Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 04.10.2012; Aktenzeichen L 1 SO 76/12 B)

SG Koblenz (Beschluss vom 10.08.2012; Aktenzeichen S 12 SO 104/12 ER)

 

Tenor

Der Rhein-Lahn-Kreis wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, bis zum 28. Februar 2013, längstens bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde, die Kosten für die Betreuung des Beschwerdeführers durch die Soziale Dienstleistungsgesellschaft Mittelrhein gGmbH in Höhe von 3.962,32 EUR monatlich vorläufig als Darlehen zu übernehmen.

Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zu erstatten.

Der Wert des Gegenstandes der anwaltlichen Tätigkeit wird für das Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf 5.000 EUR (in Worten: fünftausend Euro) festgesetzt.

 

Gründe

1. Der zulässige Antrag des Beschwerdeführers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist begründet.

Nach § 32 Abs. 1 BVerfGG kann das Bundesverfassungsgericht im Streitfall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläufig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einem anderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl dringend geboten ist.

a) Bei der Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 32 Abs. 1 BVerfGG gegeben sind, ist wegen der weittragenden Folgen einer verfassungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung regelmäßig ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. jüngst BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 4. Mai 2012 – 1 BvR 367/12 –, NJW 2012, S. 1941 ≪1942 f. [Tz. 27]≫ m.w.N.). Dabei müssen die Gründe, welche für die Verfassungswidrigkeit der angegriffenen Maßnahme sprechen, außer Betracht bleiben, es sei denn, die in der Hauptsache begehrte Feststellung erwiese sich als von vornherein unzulässig oder offensichtlich unbegründet. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich die Nachteile abzuwägen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerde aber in der Hauptsache Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerde aber der Erfolg zu versagen wäre.

b) Die Verfassungsbeschwerde ist nicht von vornherein unzulässig. Sie ist auch nicht offensichtlich unbegründet; es kommt vielmehr ernsthaft in Betracht, dass jedenfalls das Landessozialgericht mit dem von ihm angelegten Prüfungsmaßstab und ohne weitere Aufklärung der dem Beschwerdeführer bei einer Unterbringung in der stationären Einrichtung möglicherweise drohenden physisch existentiellen Gefährdungen die sich aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG ergebenden Anforderungen an die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes in sozialrechtlichen Angelegenheiten der vorliegenden Art nicht hinreichend beachtet hat.

c) Die somit gebotene Folgenabwägung führt zum Erlass der einstweiligen Anordnung.

Ergeht die einstweilige Anordnung nicht, so ist der Beschwerdeführer nach seinen glaubhaften Ausführungen aufgrund seiner wirtschaftlichen Situation faktisch gezwungen, seine Unterkunft in der Wohngemeinschaft und den bereits langjährigen Besuch der Tagesförderstätte aufzugeben und, wie vom Antragsgegner des Ausgangsverfahrens nahegelegt, das vollstationäre Angebot der S. in Anspruch zu nehmen. Nach dem Vorbringen des Beschwerdeführers ist nicht auszuschließen, dass der Umzug und die Eingewöhnungsphase für ihn mit so erheblichen Belastungen verbunden sein werden, dass sie womöglich zu physisch existentiellen Gefährdungen führen könnten.

Hätte die Verfassungsbeschwerde Erfolg und würde eine erneute sozialgerichtliche Entscheidung dem Beschwerdeführer vorläufigen Rechtsschutz gewähren, so dürfte der Beschwerdeführer zwar zurückziehen und wieder seine bisherige Tagesförderstätte besuchen. Allerdings wäre auch eine solche erneute Umstellung wiederum möglicherweise mit den genannten erheblichen Belastungen verbunden.

Ergeht die einstweilige Anordnung, hat die Verfassungsbeschwerde aber keinen Erfolg, so wäre dem Beschwerdeführer vorübergehend eine nicht ganz unerhebliche Leistung bewilligt worden, die möglicherweise nicht mit Erfolg zurückgefordert werden kann.

Die gebotene Folgenabwägung führt bei dieser Sach- und Interessenlage, die zu einer physisch existentiellen Gefährdung führen könnte, zu dem Erlass der aus dem Tenor ersichtlichen, auf einen kurzen Zeitraum begrenzten einstweiligen Anordnung, binnen dessen die Kammer eine Entscheidung über die Annahme der Verfassungsbeschwerde anstrebt.

2. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 3 BVerfGG.

Die Entscheidung über die Festsetzung des Gegenstandswerts beruht auf § 37 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 14 Abs. 1 RVG.

 

Unterschriften

Kirchhof, Eichberger, Masing

 

Fundstellen

Haufe-Index 3511605

NZS 2013, 100

SRA 2013, 81

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