Entscheidungsstichwort (Thema)

Subsidiarität der Verfassungbeschwerde: Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand als Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehört auch dann zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG, wenn der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand selbständig neben den ordentlichen Rechtsmitteln der Revision oder der Rechtsbeschwerde (oder dem Antrag auf deren Zulassung) steht.

 

Normenkette

BVerfGG §§ 24, 90 Abs. 2 S. 1; GG Art. 103 Abs. 1, Art. 94 Abs. 2 S. 2; OWiG § 74 Abs. 1, 4, § 80 Abs. 1 Fassung: 1975-01-02; StPO §§ 235, 329, 33a, 412, 45 Abs. 2 S. 3, § 46 Abs. 3 Fassung: 1975-01-07; ZPO §§ 510c, 579 Abs. 3 Fassung: 1950-09-12

 

Verfahrensgang

OLG Düsseldorf (Beschluss vom 23.01.1976; Aktenzeichen 3 Ss (OWi) 40/76)

AG Wuppertal (Urteil vom 08.10.1975; Aktenzeichen 25 OWi 298/75)

 

Gründe

A.

I.

1. Auf den Einspruch des Beschwerdeführers gegen einen Bußgeldbescheid hatte das Amtsgericht Termin anberaumt und das persönliche Erscheinen angeordnet. Unverzüglich nach Erhalt der Ladung bat der Beschwerdeführer um Absetzung des Termins, und, wegen der großen Entfernung zum erkennenden Gericht, um seine kommissarische Vernehmung (§ 73 Abs 3 OWiG). Der entsprechende Schriftsatz ging sechs Tage vor dem Termin beim Amtsgericht ein. Ohne die Bitte des Beschwerdeführers zu bescheiden, verhandelte das Amtsgericht in seiner Abwesenheit (§ 74 Abs. 1 OWiG) und verurteilte ihn.

2. Mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde rügte der Beschwerdeführer einen schweren Verfahrensfehler des Amtsgerichts. Durch den Beschluß vom 23. Januar 1976 verwarf das Oberlandesgericht den Antrag gemäß § 80 Abs. 1 und Abs. 3 OWiG. Der Verfahrensfehler liege vor. Das Ausbleiben des Beschwerdeführers in der Hauptverhandlung sei schon dadurch entschuldigt gewesen, daß der Beschwerdeführer zu seinem Antrag auf Terminsabsetzung keinen Bescheid erhalten habe. Das Amtsgericht habe nicht ohne ihn verhandeln dürfen. Diese Frage sei jedoch in der Rechtsprechung geklärt. Die fehlerhafte Rechtsanwendung im Einzelfall rechtfertige die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht. – Ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Hauptverhandlung (§ 74 Abs. 4 OWiG in Verbindung mit § 235 StPO) ist ausweislich der Akten des Ausgangsverfahrens vom Beschwerdeführer nicht gestellt worden.

II.

Mit der Verfassungsbeschwerde macht der Beschwerdeführer die Verletzung seines Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Das Oberlandesgericht habe festgestellt, daß das Verfahren des Amtsgerichts dem Anspruch auf rechtliches Gehör nicht genügt habe. Gleichwohl gehe es davon aus, daß dieser Verfahrensfehler, der sich zugleich als ein Grundrechtsverstoß darstelle, die Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht begründen könne.

B.

Die Verfassungsbeschwerde ist gemäß § 24 BVerfGG als unzulässig zu verwerfen, weil der Beschwerdeführer den Rechtsweg nicht erschöpft hat (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG).

1. Der Beschwerdeführer hat zwar von dem Rechtsmittel des Antrags auf Zulassung der Rechtsbeschwerde Gebrauch gemacht. Daß ihm hierbei der Erfolg versagt blieb, verstößt nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Das Oberlandesgericht hat berücksichtigt, daß das Amtsgericht ohne den Beschwerdeführer nicht hätte verhandeln und entscheiden dürfen. Es hat sich an einem Eingreifen aber durch § 80 Abs. 1 OWiG gehindert gesehen, wonach die Rechtsbeschwerde nur zugelassen werden kann, wenn es geboten ist, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen. Bedeutung und Tragweite des Art. 103 Abs 1 GG sind nicht verkannt, wenn eine Verletzung dieses Verfahrensgrundrechts im Einzelfall nicht als Zulassungsgrund im Sinne des § 80 Abs. 1 OWiG gewertet wird. Denn Art. 103 Abs. 1 GG verlangt nicht, daß gegen eine gerichtliche Entscheidung ein Rechtsmittel an ein Gericht höherer Instanz gegeben sein muß, wenn dem Beschwerdeführer nach seiner Behauptung im ersten Rechtszug das rechtliche Gehör versagt worden ist (BVerfGE 28, 88 [96]; vgl. ferner Beschluß vom 30. Juni 1976 – 2 BvR 164/76 – mit Nachweisen). Art. 103 Abs. 1 GG schließt deshalb auch nicht aus, ein Rechtsmittel nur in Fällen zuzulassen, deren Bedeutung über den Einzelfall hinausreicht. Für die Durchsetzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör steht in jedem Fall noch der Weg der Verfassungsbeschwerde offen.

Es ist allerdings wenig befriedigend, daß auf diese Weise in bestimmten Rechtsbereichen, insbesondere im Ordnungswidrigkeitenrecht, das Bundesverfassungsgericht häufig unmittelbar gegen Entscheidungen der Amtsgerichte angerufen werden kann und in erheblichem Umfang auch angerufen wird. Gleiches gilt für die Beschwerdeentscheidungen der Landgerichte in diesen Rechtsbereichen, wo sich auswirkt, daß eine obergerichtliche Instanz auch bei Divergenzen zur höchstrichterlichen Rechtsprechung oder zu Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (vgl. als Beispiele: BVerfGE 38, 35 [38 ff.]; 40, 88 [92 ff.]; 40, 182 [184 ff.]; 41, 23 [25 ff.]; 41, 341; – Beschlüsse vom 7. April 1976 – 2 BvR 728/75 – und vom 30. Juni 1976 – 2 BvR 284/76 –) nicht vorhanden ist. Dies führt zur Einschaltung des Bundesverfassungsgerichts in eine Vielzahl von Fällen der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör – diese Fälle machen seit jeher die Mehrzahl der erfolgreichen Verfassungsbeschwerden aus –, die bei anderer Ausgestaltung des Rechtsmittelzuges von den zunächst dazu berufenen Fachgerichten korrigiert werden könnten. Eine um so größere Bedeutung kommt deshalb unter dem Blickpunkt des im Verfassungsrecht verankerten Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (Art. 94 Abs. 2 Satz 2 GG, § 90 Abs. 2 BVerfGG) den unabhängig von den ordentlichen Rechtsmitteln durch die Prozeßordnungen zur Verfügung gestellten außerordentlichen Rechtsbehelfen und ihrer Auslegung und Anwendung zu (vgl. dazu näher den Beschluß vom 30. Juni 1976 – 2 BvR 164/76 –).

Für die Verfahren nach der Strafprozeßordnung gehört deshalb der Rechtsbehelf des § 33a StPO zum Rechtsweg des § 90 Abs. 2 BVerfGG (Beschluß vom 30. Juni 1976 – 2 BvR 164/76 – mit Nachweisen). Im Zivilprozeß ist das Nichtigkeitsverfahren wegen Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im Verfahren mit Schiedsurteil (§§ 510c, 579 Abs. 3 ZPO) zum Rechtsweg gerechnet worden (BVerfGE 34, 204 f.). Für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hat der Erste Senat bisher lediglich beiläufig ausgesprochen, es werde “in der Regel geboten” sein, von einem Beschwerdeführer, der durch Wiedereinsetzung eine sachliche Prüfung seiner Beschwerde erreichen könne, zu verlangen, daß er diesen Weg beschreitet, ehe er Verfassungsbeschwerde einlegt (BVerfGE 10, 274 [281]).

2. Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gehört hier zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2.

Das in sämtlichen Prozeßordnungen der Fachgerichtsbarkeiten enthaltene Rechtsinstitut der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand dient in besonderer Weise der Durchsetzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor Gericht (vgl. BVerfGE 40, 88 [91] mit Nachweisen). Wer unverschuldet an der Wahrung einer Frist oder der Wahrnehmung eines Termins gehindert war, soll nach Maßgabe der in den Prozeßordnungen näher geregelten Voraussetzungen die Gelegenheit haben, versäumte Prozeßhandlungen und Äußerungen zur Sache nachzuholen. Das Gesetz nimmt dafür die Möglichkeit der nachträglichen Beseitigung der Rechtskraft bereits getroffener Sachentscheidungen in Kauf. Verfahrensrechtlich kann durch die Gewährung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ein etwaiger Verstoß gegen Verfahrensgrundrechte beseitigt werden. In der Sache muß unter Berücksichtigung einer nachgeholten Prozeßhandlung und weiteren sachlichen Vorbringens neu entschieden werden. Damit steht vor Versagung einer beantragten Wiedereinsetzung auch noch nicht fest, welchen sachlichen Inhalt die Entscheidung des Gerichts letztlich haben wird. Der Rechtsbehelf ist deshalb ebenfalls geeignet, eine grundrechtliche Beschwer außerhalb des Verfahrensrechts vor Einlegung einer Verfassungsbeschwerde zu beseitigen. Eröffnet somit der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits auf der Ebene des einfachen Rechts einen Weg zur nachträglichen Korrektur einer etwaigen Grundrechtsverletzung, so gehört er zum Rechtsweg im Sinne des § 90 Abs. 2 BVerfGG.

Das gilt auch dann, wenn die Wiedereinsetzung selbständig neben den Rechtsmitteln der Revision oder Rechtsbeschwerde (oder dem Antrag auf deren Zulassung) steht, wie zB bei der Versäumung einer strafgerichtlichen Hauptverhandlung (§ 329 StPO, § 74 Abs. 4 OWiG); denn die Entscheidungsvoraussetzungen sind für den Rechtsbehelf und die genannten Rechtsmittel grundsätzlich nicht deckungsgleich. Ob und inwieweit der Antrag auf Wiedereinsetzung neben einer zulässigen Berufung (vgl. §§ 235, 412 StPO) zur Erschöpfung des Rechtswegs nach § 90 Abs. 2 BVerfGG gehört, bleibt offen.

3. Dem Beschwerdeführer stand neben dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde der Rechtsbehelf der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 74 Abs. 4 OWiG in Verbindung mit § 235 StPO zur Verfügung. Es war ihm – unabhängig von der Frage, ob er ordnungsgemäß belehrt worden ist – zuzumuten, davon Gebrauch zu machen. Zwar hatte der Amtsrichter zu erkennen gegeben, daß er das Verfahren nach § 74 Abs. 1 OWiG für zulässig hielt; indessen hätte der Beschwerdeführer gegen eine eventuelle Ablehnung der Wiedereinsetzung sofortige Beschwerde zum Landgericht erheben können (§ 46 Abs. 3 StPO). Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand war vor Einlegung der Verfassungsbeschwerde zu beantragen. Ob das jetzt noch möglich ist, ist für die Frage der Erschöpfung des Rechtswegs unerheblich, weil auch die Versäumung an sich zulässiger Rechtsbehelfe der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde gemäß § 90 Abs. 2 BVerfGG entgegensteht. Im übrigen kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand auch von Amts wegen gewährt werden (§ 45 Abs. 2 Satz 3 StPO); liegt der Wiedereinsetzungsgrund in einem Verfahrensfehler des Gerichts, so dürfte die Gewährung der Wiedereinsetzung pflichtgemäßem richterlichem Ermessen entsprechen.

 

Fundstellen

BVerfGE, 252

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge