zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG in bezug auf Afghanistan und wies die Klage im übrigen ab.

Auf die Berufung des Klägers hat der Verwaltungsgerichtshof die Beklagte ferner verpflichtet, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen; die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) hat er zurückgewiesen. Zur Begründung hat der Verwaltungsgerichtshof ausgeführt:

Der Kläger sei politisch Verfolgter. Zwar sei in Afghanistan gegenwärtig und auf absehbare Zeit eine landesweite, zu politischer Verfolgung fähige Herrschaftsmacht nicht vorhanden. Nach der Machtübernahme durch die Mudjaheddin hätten sich jedoch über Provinzgrenzen hinweg autonome Teilbereiche herausgebildet, in denen – wenn auch nur regional begrenzt – staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt ausgeübt werde.

Eine solche Gewalt gehe zunächst von der Regierung in Kabul aus, die – im Verhältnis zu anderen Staaten und nach ihrem eigenen Anspruch – weiterhin den afghanischen Staat repräsentiere und, wenn auch nicht für das gesamte Staatsgebiet Afghanistans, so doch jedenfalls für den ihr verbliebenen Machtbereich, generelle Regelungen zur Ordnung der Lebensverhältnisse in den beherrschten Gebieten erlassen habe, die grundsätzlich für alle in diesen Territorien lebenden Menschen in gleicher Weise Geltung hätten. Entsprechende – als übergreifende staatsähnliche Friedensordnungen anzusehende – Rechtsordnungen seien auch in den anderen Machtzonen Afghanistans errichtet worden. In den Machtbereichen der Taliban, in der Schura der östlichen Provinzen und im Herrschaftsgebiet des Generals Dostum seien überdies durchweg zentrale Verwaltungseinrichtungen für die Überwachung nahezu aller Lebensbereiche und die Aufrechterhaltung der allgemeinen Sicherheit unter Einhaltung von Rechtsvorschriften geschaffen worden. Der Feststellung staatlicher bzw. quasi-staatlicher Gewalt stünden weder die Zersplitterung der Macht und die hieraus folgende Unberechenbarkeit ihrer Ausübung noch die Unfähigkeit der Machthaber entgegen, die Beachtung des staatlichen bzw. quasi-staatlichen Gewaltmonopols im jeweiligen Einflußbereich sicherzustellen. Die asylrechtliche Einordnung der genannten Machtbereiche als Quasi-Staaten sei schließlich auch nicht dadurch gehindert, daß sie nicht international als Völkerrechtssubjekte anerkannt seien. Die völkerrechtliche Anerkennung richte sich allein nach völkerrechtlichen Grundsätzen und Bedürfnissen. Das Asylrecht gewähre Schutz vor politischer Verfolgung dagegen bereits dann, wenn eine Herrschaftsmacht faktisch bestehe, der als Staat oder Quasi-Staat Verfolgung zugerechnet werden könne.

Die einzelnen Macht- und Einflußzonen seien in ihren Randbereichen zwar weiterhin umstritten und umkämpft; ohne dauerhafte Friedenslösung sowie ohne anerkannte und abgesicherte Grenzen zwischen den einzelnen Territorien könnten erneut umfassendere Konflikte mit der möglichen Folge des Untergangs eines gesamten Machtbereichs (wie dem des Kommandanten Ismail Khan im Westen) ausbrechen. Dies stelle die Existenz einer staatlichen oder quasi-staatlichen Herrschaftsgewalt aber nicht in Frage. Die Phase des umfassenden, das ganze Land ergreifenden Bürgerkrieges, in dem die einzelnen Gruppierungen nur die Rolle kämpfender Bürgerkriegsparteien einnähmen, sei mit der weitgehenden Einstellung der Kampfhandlungen in den Provinzen und der Konzentration des Kampfgeschehens auf Kabul beendet. Allerdings seien die Machthaber von örtlichen Regenten und Militärkommandanten abhängig, deren Loyalität wegen deren Eigenständigkeit und wegen des Fehlens fester ethnischer, religiöser oder politischer Bindungen zweifelhaft sei. Die in den einzelnen Machtzonen herrschenden Gewalten müßten daher ständig mit dem Abfall einzelner Orts- oder Regionalherrscher und zugleich mit dem Verlust von Macht und Einfluß in bestimmten Teilregionen rechnen. Anders stelle sich die Situation in den größeren Städten, insbesondere in den Machtzentren wie Kabul, Mazar-e-Sharif, Jalalabad und Kandahar sowie Herat dar, wo die herrschenden Kräfte eine effektive Gewalt ausüben könnten. Daß es ihnen gelingen könnte, in absehbarer Zeit den Einfluß örtlicher Gewalten in ihrem gesamten Bereich entscheidend zurückzudrängen und die Ausübung einer umfassenden Gebietsgewalt zu erreichen, sei jedoch wenig wahrscheinlich.

Der Kläger wäre in den von staatlichen bzw. quasi-staatlichen Kräften beherrschten städtischen Regionen in der Gefahr, Opfer asylrechtlich bedeutsamer Verfolgung zu werden. Ihm drohe als ehemaligem ranghohen Offizier und bekannten Piloten, der an Kampfeinsätzen gegen die Mudjaheddin im gesamten Land teilgenommen habe, bei einer Rückkehr in sein Heimatland durch alle Machthaber politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Darüber hinaus bestehe für ihn die Gefahr, ohne zureichenden Schutz durch die jeweiligen Machthaber Opfer privater Vergeltungs- oder Racheaktionen zu werden. Eine inländische Fluchtalternative bestünde für ihn auch im Machtbereich des Generals Dostum, der überdies derzeit weder vom Ausland noch vom Landesinneren Afghanistans aus direkt erreicht werden könne, nicht.

Die Berufung des Bundesbeauftragten bleibe ohne Erfolg, weil das Verwaltungsgericht im Ergebnis zu Recht ein Abschiebungshindernis aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK angenommen habe. Dem Kläger drohe nämlich eine unmenschliche Behandlung durch staatliche bzw. staatsähnliche Herrschaftsgewalten in Afghanistan.

Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision erstrebt der Bundesbeauftragte die Abweisung der Klage in vollem Umfang. Er macht geltend, das Berufungsgericht habe zu Unrecht verfolgungsmächtige Machtmonopole in Teilbereichen Afghanistans angenommen. Fehle es dort an einer staatlichen oder staatsähnlichen Hoheitsmacht, scheide auch ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG aus.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist auf die weitere militärische und politische Entwicklung in Afghanistan hin. Bis auf zwei Provinzen im Nordosten stehe inzwischen das gesamte Land unter der Kontrolle der Taliban, die sich gegenüber den Angehörigen der früheren kommunistischen Machtelite als besonders unnachgiebig erwiesen hätten.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Revision des Beteiligten ist überwiegend begründet. Soweit die Vorinstanzen dem Kläger Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG sowie nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK zugesprochen haben, sind ihre Entscheidungen wegen der Verletzung von Bundesrecht aufzuheben. Insoweit bleiben die Klage und die Berufung des Klägers erfolglos. Auf den im Rechtsschutzbegehren des Klägers enthaltenen weiteren Hilfsantrag (vgl. das Urteil des Senats vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 19.96 – NVwZ 1997, 1132 = InfAuslR 1997, 420; zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt) ist die Beklagte zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu verpflichten. Insoweit ist die auf Abweisung der Klage insgesamt gerichtete Revision des Beteiligten nicht begründet.

Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan an Leib und Leben gefährdet wäre, weil er als ranghoher Offizier der Luftwaffe des früheren kommunistischen Regimes Nadschibullah und als Kampfpilot, der bis zu seiner Inhaftierung im Jahre 1990 an Einsätzen gegen die Mudjaheddin teilgenommen habe, bekannt sei. Er müsse damit rechnen, von allen lokalen und regionalen Machthabern verfolgt und gegenüber privaten Vergeltungs- oder Racheaktionen schutzlos gelassen zu werden. Aus diesen mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen (vgl. § 137 Abs. 2 VwGO) folgt indessen noch nicht, daß der Kläger Anspruch auf Asylanerkennung nach Art. 16a Abs. 1 GG und auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG oder auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK hat.

Ein Asylanspruch nach Art. 16a GG und ein Anspruch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG bestehen nur, wenn der Ausländer von politischer, d.h. staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung bedroht ist (vgl. zuletzt die Urteile vom 6. August 1996 – BVerwG 9 C 172.95 – BVerwGE 101, 328 und vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 15.96 – InfAuslR 1997, 379, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen). Ebenso kommt ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nur dann in Betracht, wenn dem Ausländer im Zielland der angedrohten Abschiebung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung durch einen Staat oder eine staatsähnliche Organisation droht (vgl. zuletzt die Urteile des Senats vom 2. September 1997 – BVerwG 9 C 40.96 –, vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 38.96 – NVwZ 1997, 1127 = InfAuslR 97, 341 ≪jeweils zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen≫ und vom 17. Oktober 1995 – BVerwG 9 C 15.95 – BVerwGE 99, 331). Davon ist das Berufungsgericht zutreffend ausgegangen. Seine rechtlichen Ausführungen und Schlußfolgerungen dazu, daß sich in Afghanistan trotz des Fehlens einer gesamtstaatlichen Gewalt “weitgehend autonome Teilbereiche herausgebildet haben, in denen – wenn auch nur in regional begrenzter Form – staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt ausgeübt wird” (UA S. 21), die zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts und zu unmenschlicher Behandlung im Sinne der angeführten Abschiebungsschutzbestimmungen fähig ist, stehen jedoch mit Bundesrecht nicht in vollem Umfang in Einklang.

Soweit das Berufungsgericht annimmt, daß trotz der festgestellten Handlungsunfähigkeit der zentral- oder gesamtstaatlichen Gewalt in Afghanistan noch eine “staatliche bzw. staatsähnliche Gewalt” ausgeübt werde, ist unklar, ob darin zum Ausdruck kommen soll, die afghanische Regierung unter Präsident Rabbani sei Rechtsnachfolgerin der letzten gesamtstaatlichen kommunistischen Regierung unter Staatspräsident Nadschibullah und übe deshalb “staatliche” Gebietsgewalt aus. Gegen eine solche Sicht des Berufungsgerichts spricht allerdings seine Feststellung, die afghanische Regierung habe zunehmend ihre militärische und politische Handlungsfähigkeit verloren und nehme an dem Kriegsgeschehen nur als eine von mehreren um die Macht im Lande kämpfenden Bürgerkriegsparteien teil. Außerdem hat das Berufungsgericht festgestellt, daß Rabbani seinen Machtanspruch aus der Vereinbarung der sieben führenden Widerstandsorganisationen der Mudjaheddin vom April 1992 über die Bildung einer “Übergangsregierung” ableitet, daß sich diese Übergangsregierung jedoch von Anfang an weder auf alle Widerstandsgruppen stützen konnte noch jemals in der vereinbarten Weise zur Aufnahme der Regierungsgeschäfte und zur wirksamen Ausübung der Regierungsgewalt in der Lage war. Bereits am Tag der Vereinbarung brachen beim Einzug der rivalisierenden Mudjaheddin-Gruppen in Kabul heftige Kämpfe um die Vormachtstellung aus, welche letztlich zur Fortführung des Bürgerkriegs bis zum heutigen Tage führten. Eine von allen Mudjaheddin-Gruppen gebildete oder anerkannte Regierung, die als Rechtsnachfolgerin des gestürzten kommunistischen Regimes betrachtet werden könnte, hat es mithin nicht gegeben. Der Senat versteht deshalb die Ausführungen des Berufungsgerichts im Ergebnis dahin, daß in ganz Afghanistan spätestens seit dem Sturz des kommunistischen Regimes im April 1992 keine handlungsfähige Staats- oder Reststaatsgewalt mehr besteht, sondern allenfalls regional gewisse “staatliche Strukturen” (UA S. 43) – wie etwa aus früherer Zeit übernommene Verwaltungsbehörden – erhalten geblieben sind; eine andere Wertung ließen die festgestellten Tatsachen wohl auch nicht zu. Selbst wenn das Berufungsgericht aber angenommen haben sollte, die Regierung Rabbani übe in ihrem Bereich entsprechend ihrem Machtanspruch, ihrem Selbstverständnis und wegen der von ihr fortgeführten diplomatischen Beziehungen (oder aufgrund einer etwaigen afghanischen Tradition, die Regierungsgewalt dem jeweiligen Herrscher in Kabul zuzuordnen) eine überkommene (Rest-)Staatsgewalt des in allen anderen Landesteilen handlungsunfähig gewordenen Staates Afghanistan aus, so könnte dies der revisionsrechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt werden. Die tatsächliche Grundlage einer derartigen Annahme wäre nämlich – wie mit den Beteiligten in der Revisionsverhandlung erörtert – jedenfalls nach dem Erlaß des Berufungsurteils mit der Eroberung Kabuls durch die Taliban Ende September 1996 entfallen (zur Berücksichtigung derartiger allgemeinkundiger Tatsachen vgl. zuletzt das Urteil vom 6. August 1996 – BVerwG 9 C 172.95 – a.a.O. S. 340 m.w.N.). Für den Kläger besteht daher nicht die Gefahr, bei der Rückkehr in sein Heimatland von einer handlungsfähigen (Rest-)Staatsgewalt verfolgt zu werden.

Soweit das Berufungsgericht ferner angenommen hat, dem Kläger drohten jedenfalls Verfolgung und Mißhandlung durch staatsähnliche Organisationen, die sich inzwischen in allen Gegenden Afghanistans herausgebildet hätten, hat es einen bundesrechtlich nicht uneingeschränkt zutreffenden Maßstab zugrunde gelegt. Das Berufungsgericht stellt für die Bestimmung eines Machtgebildes als staatsähnlich entscheidend darauf ab, ob neben dem Vorhandensein bestimmter organisatorischer Strukturen eine “übergreifende Friedensordnung” besteht (UA S. 17 f.). Diesem auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gestützten Ansatz ist, wie der Senat zu früheren Entscheidungen des Berufungsgerichts ausgeführt hat (vgl. Urteil vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 15.96 – a.a.O.), zwar mit der weiteren Überlegung zuzustimmen, daß eine zu politischer Verfolgung fähige staatsähnliche Herrschaftsmacht mehr voraussetzt als die Fähigkeit zu bloßer physischer Machtausübung mit Waffengewalt. Da die Fähigkeit zu politischer Verfolgung gleichsam die Kehrseite des staatlichen (Schutz- und) Gewaltmonopols darstellt, hat das Berufungsgericht der Sache nach zu Recht die Herstellung einer solchen, der staatlichen Friedensordnung ähnlichen Ordnung nach innen vorausgesetzt. Sein hierbei zugrunde gelegter Maßstab ist indessen zu wenig streng. Dem Bestehen einer abstrakten Rechtsordnung im Sinne übergreifender rechtlicher Regeln (vgl. UA S. 50) hat es ein zu starkes Gewicht für die Annahme einer staatsähnlichen Gewalt beigemessen. Es hat daneben zwar die Notwendigkeit einer nach innen und außen stabilisierten Gebietsherrschaft erkannt, diese aber zu gering gewichtet und deshalb zu Unrecht bejaht. Insoweit stimmt das Berufungsurteil nicht mit den bundesrechtlichen Anforderungen an staatsähnliche Organisationen überein, wie sie der Senat zuletzt – zeitlich nach der hier angegriffenen Entscheidung und deshalb vom Berufungsgericht noch nicht berücksichtigt – in den bereits zitierten Urteilen vom 6. August 1996 – BVerwG 9 C 172.95 – und vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 15.96 – a.a.O. näher bestimmt und umschrieben hat. Quasi-staatlich ist eine Gebietsgewalt danach nur, wenn sie – ähnlich wie bei Staaten, die eine organisierte Herrschaftsmacht mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol auf einem begrenzten Territorium über ihre Bevölkerung effektiv und dauerhaft ausüben – auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Effektivität und Stabilität erfordern eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates.

Dabei sind die Effektivität und die Stabilität regionaler Herrschaftsorganisationen in einem noch andauernden Bürgerkrieg besonders vorsichtig zu bewerten (vgl. das Urteil vom 15. April 1997 a.a.O.). Solange jederzeit und überall mit dem Ausbruch die Herrschaftsgewalt regionaler Machthaber grundlegend in Frage stellender bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden muß, kann sich eine dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren. So aber verhält es sich nach den Feststellungen des Berufungsgerichts in Afghanistan; keine der um die Macht über ganz Afghanistan fortwährend kämpfenden Bürgerkriegsparteien erfüllt hiernach die Anforderungen an eine staatsähnliche Organisation im Sinne der Rechtsprechung des erkennenden Senats. Schon die Feststellung des Berufungsgerichts, es könne zwischen den einzelnen Territorien “erneut zu umfassenderen Konflikten mit der möglichen Folge des Untergangs eines gesamten Machtbereichs (wie dem des Kommandanten Ismail Khan)” (UA S. 61) kommen, schließt die Annahme einer stabilisierten und dauerhaften Ausübung von Gebietsgewalt aus.

Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts können die Anforderungen an die Stabilität und Dauerhaftigkeit einer sich unter Bürgerkriegsverhältnissen bildenden staatsähnlichen Gewalt nicht dadurch herabgesetzt werden, daß auf die allgemeinen völkerrechtlichen Kriterien für den Untergang von Staaten oder lediglich auf die Schutzbedürftigkeit der vom Bürgerkrieg betroffenen Personen abgestellt wird. Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kommt es vielmehr darauf an, ob eine Erweiterung der in ihrem normativen Gehalt völkerrechtlich vorgeprägten Asylrechtsgarantie, die Schutz nur vor der Ausgrenzung aus der für eine menschenwürdige Existenz unentbehrlichen staatlichen Gemeinschaft bietet, gerechtfertigt ist. Das ist dann der Fall, wenn der einzelne nach den tatsächlichen Verhältnissen zwar nicht durch einen völkerrechtlich anerkannten Staat politisch verfolgt wird, aber durch eine sich an Stelle eines inzwischen untergegangenen oder handlungsunfähig gewordenen Staates bildende, ihn verdrängende oder ersetzende (staatsähnliche) Organisation. Entsprechendes gilt für die Ausdehnung des Schutzbereichs von Art. 3 EMRK, der nach der Rechtsprechung des Senats ebenfalls grundsätzlich nur vor der Zufügung schwerer Menschenrechtsverletzungen durch einen Staat schützt. Bei einem anhaltenden Bürgerkrieg erfordert dies, daß zwischenzeitlich entstandene Machtgebilde voraussichtlich von Dauer sein werden und Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen sind. Damit ist nur zu rechnen, wenn die Bürgerkriegsparteien nicht mehr unter Einsatz militärischer Mittel mit der Absicht, den Gegner zu vernichten, und mit Aussicht auf Erfolg um die Macht im ganzen Bürgerkriegsgebiet kämpfen, die Fronten also über längere Zeit hinweg stabil sind und allenfalls in Randbereichen noch gekämpft wird, im übrigen aber eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist (vgl. hierzu etwa die Ausführungen zum Bürgerkrieg in Bosnien im Urteil des Senats vom 6. August 1996 – BVerwG 9 C 172.95 – a.a.O.).

Eine solche Lage besteht in Afghanistan nicht. Wie das Berufungsgericht festgestellt hat, streben sämtliche Bürgerkriegsparteien nach wie vor kompromißlos mit militärischen Mitteln die Machtübernahme im Gesamtstaat an. Eine Verständigung zwischen den Machthabern über eine friedliche Beendigung des Bürgerkriegs oder auch nur über einen dauerhaften Waffenstillstand hält das Berufungsgericht für “äußerst unwahrscheinlich” (UA S. 36). Diese Prognose ist durch die späteren allgemeinkundigen Ereignisse, insbesondere durch den Vormarsch der Taliban und die bis heute andauernden Kämpfe um die Hauptstadt Kabul bestätigt worden. Die in einem gewissen Widerspruch hierzu stehende Auffassung des Berufungsgerichts, die Phase des umfassenden, das ganze Land ergreifenden Bürgerkriegs sei mit der weitgehenden Einstellung der Kampfhandlungen in den Provinzen und der Konzentration des Kampfgeschehens auf Kabul beendet, ist hingegen durch diese Ereignisse widerlegt worden.

Ebenfalls gegen die Annahme staatsähnlicher Gebietsgewalt spricht die Feststellung des Berufungsgerichts, daß alle derzeit in Afghanistan herrschenden Machthaber zur Aufrechterhaltung ihrer militärischen Herrschaft mehr oder minder auf autonome örtliche Kommandanten angewiesen sind, deren Loyalität zweifelhaft ist. Sie müssen hiernach ständig mit dem Abfall einzelner Orts- oder Regionalherrscher und mit entsprechendem Gebietsverlust rechnen. Außerdem kann es jederzeit zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Kräften auf örtlicher oder regionaler Ebene kommen, wobei die Machthaber jeweils nur schlichtend und vermittelnd eingreifen können. Damit ist die Durchsetzung des für eine staatsähnliche Organisation unverzichtbaren territoralen Gewaltmonopols in Frage gestellt. Zwar mag es in den einzelnen Herrschaftsgebieten einen Gebietsrest geben, in dem die Herrschaft nicht mit lokalen Machthabern geteilt werden muß, sondern uneingeschränkt als Gebietsgewalt besteht. An der erwähnten Gefahr, daß einzelne der unabhängig agierenden Teilgebiete abfallen, ändert das aber nichts. Auch wenn in Afghanistan in der Vergangenheit kein bis in alle Winkel des Landes reichendes Gewaltmonopol bestanden haben sollte, besagt das nichts für die Staatsähnlichkeit der gegenwärtigen Machtgebilde. Was für anerkannte und etablierte Staaten unschädlich sein mag, kann der Beurteilung eines Machtgebildes als staatsähnlich durchaus im Wege stehen. Die vom Berufungsgericht für einzelne oder sämtliche Machtbereiche festgestellte Existenz von Rechtsordnungen und Verwaltungseinrichtungen sowie die Verbesserung der allgemeinen Sicherheitslage sind zwar wichtige Indizien für staatsähnliche Organisationen. Das Bestehen solcher Strukturen kann jedoch eine fehlende effektive und dauerhafte territoriale Gebietsgewalt nicht ersetzen.

Die Entscheidung des Berufungsgerichts kann hiernach keinen Bestand haben, soweit dem Kläger Asyl nach Art. 16a GG und Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zuerkannt worden ist; im Ergebnis das gleiche gilt für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK. Der Revision des Beteiligten ist insoweit stattzugeben.

Keinen Erfolg hat die Revision des Beteiligten hingegen, soweit sie der Klage auch hinsichtlich des Feststellungsbegehrens nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG entgegentritt. Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß der Kläger bei seiner Rückkehr nach Afghanistan landesweit von allen Machthabern und von Privatpersonen mit Nachstellungen bis hin zu einer Tötung zu rechnen hat. Danach liegen in seiner Person die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 VwGO vor. Dabei handelt es sich auch nicht um eine allgemeine, der ganzen Bevölkerung oder bestimmten Bevölkerungsgruppen in Afghanistan etwa infolge des Bürgerkriegs drohende Gefahr i.S. von § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG, sondern um eine den Kläger – namentlich wegen seiner herausgehobenen Stellung und Funktion als Kampfpilot – als Einzelperson konkret treffende Leibes- und Lebensgefahr (zur Abgrenzung vgl. das Urteil des Senats vom 17. Oktober 1995 – BVerwG 9 C 9.95 – BVerwGE 99, 324). Die Beklagte ist deshalb, da der Senat insoweit in der Sache entscheiden kann (vgl. § 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO), zur Gewährung von Abschiebungsschutz durch Feststellung der Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG zu verpflichten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Dabei bewertet der Senat das Unterliegen des Klägers im Streit über die in den Instanzen anhängig gewesenen Ansprüche auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG, auf Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG und auf Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG im Verhältnis zu dem nachrangigen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 AuslG entsprechend seinem Interesse am Verbleiben im Bundesgebiet – unabhängig von der pauschalierten Gegenstandswertregelung in § 83 b AsylVfG – mit fünf Sechsteln des Gesamtinteresses an einem Obsiegen.

 

Unterschriften

Seebass, Dr. Bender, Dawin, Dr. Henkel, Hund

 

Fundstellen

BVerwGE, 306

ZAR 1998, 136

DVBl. 1998, 280

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