Verfahrensgang

KG Berlin (Beschluss vom 21.03.2005; Aktenzeichen 2 Ss 227/03 - 5 Ws (B) 586/03)

AG Berlin-Tiergarten (Urteil vom 22.07.2003; Aktenzeichen 333 OWi 260/03)

 

Tenor

Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.

 

Tatbestand

I.

1. Der Beschwerdeführer wendet sich gegen eine Verurteilung wegen unbefugter Hilfeleistung in Steuersachen durch das Amtsgericht Tiergarten in insgesamt 18 Fällen. Im Einzelnen wurden fünf Geldbußen zu je 200 Euro und 13 Geldbußen zu je 100 Euro gegen ihn festgesetzt. Beweisanträge des Beschwerdeführers auf Einvernahme der Zeugen Krzanaric und Ralovic lehnte das Amtsgericht mangels Erforderlichkeit ab. Seine hiergegen gerichtete Rechtsbeschwerde wurde vom Kammergericht unter der Maßgabe der Rückführung von drei Geldbußen von 100 Euro auf je 25 Euro verworfen. Sein Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde blieb ohne Erfolg.

Das Kammergericht stellte zwar fest, dass das Amtsgericht die Beweisanträge rechtsfehlerhaft zurückgewiesen habe. Da es sich jedoch nur um Rechtsfehler im Einzelfall handele, ließ es die Rechtsbeschwerde nicht zu. Auch in Bezug auf die fehlerhafte Tenorierung des Amtsgerichts – 18 anstelle von 17 Bußgeldern – lehnte das Kammergericht eine Zulassung der Rechtsbeschwerde ab. Das Amtsgericht habe seinen Fehler bemerkt und durch seine Ausführungen in den Urteilsgründen deutlich gemacht, dass es sich auch hier lediglich um einen Fehler im Einzelfall handele.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer im Wesentlichen eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 103 Abs. 1 und Art. 103 Abs. 3 GG. Darüber hinaus sieht er sich auch in Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 1 GG verletzt.

a) Durch die Nichtzulassung der beantragten Beweise habe das Amtsgericht seiner Entscheidung einen falschen Sachverhalt zu Grunde gelegt und den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) verletzt. Gleiches gelte für die Entscheidung des Kammergerichts, das zwar die Fehlerhaftigkeit der Ablehnung der Beweisanträge erkannt, die Rechtsbeschwerde jedoch gleichwohl nicht zugelassen habe.

b) Durch die Aufnahme des Vorwurfs zu laufender Nr. 27 des Bußgeldbescheides in den Urteilstenor habe das Amtsgericht ferner auch gegen Art. 103 Abs. 3 GG (ne bis in idem) verstoßen. Es habe unberücksichtigt gelassen, dass er seinen Einspruch gegen den Bußgeldbescheid hinsichtlich dieses Vorwurfs bereits zurückgenommen und damit eine rechtskräftige Entscheidung vorgelegen habe. Eine nochmalige Verurteilung sei unzulässig gewesen. Das Kammergericht habe den Verstoß zwar erkannt, die Rechtsbeschwerde jedoch gleichwohl nicht zugelassen und damit auch insoweit eine fehlerhafte Entscheidung aufrechterhalten. Die hierfür ins Feld geführte Begründung, das Amtsgericht habe seinen Fehler bemerkt und diesen in den Urteilsgründen deutlich gemacht, könne den Grundrechtsverstoß nicht heilen. Schließlich erwachse nur der Tenor in materieller Rechtskraft. Allein dieser sei auch Grundlage für die Vollstreckung.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zur Entscheidung anzunehmen. Die Annahmevoraussetzungen (vgl. § 93a Abs. 2 BVerfGG) sind nicht erfüllt. Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig; ihr steht der Grundsatz der Subsidiarität (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) entgegen.

1. Dieser erfordert, dass der Beschwerdeführer über das Gebot der Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne hinaus alle nach Lage der Sache zur Verfügung stehenden prozessualen Möglichkeiten ergreift, um eine Korrektur der geltend gemachten Verfassungsverletzung zu erwirken (vgl. BVerfGE 73, 322 ≪325≫). Zur Erschöpfung des Rechtswegs gehört daher auch die Ausnutzung der Möglichkeiten, die § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG in Verbindung mit § 356a StPO bietet. Diese Rechtslage ist durch das Anhörungsrügengesetz vom 9. Dezember 2004 (BGBl I S. 3220 ≪3221≫) nochmals bekräftigt worden. Die Bestimmungen sind so auszulegen und anzuwenden, dass sie jeden Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Beschlussverfahren erfassen (vgl. BVerfGE 42, 243 ≪247, 250≫; 42, 252 ≪255≫ zur vergleichbaren Regelung des § 33a StPO). Ein solcher Verstoß ist auch dann gegeben, wenn das zuständige Beschwerdegericht es entgegen § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG unterlässt, die Rechtsbeschwerde auf Antrag zuzulassen, um ein Urteil des Amtsgerichts wegen Versagung rechtlichen Gehörs ganz oder teilweise aufzuheben. Andernfalls würde sich das Beschwerdegericht den Gehörsverstoß des Amtsgerichts zu Eigen machen und den Verfassungsverstoß (Art. 103 Abs. 1 GG), den zu beseitigen es bereits auf Grund des eindeutigen Wortlauts des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG gehalten ist, im Beschlussverfahren perpetuieren. Die Einschränkung in § 80 Abs. 1 OWiG „sofern dies geboten ist” gilt nur im Fall des § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG, nicht aber im Rahmen des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG (vgl. Steindorf, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 2000, § 80 Rn. 43 m.w.N.).

§ 356a StPO bietet darüber hinaus zugleich auch Gelegenheit, andere mutmaßliche verfassungsrechtliche Mängel zu beseitigen, die mit dem geltend gemachten Gehörsverstoß nicht notwendig in Zusammenhang stehen müssen (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 8. März 1994 – 2 BvR 477/94 –, NStZ 1994, S. 498 zur vergleichbaren Regelung des § 33a StPO).

2. Der Beschwerdeführer durfte sich deshalb nicht darauf beschränken, nach Erlass des angegriffenen Beschlusses des Kammergerichts sogleich das Bundesverfassungsgericht anzurufen. Er hätte vielmehr zunächst einen Antrag gemäß § 356a StPO stellen müssen, um sowohl eine Beseitigung des geltend gemachten Verstoßes gegen den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) als auch der weiter geltend gemachten verfassungsrechtlichen Mängel, namentlich der Verletzung des Verbots der Doppelbestrafung (Art. 103 Abs. 3 GG), zu erreichen.

Daran fehlt es hier. Der Beschwerdeführer hat weder vorgetragen noch ist sonst ersichtlich, dass er das Verfahren nach § 356a StPO erfolglos durchlaufen, vor allem binnen einer Woche nach Kenntniserlangung von der Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Kammergericht einen entsprechenden Antrag gestellt hat (vgl. § 356a Satz 2 StPO).

3. Auf einen Antrag des Beschwerdeführers nach § 356a StPO wird daher das Kammergericht – sofern die Voraussetzungen dafür vorliegen, unter Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand – das von ihm bereits als rechtsfehlerhaft erkannte Handeln des Amtsgerichts korrigieren und den Anforderungen des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG, Art. 103 Abs. 1 und Abs. 3 GG Rechnung tragen, soweit die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Urteil des Amtsgerichts ordnungsgemäß erhoben war (vgl. hierzu Steindorf, in: Karlsruher Kommentar zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, a.a.O., § 80 Rn. 42), was sich allerdings mangels Vorlage des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde der Beurteilung durch die Kammer entzieht. Dass eine Verletzung rechtlichen Gehörs schon deshalb unbeachtlich wäre, weil sie lediglich einen Einzelfall betrifft, entbehrt jedenfalls jeder Grundlage.

Gleichzeitig erhält das Kammergericht Gelegenheit, einen etwaigen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 3 GG zu korrigieren bzw. sicherzustellen, dass gegen den Beschwerdeführer nur 17 und nicht etwa 18 Geldbußen vollstreckt werden.

Von einer weiter gehenden Begründung wird gemäß § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG abgesehen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Jentsch, Broß, Gerhardt

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1986064

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