Verfahrensgang

VG Leipzig (Aktenzeichen 7 K 253/97)

 

Tenor

Das Urteil des Verwaltungsgerichts Leipzig vom 11. Januar 2000 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt der Schlussentscheidung vorbehalten.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 630 000 DM festgesetzt.

 

Gründe

Der Kläger beansprucht den anteiligen Erlös aus der Veräußerung eines Grundstücks, dessen Eigentum im Jahre 1942 dem Deutschen Reich verfallen war. Im Jahre 1984 wurde das unbebaute Grundstück ebenso wie drei Nachbargrundstücke auf der Grundlage des Aufbaugesetzes in Anspruch genommen und im Grundbuch als Eigentum des Volkes eingetragen. Später wurden die vier Grundstücke in jeweils etwa gleichem Umfang mit einem Büro- und Geschäftsgebäude in geschlossener Bauweise bebaut. Die Beigeladene zu 1 veräußerte die Grundstücke im Jahre 1991 zur Modernisierung des Gebäudes an einen Investor und traf durch Bescheid vom 14. Februar 1992 die Feststellung, dass die Veräußerung zu einem investiven Zweck im Sinne des § 3 a VermG a.F. erfolgt sei. Die Beklagte stellte durch Bescheid vom 13. September 1994 die Berechtigung des Klägers fest (§ 2 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 1 Abs. 6 VermG); zugleich lehnte sie die Erlösauskehr mit der Begründung ab, dass die Rückübertragung des Grundstücks im Zeitpunkt der investiven Veräußerung als von der Natur der Sache her nicht mehr möglich ausgeschlossen gewesen sei (§ 4 Abs. 1 Satz 1 VermG). Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen und die Revision nicht zugelassen.

Die gegen die Nichtzulassung der Revision gerichtete Beschwerde des Klägers hat mit dem Ergebnis Erfolg, dass auf seine Verfahrensrüge das angegriffene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen wird (§ 132 Abs. 2 Nr. 3, § 133 Abs. 6 VwGO).

1. a) Die Revision ist nicht wegen der geltend gemachten grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen. Die Beschwerde möchte geklärt wissen, ob die Rückübertragung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 VermG auch dann ausgeschlossen ist, wenn mehrere Grundstücke überbaut sind und sich kein Stammgrundstück bestimmen lässt, von dem aus über die Grenze gebaut worden ist. Diese Frage lässt sich anhand der Rechtsprechung des Senats zur restitutionsrechtlichen Bedeutung des Überbaus von Grundstücken beantworten, ohne dass es der Durchführung eines Revisionsverfahrens bedarf.

Nach dem Urteil des Senats vom 29. Juli 1999 – BVerwG 7 C 31.98 – Buchholz 428 § 4 Abs. 1 VermG Nr. 2 ist eine Unmöglichkeit der Rückübertragung „von der Natur der Sache her” nicht nur in den Fällen tatsächlicher und rechtlicher Unmöglichkeit, sondern auch dann anzunehmen, wenn eine Rückgabe vernünftigerweise nicht in Betracht kommen kann. Ein Fall dieser Art ist gegeben, wenn die Rückgabe schwerwiegende Nutzungskonflikte hervorrufen würde, die dem restitutionsrechtlichen Grundsatz des sozialverträglichen Ausgleichs der unterschiedlichen Interessen zuwiderlaufen. Diesen Grundsatz hat der Senat für die Fälle grundstücksübergreifender Bebauung dahin konkretisiert, dass bei einem zu DDR-Zeiten vorgenommenen Eigengrenz-Überbau die Nutzungskonflikte, die infolge einer durch die Rückgabe entstehenden Mehrheit von Grundstückseigentümern ausgelöst werden, durch die entsprechende Anwendung der §§ 912 ff. BGB regelmäßig beherrschbar sind und aus diesem Grund die Restitution nicht gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 VermG ausgeschlossen ist. Dieser Rechtssatz beruht auf der Erwägung, dass bei Anwendbarkeit der §§ 912 ff. BGB im Regelfall keine nennenswerten Nutzungskonflikte zu erwarten sind, weil nach diesen Vorschriften eine Zerschneidung baulicher Funktionseinheiten vermieden wird, indem das Gesetz das Eigentum an dem Überbau dem Eigentümer des Stammgrundstücks zuordnet (vgl. BGHZ 64, 333; 102, 311; 110, 298).

Daraus ist ohne weiteres im Umkehrschluss zu folgern, dass die Restitution „von der Natur der Sache her” ausgeschlossen ist, wenn die Rückgabe des Grundstücks zu einer Eigentumslage führen würde, bei der sich die wirtschaftliche Einheit eines grundstücksübergreifend errichteten Gebäudes sachenrechtlich nicht durch eine Anwendung der Überbau-Vorschriften aufrechterhalten lässt. Das ist der Fall, wenn sich kein die vorhandene Gebäudeeinheit insgesamt tragendes (Stamm-)Grundstück bestimmen lässt; denn unter dieser Voraussetzung löst die eigentumsrechtliche Vertikalteilung des Gebäudes entlang der Grundstücksgrenze (vgl. BGH NJW 1985, 789) typischerweise einen Bedarf an Regelungen aus, die nicht durch das Gesetz vorgegeben und darum hinsichtlich ihrer Erfolgsaussichten regelmäßig ungewiss sind. Der Ungewissheit einer vertraglichen, dinglich gesicherten Bewältigung der Konflikte bei der Nutzung eigentumsrechtlich gespaltener Gebäudeteile trägt das Gesetz dadurch Rechnung, dass es eine Rückübertragung in Fällen dieser Art ausschließt, um die nach dem Maßstab praktischer Vernunft absehbaren, einer zügigen Wiederherstellung des Grundstücksverkehrs entgegenstehenden Auseinandersetzungen von vornherein zu vermeiden.

Dem Beschwerdevorbringen sind keine Gesichtspunkte zu entnehmen, die zu einer weiteren rechtsgrundsätzlichen Klärung der aufgeworfenen Frage beitragen könnten. Die Beschwerde übersieht insbesondere, dass sich der Restitutionsausschlussgrund der Unmöglichkeit „von der Natur der Sache her” nicht mit dem bürgerlich-rechtlichen Begriff der objektiven Unmöglichkeit deckt, sondern mit Blick auf die allgemeinen restitutionsrechtlichen Grundsätze in einem weiteren Sinne auszulegen ist. Sie verkennt darüber hinaus, dass die eigentumsrechtlichen Probleme des Eigengrenz-Überbaus auf volkseigenem Grund erst durch die Rückübertragung hervorgerufen werden und die schuldrechtlichen Grundsätze auf daraus resultierende Konflikte im nachbarlichen Gemeinschaftsverhältnis grundsätzlich unanwendbar sind (vgl. BGHZ 42, 374).

b) Die Revision ist auch nicht wegen der behaupteten Abweichung zuzulassen (§ 132 Abs. 2 Nr. 2 VwGO). Das Verwaltungsgericht ist von den in dem Urteil des Senats vom 29. Juli 1999 – BVerwG 7 C 31.98 – (a.a.O.) entwickelten Rechtsgrundsätzen ausgegangen. Einen den vermeintlichen Divergenzentscheidungen (Urteile vom 30. November 1995 – BVerwG 7 C 55.94 – und vom 1. Dezember 1995 – BVerwG 7 C 27.94 – BVerwGE 100, 70 und 77) widersprechenden Rechtssatz hat es nicht aufgestellt; das folgt schon daraus, dass es seine Entscheidung auf § 4 Abs. 1 Satz 1 VermG gestützt hat, während die von der Beschwerde angeführten Rechtssätze die Tatbestände des § 5 Abs. 1 VermG betreffen, die den Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1 Satz 1 VermG nicht abschließend ausschöpfen (vgl. BVerwGE 100, 77 ≪80≫).

2. Das angegriffene Urteil beruht jedoch auf dem von der Beschwerde gerügten Verfahrensmangel der Versagung des rechtlichen Gehörs (§ 132 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 108 Abs. 2 VwGO).

Das Verwaltungsgericht hat das rechtliche Gehör dadurch verletzt, dass es den in der mündlichen Verhandlung gestellten Antrag des Bevollmächtigten des Klägers auf Schriftsatznachlass abgelehnt und ihm damit die Möglichkeit verwehrt hat, vor der Verkündung eines Urteils zu den in dem Urteil des Senats vom 29. Juli 1999 – BVerwG 7 C 31.98 – (a.a.O.) entwickelten Grundsätzen und zu ihrer Anwendung auf den in Rede stehenden Fall schriftsätzlich Stellung zu nehmen, um mit entsprechendem Vorbringen die Entscheidungsfindung des Gerichts zu beeinflussen oder sogar eine Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (§ 104 Abs. 3 Satz 2 VwGO) zu erreichen. Das Gericht hat bei seiner Entscheidung, ob bei Vorliegen erheblicher Gründe eine Schriftsatzfrist einzuräumen ist, nach pflichtgemäßem Ermessen sowohl das Gebot der Beschleunigung des Verfahrens als auch den Anspruch der Beteiligten auf Gewährung rechtlichen Gehörs zu berücksichtigen (vgl. Beschluss vom 23. Januar 1995 – BVerwG 9 B 1.95 – Buchholz 303 § 227 ZPO Nr. 21). Weist es erstmals in der mündlichen Verhandlung auf neue, aus seiner Sicht entscheidungserhebliche Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art hin, mit denen ein Beteiligter nach dem bisherigen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte und deren sofortige Beurteilung nicht ohne weiteres möglich ist, so kann es von ihm hierzu regelmäßig keine sofortige und umfassende Stellungnahme verlangen. Es hat daher zu prüfen, ob dem Beteiligten die Gelegenheit zu geben ist, sich zu einer in diesem Sinne überraschenden Rechtsauffassung zu äußern (Urteil vom 22. Oktober 1981 – BVerwG 3 C 38.81 – Buchholz 310 § 108 VwGO Nr. 124).

Gemessen hieran, durfte das Verwaltungsgericht den Antrag des Bevollmächtigten des Klägers nicht ablehnen. Die in dem Urteil des Senats vom 29. Juli 1999 – BVerwG 7 C 31.98 – (a.a.O.) entwickelten Grundsätze zur restitutionsrechtlichen Bedeutung eines zu DDR-Zeiten vorgenommenen Eigengrenz-Überbaus waren in dem bisherigen Verfahren auch nicht andeutungsweise erörtert worden. Die Kenntnis der Beteiligten hiervon durfte angesichts dessen, dass das Urteil erst wenige Tage vor der mündlichen Verhandlung veröffentlicht worden war, auch nicht vorausgesetzt werden. Da das Verwaltungsgericht offenbar selbst erst so spät von dem genannten Urteil Kenntnis erlangt hatte, dass es den entsprechenden Hinweis nicht – wie grundsätzlich geboten – bereits geraume Zeit vor dem Verhandlungstermin erteilen konnte, durfte es dem Prozessbevollmächtigten des Klägers auch angesichts des Beschleunigungsgebots nicht zumuten, in demselben Verhandlungstermin abschließend Stellung zu nehmen (vgl. BGH NJW 1999, 2123 ≪2125≫).

Der Senat muss auch davon ausgehen, dass die angegriffene Entscheidung auf der Versagung des rechtlichen Gehörs beruht (vgl. § 138 Nr. 3 VwGO). Das Vorbringen, an dem der Kläger durch die Nichtgewährung der Schriftsatzfrist gehindert worden ist, wäre nicht von vornherein ungeeignet gewesen, zu der Entscheidung des Verwaltungsgerichts beizutragen. Zwar tritt die Beschwerde der Annahme des Verwaltungsgerichts, dass ein Stammgrundstück nicht bestimmbar sei, ausdrücklich nicht entgegen, wiewohl sich das Verwaltungsgericht hierbei auf die rechtlichen Gesichtspunkte der Lage und des Umfangs des Gebäudes beschränkt und insbesondere die Frage seiner räumlichen Erschließung durch einen Zugang nicht berücksichtigt hat (vgl. BGHZ 110, 298 ≪302≫). Dessen ungeachtet kann nach den bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts nicht von vornherein ausgeschlossen werden, dass selbst ohne ein bestimmbares Stammgrundstück sachenrechtlich eine an den Grundstücksgrenzen orientierte Aufteilung des einheitlichen Baukörpers in selbständig nutzbare Gebäudeteile oder Raumeinheiten möglich war, mithin dem Grundgedanken der Überbauvorschriften, vorhandene Gebäudeeinheiten und wirtschaftliche Werte zu erhalten, statt durch die Bestimmung eines Stammgrundstückes auf diese Weise Rechnung getragen werden konnte (vgl. BGHZ 102, 311). Dafür könnte sprechen, dass nach dem Beschwerdevorbringen das Gebäude im Erdgeschoss mehrere abgeschlossene Ladeneinheiten mit eigenem Zugang zur Straße aufweist, die vertikale Gliederung „in etwa” den Grundstücksgrenzen folgt und die Büroräume in den Obergeschossen über mehrere Zugänge und Treppenhäuser verfügen. Ob es sich im maßgeblichen Zeitpunkt der Veräußerung tatsächlich so verhielt, wird das Verwaltungsgericht auf geeignete Weise, beispielsweise anhand von Bauunterlagen, festzustellen haben.

Der Senat nimmt den dem Verwaltungsgericht unterlaufenen Verfahrensfehler zum Anlass, durch Beschluss gemäß § 133 Abs. 6 VwGO zu entscheiden. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 14 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 i.V.m. § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.

 

Unterschriften

Dr. Bardenhewer, Herbert, Neumann

 

Fundstellen

Dokument-Index HI566682

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