Verfahrensgang

BAG (Beschluss vom 12.02.1993; Aktenzeichen 2 AZN 242/92)

LAG München (Urteil vom 29.04.1992; Aktenzeichen 8 Sa 183/91)

 

Tenor

Der Beschluß des Bundesarbeitsgerichts vom 12. Februar 1993 – 2 AZN 242/92 – verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Artikel 101 Absatz 1 Satz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Bundesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.

Die Bundesrepublik Deutschland hat der Beschwerdeführerin die Hälfte der ihr entstandenen Kosten zu erstatten.

 

Gründe

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen das Berufungsurteil eines Landesarbeitsgerichts sowie gegen die Verwerfung der Nichtzulassungsbeschwerde durch das Bundesarbeitsgericht in einem Kündigungsschutzprozeß.

I.

  • Die Parteien stritten im Ausgangsverfahren darüber, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis besteht und eine Kündigung wirksam ist. Die Beschwerdeführerin war für den Beklagten des Ausgangsverfahrens, eine Rundfunkanstalt, von Juli 1982 bis Mitte 1983 und von Mitte 1985 bis Februar 1989 in der Abteilung “Sendung” als Sprecherin und Übersetzerin italienischer Nachrichtentexte für die Nachrichtensendung eines Hörfunkprogrammes tätig. Neben dieser Tätigkeit war sie in einer anderen Abteilung des Beklagten seit 1976 beschäftigt. Ihre Mitarbeit dort endete aufgrund einer Aufhebungsvereinbarung mit dem Ablauf des Jahres 1988, nachdem es wegen Klagen der Beschwerdeführerin über angebliche sexuelle Belästigungen durch die Redakteure zu Spannungen im Verhältnis der Parteien des Ausgangsverfahrens gekommen war. Als Sprecherin und Übersetzerin wurde sie bis einschließlich Februar 1989 eingesetzt, danach bis zur Kündigung vom 19. März 1990 nicht mehr.

    Mit ihrer Klage begehrte die Beschwerdeführerin die Feststellung, daß das Arbeitsverhältnis in der Abteilung “Sendung” zwischen ihr und dem Beklagten durch die Kündigung nicht aufgelöst worden ist. Das Arbeitsgericht wies die Klage ab, die hiergegen gerichtete Berufung wurde vom Landesarbeitsgericht zurückgewiesen. Die Beschwerdeführerin habe nicht hinreichend dargetan, daß sie nach dem Gesamtgepräge ihrer Tätigkeit als Sprecherin und Übersetzerin Arbeitnehmerin gewesen sei. Dagegen spreche ihre fehlende Verpflichtung, außerhalb der fest vereinbarten Zeiten innerhalb eines zeitlich festgelegten Rahmens für den Beklagten tätig zu werden. Das Kündigungsschutzgesetz finde daher keine Anwendung. Die Kündigung sei auch nicht aus anderen von der Beschwerdeführerin angeführten Gründen unwirksam. Insbesondere habe der Beklagte ihr nicht wegen ihrer Beschwerden über das Verhalten der Redakteure gekündigt.

    In ihrer Nichtzulassungsbeschwerde formulierte die Beschwerdeführerin verschiedene im Urteil des Landesarbeitsgerichts enthaltene abstrakte Rechtssätze und vertrat die Auffassung, sie wichen von Rechtssätzen ab, die in divergenzfähigen Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts aufgestellt worden seien. Sie formulierte diese Rechtssätze und stellte ihnen die Rechtssätze des Landesarbeitsgerichts gegenüber. Nach ihrer Darstellung beruht das Berufungsurteil auf diesen Abweichungen. Durch den angegriffenen Beschluß verwarf das Bundesarbeitsgericht ohne Mitwirkung der ehrenamtlichen Richter die Nichtzulassungsbeschwerde als unzulässig, weil sie nicht in der gesetzlich vorgeschriebenen Form begründet worden sei. Es genüge nicht, die voneinander abweichenden Rechtssätze zu behaupten; sie müßten sich vielmehr aus der anzufechtenden wie der angezogenen Entscheidung unmittelbar ergeben und so deutlich ablesbar sein, daß nicht zweifelhaft bleibe, welchen Rechtssatz die Entscheidungen aufgestellt hätten. Dagegen reiche der Hinweis auf fehlerhafte oder unterlassene Anwendung eines in der angezogenen Entscheidung enthaltenen Rechtssatzes zur Begründung einer Divergenz nicht aus.

    Einen Teil der Rechtssätze, auf denen die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts beruhen solle, habe die Beschwerdeführerin selbst gebildet. Sie seien weder vom Landesarbeitsgericht ausdrücklich aufgestellt worden noch ergäben sie sich in der vorgetragenen Fassung zwingend aus der Begründung des Berufungsurteils. Das Landesarbeitsgericht habe nur eine fallbezogene Anwendung des Merkmals der persönlichen Abhängigkeit vorgenommen. Die Beschwerdeführerin rüge also lediglich eine falsche Rechtsanwendung. Weitere von der Beschwerdeführerin behaupteten Rechtssätze ließen sich aus der Begründung des anzufechtenden Urteils auch nicht ansatzweise entnehmen.

  • Mit ihrer rechtzeitig eingegangenen Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin unter anderem, die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zu den Anforderungen an die formgerechte Begründung einer Divergenzbeschwerde über den Wortlaut des § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG hinaus verletze Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Da das Gericht tatsächlich über die Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde entschieden habe, seien der Beschwerdeführerin die ehrenamtlichen Richter entzogen worden. Die Beschwerdeführerin beanstandet weiter einen Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip, Art. 3 Abs. 1 , Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG sowie Art. 103 Abs. 1 GG durch die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts.
  • Zu der Verfassungsbeschwerde haben der Präsident des Bundesarbeitsgerichts sowie die Bayerische Staatsregierung Stellung genommen. In der Stellungnahme des Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts heißt es unter anderem:

    Es besteht völlige Übereinstimmung dahin, daß es zu einer formgerechten Begründung im Sinne von § 72a Abs. 3 ArbGG nicht genügt, Datum und Aktenzeichen der angegriffenen Entscheidung zu nennen, vielmehr darüber hinaus auch die Divergenz bezeichnet werden muß, die gerügt werden soll.

    Aus Anlaß Ihrer Ergänzungsfrage zur eindeutigen Abgrenzung der Zulässigkeitsvoraussetzungen im Hinblick auf die Bestimmung des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) habe ich eine Dienstbesprechung der Vorsitzenden aller Senate einberufen, die folgendes Ergebnis erzielt hat: Die formgerechte Begründung einer Nichtzulassungsbeschwerde, die auf eine Divergenz im Sinne von § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG gestützt wird, muß mindestens dreierlei enthalten: Die Formulierung eines abstrakten Rechtssatzes, der in der angezogenen Entscheidung enthalten sein soll, die Formulierung eines abstrakten Rechtssatzes, der sich aus der angegriffenen Entscheidung ergeben und abweichen soll sowie die Behauptung, daß die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht. Genügt eine Beschwerdebegründung nicht einmal diesen Minimalanforderungen, so kann sie durch die drei Berufsrichter des Senats verworfen werden.

    Hingegen geht es um die Begründetheit einer Nichtzulassungsbeschwerde mit der Folge, daß die ehrenamtlichen Richter zu beteiligen sind, soweit die Existenz der behaupteten Rechtssätze, deren Divergenz sowie die Frage des Beruhens rechtlich gewürdigt werden. Ob sich also der angegriffenen und der angezogenen Entscheidung tatsächlich die behaupteten Rechtssätze entnehmen lassen, ob diese Rechtssätze voneinander abweichen und ob die angegriffene Entscheidung auf dieser Abweichung beruht, muß der volle Senat beurteilen.

    Bei dieser Unterscheidung nach rein formalen Kriterien erscheint die Möglichkeit einer Manipulation der Richterbank ausgeschlossen. Der Zweite Senat, der besonders stark mit Nichtzulassungsbeschwerden belastet ist und bisher über die genannten Minimalvoraussetzungen hinaus eine schlüssige Divergenzbegründung forderte …, hat nach einer Beratung seiner richterlichen Mitglieder erklärt, der Mehrheitsmeinung künftig folgen zu wollen.

    Die Bayerische Staatsregierung hält die Verfassungsbeschwerde teilweise für unzulässig, im übrigen für unbegründet.

II.

Soweit die Verfassungsbeschwerde sich gegen die Anwendung des § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG durch das Bundesarbeitsgericht richtet, ist ihre Annahme zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen verfassungsrechtlichen Fragen sind durch das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt (vgl. BVerfGE 48, 246 ≪262 f.≫; 91, 93 ≪117 f.≫). Sie ist in diesem Umfang offensichtlich begründet (§ 93c Abs. 1 BVerfGG).

Im übrigen liegen die Voraussetzungen für eine Annahme der Verfassungsbeschwerde nicht vor (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG).

  • Der angegriffene Beschluß des Bundesarbeitsgerichts verstößt gegen den Grundsatz des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG). Das Bundesarbeitsgericht überdehnt die in § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG an die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde gestellten Anforderungen, indem es die Begründungspflicht auf Bereiche erstreckt, die eigentlich zur Sachprüfung gehören. Dadurch schließt es die ehrenamtlichen Richter von einer Entscheidung über die Begründetheit der Nichtzulassungsbeschwerde aus, obwohl das Gesetz ihre Mitwirkung daran vorsieht (vgl. BVerfGE 91, 93 ≪117≫).

    a) Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt einen subjektiven Anspruch auf den gesetzlichen Richter. Die Gewährleistung gilt auch für ehrenamtliche Richter (vgl. BVerfGE 31, 181 ≪183≫; 48, 246 ≪254 ff.≫). Durch diese grundrechtsähnliche Garantie wird das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht zu einem Kontrollorgan, das jeden insoweit einschlägigen Verfahrensfehler korrigieren müßte (BVerfGE 82, 159 ≪194≫). Die Auslegung und Anwendung des Arbeitsgerichtsgesetzes bleibt Sache der Arbeitsgerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen, solange keine Fehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung und Tragweite eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen (BVerfGE 18, 85 ≪92 f.≫). Das Bundesverfassungsgericht beanstandet deshalb die Auslegung und Anwendung von verfahrensrechtlichen Bestimmungen, die Einfluß auf den gesetzlichen Richter haben, nur dann, wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich erscheinen und offensichtlich unhaltbar sind (BVerfGE 82, 159 ≪194≫).

    Aus verfassungsrechtlicher Sicht ist es daher nicht zu beanstanden, daß das Bundesarbeitsgericht über den Wortlaut von § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG hinaus weitere Anforderungen an die Darlegung einer Divergenz im Sinne von § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG stellt und davon die Zulässigkeit der Beschwerde abhängig macht. Die Anforderungen dürfen aber nicht so weit gehen, daß mit der Zulässigkeit zugleich über die Begründetheit des Rechtsmittels entschieden ist. Denn bei einer solchen Auslegung der Norm werden die ehrenamtlichen Richter generell von Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden ferngehalten, obwohl ihre Mitwirkung nach dem eindeutigen Wortlaut des § 72a Abs. 5 Satz 2 ArbGG vorgesehen ist. Ein solches Ergebnis ist mit dem Grundgedanken des gesetzlichen Richters offensichtlich unvereinbar.

    Ebenso unvereinbar mit der Gewährleistung des gesetzlichen Richters ist eine Auslegung des § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG, die keinen Unterschied zwischen den Voraussetzungen der Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde und ihrer Begründetheit erkennen läßt. Der Grundgedanke des Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG erfordert es, daß der gesetzliche Richter sich möglichst eindeutig aus einer allgemeinen Norm ergibt (BVerfGE 6, 45 ≪50 f.≫; stRspr). Diesen Anforderungen genügt § 72a Abs. 5 Satz 3 ArbGG nur in dem Maße, in dem die Zulässigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde unabhängig von einer Prüfung ihrer sachlichen Begründetheit erkennbar ist. Deswegen muß die Abgrenzung zwischen Zulässigkeitsvoraussetzungen und Begründetheitsfragen nach eindeutigen und sachgerechten Kriterien erfolgen (BVerfGE 91, 93 ≪117≫).

    b) Daran gemessen verletzt der angegriffene Beschluß des Bundesarbeitsgerichts das Recht der Beschwerdeführerin auf ihren gesetzlichen Richter. Das Gericht geht zunächst in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise davon aus, daß die Darlegung divergierender Rechtssätze zu den Zulässigkeitsvoraussetzung der Beschwerde nach § 72a ArbGG gehört. Es macht dann jedoch ihre Zulässigkeit darüber hinaus davon abhängig, daß die voneinander abweichenden Rechtssätze sich sowohl aus der anzufechtenden als auch aus der angezogenen Entscheidung unmittelbar ergeben und zudem so deutlich ablesbar sind, daß nicht zweifelhaft bleibt, welche Rechtssätze sie aufgestellt haben. Ob dies der Fall ist, prüft es anhand einer eigenen Würdigung des anzufechtenden Urteils.

    Damit verwischt das Bundesarbeitsgericht die Grenze zwischen Darlegungserfordernissen und sachlichen Voraussetzungen für die Begründetheit einer Nichtzulassungsbeschwerde zur Unkenntlichkeit. Wäre es zu dem Ergebnis gelangt, daß die anzufechtende Entscheidung tatsächlich auf einem der von der Beschwerdeführerin dargelegten divergierenden Rechtssätze beruhte, so hätte die Nichtzulassungsbeschwerde auch in der Sache Erfolg haben müssen. Diese Frage gehörte somit zur Sachprüfung, bei der nach § 72a Abs. 5 Satz 2 ArbGG die ehrenamtlichen Richter mitzuwirken haben. Auch der Präsident des Bundesarbeitsgerichts hält in seiner Stellungnahme insoweit den Senat in voller Besetzung für zuständig. Die von ihm dargelegten Abgrenzungsmerkmale zwischen den Darlegungsanforderungen des § 72a Abs. 3 Satz 2 ArbGG und dem materiellen Prüfungsrahmen des § 72 Abs. 2 Nr. 2 ArbGG tragen zwar dem Grundsatz des gesetzlichen Richters hinreichend Rechnung. Der angegriffene Beschluß hält sich daran aber nicht.

    Läßt mithin der angegriffene Beschluß einen Unterschied zwischen der gesetzlich vorgeschriebenen Form der Nichtzulassungsbeschwerde und ihren materiellen Begründetheitsvoraussetzungen nicht mehr erkennen, so fehlt es an einem greifbaren Kriterium für die Hinzuziehung der ehrenamtlichen Richter bei Entscheidungen über Nichtzulassungsbeschwerden. Ob dies geschieht, steht damit praktisch im freien Belieben der Berufsrichter des für die Entscheidung zuständigen Senats. Darin liegt eine grundlegende Verkennung des Prinzips des gesetzlichen Richters.

  • Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen, da die Voraussetzungen für eine Annahme (§ 93a Abs. 2 Buchstabe a und b BVerfGG) nicht vorliegen. Von einer Begründung wird insoweit gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Söllner, Kühling, Jaeger

 

Fundstellen

Haufe-Index 1084333

NZA 1996, 616

ZIP 1995, 2010

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