Entscheidungsstichwort (Thema)

Bürgerkriegspartei als staatsähnliche Organisation. quasi-staatliche Verfolgung. Abschiebungsschutz

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen an staatsähnliche Organisationen (hier: in Afghanistan; wie Urteil vom 4. November 1997 – BVerwG 9 C 34.96 – DVBl 1998, 280 = InfAuslR 1998, 145, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt).

 

Normenkette

GG Art. 16a Abs. 1; AuslG § 51 Abs. 1, § 53 Abs. 1-2, 4, 6; EMRK Art. 3

 

Verfahrensgang

OVG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 23.07.1997; Aktenzeichen 11 A 10570/97)

VG Koblenz (Urteil vom 19.08.1996; Aktenzeichen 8 K 1447/96.KO)

 

Nachgehend

BVerfG (Beschluss vom 10.08.2000; Aktenzeichen 2 BvR 260/98)

 

Tenor

Der Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz vom 23. Juli 1997 wird aufgehoben, soweit er der Berufung der Berufungskläger gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Koblenz vom 19. August 1996 stattgegeben hat.

Die Berufung wird in vollem Umfang zurückgewiesen.

Die Berufungskläger tragen die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens. Hinsichtlich der Kosten der Verfahren der ersten Instanz bleibt es bei den Kostenentscheidungen des Verwaltungsgerichts.

 

Tatbestand

I.

Die 1942 und 1948 in Kabul geborenen Kläger zu 1 und zu 2 sind afghanische Staatsangehörige. Sie sind seit 1968 miteinander verheiratet. Die Kläger zu 2 bis 6 sind deren zwischen 1979 und 1987 in Kabul geborenen Kinder. Die Kläger verließen ihr Heimatland Mitte Oktober 1995 und gelangten über Tadschikistan mit dem Zug nach Kiew und sodann Ende Oktober 1995 nach Berlin, wo sie Asyl beantragten. Der Kläger zu 1 gab an, er sei seit Oktober 1970 Mitglied der Demokratischen Volkspartei Afghanistans – DVPA – (Parcham-Flügel) gewesen und habe von September 1981 bis zu dessen Auflösung im September 1986 dem Revolutionsrat der Demokratischen Republik Afghanistan angehört. Seit 1980 sei er Kommandant der Militärakademie und seit 1981 stellvertretender Verteidigungsminister mit Zuständigkeit für Bewaffnung und technische Ausrüstung gewesen. Diese Position habe er – im Range eines Generalleutnants – auch noch in den ersten Monaten nach der Machtübernahme durch die Mudjaheddin innegehabt. Nach einer Warnung, daß seine Verhaftung bevorstehe, sei er Anfang September 1992 mit seiner Familie aus der Stadt geflüchtet und habe sich in der Provinz Baghlan und später in der Provinz Kunduz in Sicherheit gebracht. Nachdem sie auch in Kunduz nicht mehr sicher gewesen seien, hätten sie Afghanistan verlassen. Die Klägerin zu 2 gab an, sie sei seit 1968 Mitglied der kommunistischen Partei gewesen und habe als Lehrerin, in der Schulverwaltung und von 1989 bis Juni 1992 als Direktorin eines Gymnasiums in Kabul gearbeitet.

Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) lehnte die Asylanträge ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG nicht vorliegen (Nr. 2). Unter Nr. 3 des Bescheids stellte das Bundesamt fest, daß ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG hinsichtlich Afghanistans vorliegt, im übrigen aber Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht bestehen. In Nr. 4 des Bescheids wurden die Kläger ohne Angabe eines Abschiebezielstaates zur Ausreise aufgefordert; ihnen wurde die Abschiebung in einen Staat angedroht, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet ist. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, den Klägern drohe keine politische Verfolgung, da in Afghanistan weiterhin Bürgerkrieg herrsche. Hingegen lägen die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 AuslG vor, weil den Klägern nach ihren glaubhaften Angaben bei Rückkehr nach Afghanistan an jedem Ort schwerste Übergriffe aller Bürgerkriegsparteien aufgrund der exponierten Stellung des Klägers zu 1 als stellvertretender Verteidigungsminister drohten.

Mit ihrer Klage haben die Kläger beantragt, sie als Asylberechtigte anzuerkennen und die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG festzustellen sowie über § 53 Abs. 4 AuslG hinausgehende Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2 und 6 Satz 1 AuslG hinsichtlich Afghanistans festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte unter Abänderung von Nr. 3 des Bundesamtsbescheids verpflichtet, das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 AuslG festzustellen, und die Klage im übrigen abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger hätten Afghanistan unverfolgt verlassen, weil dort zum Zeitpunkt ihrer Ausreise Bürgerkrieg geherrscht habe und eine effektive Gebietsgewalt auch in Teilregionen nicht ausgeübt worden sei. Auch ein objektiver Nachfluchtgrund bestehe nicht. Eine zentralstaatliche Gewalt existiere nach wie vor nicht. Nur in dem Gebiet, in dem Dostum herrsche, seien die Anforderungen an eine staatsähnliche Organisation erfüllt, jedoch nicht bei den Taliban und im Herrschaftsbereich Rabbanis und Hekmatyars. Ob in den südöstlichen Provinzen staatsähnliche Strukturen bestünden, könne offenbleiben, da für eine politische Verfolgung erforderlich sei, daß landesweit staatliche Hoheitsträger existierten, die als Verfolgungssubjekt in Betracht kämen. Diese Voraussetzung sei nicht erfüllt. Die Rechtsprechung zur inländischen Fluchtalternative sei nicht anwendbar. Den Klägern stehe daher weder ein Anspruch auf Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG noch auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zu. Wegen seines Geheimwissens über unterirdische Waffendepots in Afghanistan bestehe für den Kläger zu 1 und seine Familie die Gefahr, von den verschiedenen Mudjaheddin-Gruppierungen und von Dostum gefoltert zu werden, wenn sie des Klägers zu 1 oder eines seiner Familienmitglieder habhaft würden. Deshalb liege ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 AuslG vor.

Der beim Verwaltungsgericht getrennt geführten Klage des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) gegen die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 4 AuslG hat das Verwaltungsgericht durch vollständige Aufhebung der Nr. 3 des Bescheids der Beklagten mit der Begründung stattgegeben, § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK könne nur bei landesweit drohender staatlicher oder quasi-staatlicher unmenschlicher Behandlung angewandt werden. An dieser Voraussetzung fehle es in Afghanistan.

Auf die – nur zu Art. 16a GG, § 51 Abs. 1 AuslG und § 53 Abs. 2 und 4 AuslG zugelassene – Berufung der Kläger hat das Oberverwaltungsgericht die erstinstanzlichen Entscheidungen teilweise geändert und die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bundesamtsbescheids, soweit dieser nicht bereits durch das erstinstanzliche Urteil zu § 53 Abs. 4 AuslG aufgehoben worden sei, zur Asylanerkennung der Kläger und zur Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG für den Kläger zu 1 verpflichtet. Im übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Kläger hätten Anspruch auf Asyl, das ihnen nicht mit der Begründung versagt werden könne, es gäbe in ihrer Heimat keine Staatsgewalt. Der Kläger zu 1 habe wegen seiner herausgehobenen Stellung in der Administration und Armee des früheren kommunistischen Regimes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung durch die Taliban (Taleban) zu erwarten, deren Macht den Anforderungen an eine staatliche oder staatsähnliche Gewalt im Sinne des Asylrechts entspreche. Dem Kläger zu 1 drohten auch in den übrigen Gebieten Afghanistans mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsmaßnahmen von asylerheblicher Intensität, so daß er, sofern dort weitere quasi-staatliche Herrschaften bestehen sollten, auch dort politisch verfolgt werden würde und ansonsten keine zumutbare Zuflucht finden könnte. Der Kläger zu 1 erfülle deshalb auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, könne aber als Asylberechtigter nicht außerdem die Feststellung weiterer Abschiebungshindernisse beanspruchen. Die Kläger zu 2 bis 6 seien familienasylberechtigt; die Feststellung von Abschiebehindernissen für sie scheide aus.

Politische Verfolgung sei Verfolgung durch einen Staat oder eine staatsähnliche Organisation. Gebe es auf dem Gebiet des Heimatstaats eines Ausländers Bereiche, in denen keine staatliche oder quasi-staatliche Macht die effektive Gebietsgewalt innehabe, so habe der Ausländer, sofern ihm von allen Trägern staatlicher oder quasi-staatlicher Herrschaftsmacht in seinem Heimatstaat politische Verfolgung drohe, nur dann keinen Asylanspruch, wenn er nach Maßgabe der Grundsätze der inländischen Fluchtalternative in den Gebieten, in denen keine staatliche oder quasi-staatliche Macht die effektive Gebietsgewalt innehabe, eine zumutbare Zuflucht finden könne. Es sei nicht erforderlich, daß der Ausländer überall in seinem Heimatstaat politisch verfolgt werden könne. Allerdings könnten sich auch solche Teile eines Staatsgebiets, in denen kein staatlicher oder quasi-staatlicher Schutz erlangt werden könne, als inländische Fluchtalternativen darstellen.

Weite Teile Afghanistans würden mittlerweile von den Taliban beherrscht, die jedenfalls im Kerngebiet ihres Machtbereichs inzwischen eine staatsähnliche Herrschaftsmacht etabliert und effektiv durchgesetzt und auch eine übergreifende Friedensordnung errichtet hätten. Seit ihrem Eintritt in den Bürgerkrieg Ende Oktober/Anfang November 1994 hätten sie bis zur Eroberung Kabuls Ende September 1996 drei Viertel des Landes in ihre Hand gebracht. Ein Vorstoß in das “Nordreich” Dostums im Frühjahr 1997 habe jedoch nur teilweise Erfolg gehabt; zur Zeit hielten sie dort nur noch die Provinz Kunduz, während es an anderen Fronten zu teilweise erfolgreichen Gegenoffensiven gekommen sei. Auch in den bis Ende 1996 erorberten Gebieten herrschten die Taliban noch nicht überall unangefochten und ohne Rücksicht auf “Regionalfürsten” nehmen zu müssen. Ende Januar/Anfang Februar 1997 hätten sie sich in der Provinz Herat erneut massive Kämpfe mit Einheiten eines örtlichen Warlords geliefert. Zur selben Zeit habe sich in Kunar ein paschtunischer Kommandant gegen sie erhoben; Haji Abdul Qadir habe einige andere Gebiete zurückerorbert. Weitere Kommandaten herrschten ohne nennenswerte Einmischung durch die Taliban. Schließlich schienen die Taliban bei gelegentlichen Kämpfen zwischen verschiedenen Paschtunen-Stämmen in einigen Enklaven örtlichen Potentaten Zugeständnisse machen zu müssen. Sonst aber brauchten sie die Macht in ihren Gebieten mit niemanden zu teilen und hätten mithin so etwas wie ein Machtmonopol inne. Diese Herrschaftsmacht setzten sie zur Verwirklichung ihrer Ziele (allgemeine Sicherheit; Erhalt der staatlichen Einheit; Durchsetzung der Scharia und Entwaffnung der Bevölkerung) wirkungsvoll ein. Außerdem gebe es auch eine Reihe außenpolitischer Aktivitäten und diplomatischer Kontakte. Pakistan, Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate hätten sie anerkannt. Dies alles bestätige indiziell die Feststellung, daß die Taliban jedenfalls in den bis Ende September 1996 eroberten Gebieten quasi-staatliche Herrschaftsmacht ausübten.

Im Machtbereich der Taliban werde der Kläger zu 1 beachtlich wahrscheinlich wegen seiner kommunistischen Vergangenheit verfolgt werden. Außerdem bestehe die Gefahr von Racheaktionen einzelner, auch durch Denunziation. Außerhalb des Machtbereichs der Taliban drohten dem Kläger zu 1 Verfolgungsmaßnahmen von asylerheblicher Intensität mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. Im Norden müsse er zudem wegen des meist weniger effektiven Machtmonopols mit noch größerer Wahrscheinlichkeit mit Blutracheakten rechnen. Auch in den anderen Gebieten, gleichgültig, ob dort überall noch oder wieder eine staatliche oder quasi-staatliche Macht errichtet worden sei, drohten ihm entsprechende Verfolgungsmaßnahmen, die sich in einem etwaigen (quasi-)staatlichen Machtbereich ebenfalls als politische Verfolgung darstellen würden und anderenfalls die Annahme einer zumutbaren Zuflucht ausschlössen. Daraus ergebe sich ein Anspruch des Klägers zu 1 auf Asylanerkennung und Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG. Daneben könne er die Feststellung von Abschiebungshindernissen im Sinne des § 53 AuslG nach § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG grundsätzlich nicht verlangen. Die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 AuslG durch das Verwaltungsgericht bleibe unberührt, weil das Urteil insoweit rechtskräftig und nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens sei. Die Ehefrau und die Kinder des Klägers zu 1 seien nach § 26 Abs. 1 und 2 AsylVfG als (Familien-)Asylberechtigte anzuerkennen, hätten aber gemäß § 31 Abs. 5 AsylVfG keinen Anspruch auf die zusätzliche Feststellung von Abschiebungshindernissen, so daß auch ihre Berufung insoweit zurückgewiesen werden müsse.

Der beteiligte Bundesbeauftragte trägt zur Begründung seiner Revision vor, das Berufungsgericht habe die Herrschaft der Taliban im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts als staatsähnlich angesehen und die Möglichkeit eines Ausweichens in andere Landesteile zu Unrecht nach den Grundsätzen über eine inländische Fluchtalternative geprüft.

Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, das Berufungsgericht verkenne, daß asylberechtigt im Sinne des Art. 16a GG nur sein könne, wer in seinem Heimatstaat aufgrund politischer Verfolgung überall schutzlos sei und deshalb Schutz im Ausland suchen müsse. Der Kläger zu 1 sei im Oktober 1995 unverfolgt ausgereist und bereits zu diesem Zeitpunkt landesweit schutzlos vor einer Verfolgung durch örtliche Machthaber oder Privatpersonen gewesen. Da er seinen Lebensmittelpunkt zuletzt außerhalb des Talibangebiets gehabt habe, fehle es auch an dem für einen Nachfluchttatbestand erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen drohender politischer Verfolgung und Schutzlosigkeit. Das Berufungsgericht habe ferner ungenügende Feststellungen zum Reiseweg der Kläger getroffen und nicht geprüft, ob die Einreise auf dem Luftweg ohne Gebietskontakt zu einem sicheren Drittstaat im Sinne von Art. 16a Abs. 2, § 26a AsylVfG glaubhaft sei. Die Verpflichtung zur Anerkennung der Kläger zu 2 bis 6 als Familienasylberechtigte beruhe auf einer Verletzung des rechtlichen Gehörs, weil nicht mitgeteilt worden sei, daß das Berufungsgericht die Verpflichtung zur Asylanerkennung des Klägers zu 1 für die Gewährung von Familienasyl ausreichen lassen wolle. Die Kläger zu 2 bis 6 hätten als Ehefrau und Kinder nach § 26 AsylVfG in der seit dem 1. November 1997 geltenden neuen Fassung keinen Asylanspruch, da ein unanfechtbarer Anerkennungsbescheid zugunsten des stammberechtigten Klägers zu 1 noch nicht vorliege. Dabei sei § 26 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG auch auf Kinder anzuwenden; aus der fehlenden Verweisung in Abs. 2 der Vorschrift auf Abs. 1 Nr. 1 lasse sich kein gegenteiliger Schluß ziehen. Soweit das Berufungsgericht den Bescheid des Bundesamts auch bezüglich der Kläger zu 2 bis 6 hinsichtlich der Nrn. 1, 2 und 4 aufgehoben habe, verstoße die Entscheidung gegen § 108 Abs. 2, § 113 Abs. 1 Satz 1 und § 138 Nr. 6 VwGO. Auch die Aufhebung der Abschiebungsandrohungen verletze Bundesrecht.

Die Kläger treten den Revisionen entgegen und verteidigen das angefochtene Urteil vor allem unter Hinweis darauf, daß der Schutzumfang des Asylrechts weit auszulegen sei.

 

Entscheidungsgründe

II.

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist in erster Linie die mit den Revisionen bekämpfte Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Asyl nach Art. 16a Abs. 1 GG und von Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG für den Kläger zu 1 sowie von Familienasyl nach § 26 AsylVfG für die Kläger zu 2 bis 6. Die Revisionen beziehen sich hingegen nicht auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 AuslG zugunsten aller Kläger durch das Verwaltungsgericht; insoweit sind die erstinstanzlichen Entscheidungen nicht angefochten worden.

Die Revisionen der Beklagten und des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten (Bundesbeauftragter) sind begründet. Das Berufungsurteil verletzt Bundesrecht, soweit es den Klägern Asyl nach Art. 16a GG und § 26 AslVfG sowie dem Kläger zu 1 zusätzlich Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zugesprochen hat. Insoweit ist das Berufungsurteil aufzuheben und die Berufung der Kläger – nunmehr insgesamt – zurückzuweisen (§ 144 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 VwGO). Damit steht zugleich fest, daß die – nur noch unter der auflösenden Bedingung des Erfolgs des auf Asyl und Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG gerichteten Hauptantrags stehende – Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 AuslG rechtskräftig geworden ist (vgl. das Urteil des Senats vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 19.96 – NVwZ 1997, 1132, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt).

In seinem Ausgangspunkt zutreffend geht das Berufungsgericht davon aus, daß ein Anspruch auf Asyl nach Art. 16a GG und auf Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG nur besteht, wenn der Ausländer von politischer, d.h. staatlicher oder quasi-staatlicher Verfolgung bedroht ist (stRspr; vergleiche zuletzt das Urteil des Senats vom 4. November 1997 – BVerwG 9 C 34.96 – DVBl 1998, 280 = InfAuslR 1998, 145, zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung bestimmt). Die rechtlichen Ausführungen und Schlußfolgerungen des Berufungsgerichts, daß die zum Zeitpunkt seiner Entscheidung über etwa drei Viertel der Fläche des handlungsunfähig gewordenen Gesamtstaats Afghanistan herrschenden Taliban in ihrem Herrschaftsgebiet “quasi-staatliche Herrschaftsmacht” ausüben, stehen mit den bundesrechtlichen Anforderungen an die Qualifizierung von Machtgebilden in einem fortdauernden Bürgerkrieg als staatsähnliche, zu politischer Verfolgung im Sinne des Asylrechts fähige Organisationen nicht in vollem Umfang in Einklang.

Eine Herrschaft, die über ein bestimmtes Gebiet ausgeübt wird, ist nur dann als quasi-staatlich anzusehen, wenn sie – ähnlich wie bei Staaten, die eine organisierte Herrschaftsmacht mit einem prinzipiellen Gewaltmonopol auf einem begrenzten Territorium über ihre Bevölkerung effektiv und dauerhaft ausüben – auf einer organisierten, effektiven und stabilisierten territorialen Herrschaftsmacht beruht. Wie der Senat bereits in dem zur Lage in Bosnien ergangenen Urteil vom 6. August 1996 – BVerwG 9 C 172.95 – (BVerwGE 101, 328 = Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 190) dargelegt hat, erfordern die Effektivität und die Stabilität eine gewisse Stetigkeit und Dauerhaftigkeit der Herrschaft, verkörpert vorrangig in der Durchsetzungsfähigkeit und Dauerhaftigkeit des geschaffenen Machtapparates nach innen und nach außen. Dabei sind die Effektivität und die Stabilität regionaler Herrschaftsorganisationen in einem noch andauernden Bürgerkrieg besonders vorsichtig zu bewerten. In weiteren – zum Teil nach der Berufungsentscheidung ergangenen – Revisionsurteilen zur Lage in Somalia (Urteil vom 15. April 1997 – BVerwG 9 C 15.96 – NVwZ 1997, 1131 = DÖV 1997, 783) und in Afghanistan (Urteil vom 4. November 1997 a.a.O.) hat der Senat die Anforderungen an staatsähnliche Organisationen, die – in Erweiterung des Anwendungsbereichs der Asylrechtsgarantie – dem Staat als politischem Verfolger gleichstehen können, ergänzend konkretisiert. Solange jederzeit und überall mit dem Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen gerechnet werden muß, die die Herrschaftsgewalt regionaler Machthaber grundlegend in Frage stellen, kann sich eine dauerhafte territoriale Herrschaftsgewalt nicht etablieren. Darum sind Machtgebilde, die während eines noch andauernden Bürgerkriegs entstanden sind, nur dann quasi-staatlich, wenn sie als Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen erscheinen. Das ist regelmäßig erst dann der Fall, wenn nicht mehr um die Macht im ganzen Brügerkriegsgebiet gekämpft wird und eine dauerhafte nichtmilitärische Lösung zu erwarten ist (vgl. das Urteil vom 4. November 1997 a.a.O. UA S. 12).

Eine solche Lage ergeben die Feststellungen des Berufungsgerichts, wonach der Bürgerkrieg zwischen den um die Macht in dem handlungsunfähig gewordenen Gesamtstaat Afghanistan kämpfenden Kräften fortdauert, nicht. Das Berufungsgericht begründet seine Ansicht, zumindest die Taliban hätten jedenfalls in ihrem bis Ende September 1996 eroberten “Kernterritorium” eine dauerhafte und staatsähnlich organisierte Gebietsgewalt errichtet, hauptsächlich damit, sie hätten dort im Ergebnis “so etwas wie ein Machtmonopol” inne (UA S. 17). Damit wird nur die Durchsetzung der Herrschaft nach innen dargelegt. Das reicht indessen ebensowenig wie die ferner mitgeteilten diplomatischen Kontakte und die völkerrechtliche Anerkennung durch drei Staaten aus, um die Gebietsherrschaft der Taliban auch nach außen als hinreichend stabil und dauerhaft qualifizieren zu können. Insoweit hat das Berufungsgericht nicht – wie nach der zitierten Rechtsprechung des Senats erforderlich – in den Blick genommen, ob sich die Herrschaft der Taliban vor allem in der andauernden Auseinandersetzung mit den anderen Bürgerkriegsparteien voraussichtlich als dauerhaft erweisen wird. In anderem Zusammenhang hat es vielmehr selbst von den fortwährenden militärischen Kämpfen und den empfindlichen Rückschlägen, welche die Taliban dabei erlitten haben, berichtet (vgl. UA S. 15/16). So hat es insbesondere für keine der seit langem verfeindeten, mit wechselnden Allianzen militärisch um die Macht kämpfenden Bürgerkriegsparteien festgestellt, daß sie ein Vorläufer neuer oder erneuerter staatlicher Strukturen ist und den Bürgerkrieg voraussichtlich überdauern wird. Vielmehr ergeben die Feststellungen des Berufungsgerichts zum Verlauf des Bürgerkriegs, daß weder die Taliban – trotz der Besetzung von drei Vierteln des überwiegend dünn besiedelten Landes – noch die anderen Bürgerkriegsparteien eine effektive, stabile Gebietsgewalt etabliert haben. Das wird, wie der Senat in der Revisionsverhandlung mit den Beteiligten erörtert hat, durch die allgemeinkundige Tatsache bestätigt, daß die erstmals unter UN-Vermittlung zustande gekommenen Gespräche zwischen den Bürgerkriegsparteien Anfang Mai 1998 erfolglos – und sogar ohne Vereinbarung auch nur eines befristeten Waffenstillstandes – wieder abgebrochen und die Kämpfe fortgeführt worden sind. Danach ist die Gebietsherrschaft der Taliban – und der anderen Bürgerkriegsparteien – nach wie vor nicht hinreichend stabil und dauerhaft. Daraus folgt, daß wegen des fortdauernden Bürgerkriegs in Afghanistan auch im Zeitpunkt der Berufungsentscheidung eine politische, nämlich staatliche oder staatsähnliche Verfolgung auf absehbare Zeit – und damit auch für den Zeitpunkt einer möglichen Rückkehr des Klägers zu 1 – nicht festgestellt werden konnte. Zu diesem Ergebnis ist inzwischen auch das Berufungsgericht unter ausdrücklicher Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung, die Gegenstand dieses Verfahrens ist, gelangt (OVG Koblenz, Beschluß vom 2. April 1998 – 11 A 10694/97 –; vgl. ebenso auch alle dem Senat bekannten, seither ergangenen weiteren obergerichtlichen Entscheidungen: VGH Mannheim, Urteil vom 16. September 1997 – A 13 S 1011/94 –; OVG Münster, Urteil vom 4. Dezember 1997 – 20 A 7316/95.A –; OVG Greifswald, Urteil vom 10. Dezember 1997 – 2 L 123/96 –; VGH Kassel, Urteil vom 26. Januar 1998 – 13 UE 2978/96 –; VGH Mannheim, Urteil vom 27. Februar 1998 – A 16 S 1881/97 –).

Die Annahme staatsähnlicher Gebietsgewalt der Taliban wird ferner durch die teils detaillierten Feststellungen des Berufungsgerichts dazu ausgeschlossen, daß die Herrschaft der Taliban nach innen, mag sie auch im übrigen einer staatlichen Friedensordnung ähnlich sein und hinsichtlich der Verwaltungsorganisation und -strukturen, der Rechtsordnung und der Gerichtsbarkeit sowie der weitreichenden Sicherheitsmaßnahmen gewichtige Indizien quasi-staatlicher Machtapparate erfüllen (vgl. UA S. 17 ff. und dazu allgemein das Urteil des Senats vom 15. April 1997 a.a.O.), “noch nicht überall unangefochten und ohne Rücksicht auf ‘Regionalfürsten’ nehmen zu müssen” wirksam ist (UA S. 16). Wie der Senat ebenfalls bereits in seinem Urteil vom 4. November 1997 (a.a.O.) ausgeführt hat, ist die Durchsetzung des für eine staatsähnliche Organisation unverzichtbaren territorialen Gewaltmonopols nämlich prinzipiell in Frage gestellt, wenn und solange die Gefahr besteht, daß einzelne Teilgebiete, die von unabhängig agierenden lokalen Machthabern beherrscht werden, wieder abfallen (vgl. a.a.O. UA S. 13/14).

Das Berufungsurteil kann danach keinen Bestand haben, soweit die Beklagte zur Anerkennung des Klägers zu 1 als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG und zur Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG verpflichtet worden ist. Damit fehlt es zugleich an der Grundlage für Asylansprüche der Kläger zu 2 bis 6, ohne daß der Senat zu den mit der Revision der Beklagten vorgebrachten weiteren Einwänden besonders gegen die Zuerkennung von Familienasyl Stellung nehmen muß. Es kommt auch nicht mehr darauf an, ob der Kläger zu 1 – wie das Berufungsgericht unter der Prämisse drohender politischer Verfolgung durch die Taliban bei seiner Rückkehr geprüft hat – wegen der Subsidiarität des deutschen Asylrechts darauf verwiesen werden könnte, in andere – wenn auch ebenfalls vom Bürgerkrieg heimgesuchte – Landesteile des handlungsunfähigen, aber fortbestehenden Gesamtstaats Afghanistan auszuweichen. Der Bundesbeauftragte hat allerdings zutreffend darauf hingewiesen, daß eine Anwendung der Grundsätze über die inländische Fluchtalternative, die bei regionaler Verfolgung durch einen mehrgesichtigen Staat gelten, der Rechtsprechung des Senats (in dem bereits zitierten Urteil vom 6. August 1996 a.a.O.) nicht entspricht.

Da in Afghanistan wegen des andauernden Bürgerkriegs keine staatliche und staatsähnliche Gebietsgewalt besteht, könnten sich die Kläger gegenüber dem Bundesamt nur auf ein Abschiebungsverbot nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG berufen. Nach der Rechtsprechung des Senats setzen nämlich die Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1, 2 und 4 AuslG (Folter, Todesstrafe und unmenschliche oder erniedrigende Behandlung nach Art. 3 EMRK) voraus, daß die jeweils tatbestandsmäßigen Mißhandlungen durch einen Staat oder eine staatsähnliche Organisation drohen (vgl. zuletzt Urteile vom 2. September 1997 – BVerwG 9 C 40.96 – Buchholz 402.240 § 53 AuslG 1990 Nr. 8 und vom 25. November 1997 – BVerwG 9 C 58.96 – DVBl 1998, 284 = InfAuslR 1998, 189, jeweils zur Veröffentlichung in der Entscheidungssammlung vorgesehen). Für die Kläger ist indessen, wie oben ausgeführt, rechtskräftig entschieden, daß sie Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 1 AuslG haben und deshalb, solange ihnen dort die vom Verwaltungsgericht festgetellte Foltergefahr droht und ein Widerruf nach § 73 Abs. 3 AsylVfG ausgeschlossen ist, nicht nach Afghanistan abgeschoben werden dürfen. Die Feststellung weiterer Abschiebungshindernisse können sie daneben nicht erreichen. Eine (zusätzliche) Verpflichtung der Beklagten zur – nachrangigen und einen weniger weitreichenden Schutz vermittelnden – Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG neben § 53 Abs. 1 AuslG scheidet aus; insoweit ist bereits das Rechtsschutzbegehren sachdienlich dahin auszulegen, daß die Feststellung nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG nur weiter hilfsweise für den Fall der Ablehnung auch von Abschiebungshindernissen nach § 53 Abs. 1 bis 4 AuslG beantragt wird (vgl. das Urteil des Senats vom 15. April 1997 – BerwG 9 C 19.96 – a.a.O.). Im übrigen können die Kläger eine – hier allenfalls noch in Betracht zu ziehende – Verpflichtung zur Feststellung eines gleichrangigen Abschiebungshindernisses wegen unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Afghanistan nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht verlangen, weil die Voraussetzungen hierfür nicht vorliegen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1, § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Da die Revisionen erfolgreich sind und die Berufung der Kläger im Ergebnis insgesamt erfolglos geblieben ist, haben die Kläger die Kosten des Berufungs- und des Revisionsverfahrens jeweils ganz zu tragen. Hinsichtlich des Teilerfolgs der Kläger in der ersten Instanz würde der Senat das Unterliegen der Kläger im Streit über die ursprünglich anhängig gewesenen Ansprüche auf Asylanerkennung nach Art. 16a GG und auf Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG im Verhältnis zu den nachrangigen Ansprüchen auf Feststellung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG entsprechend ihrem Interesse am Verbleiben im Bundesgebiet – unabhängig von der pauschalierten Gegenstandswertregelung in § 83b AsylVfG – grundsätzlich mit zwei Dritteln des Gesamtinteresses an einem Obsiegen bewerten. Da insoweit jedoch zwei Verfahren beim Verwaltungsgericht anhängig waren und durchgeführt wurden, hält es der Senat für sachgerecht, es insoweit bei den erstinstanzlichen Kostenentscheidungen zu belassen. Gerichtskosten werden gemäß § 83b Abs. 1 AsylVfG nicht erhoben; der Gegenstandswert ergibt sich aus § 83b Abs. 2 AsylVfG.

 

Unterschriften

Seebass, Dr. Bender, Dawin, Hund, Beck

 

Fundstellen

Haufe-Index 1566419

AuAS 1998, 224

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