Verfahrensgang

OLG Koblenz (Urteil vom 16.09.1994; Aktenzeichen 8 U 1406/93)

 

Tenor

Das Urteil des Oberlandesgerichts Koblenz vom 16. September 1994 – 8 U 1406/93 – verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Die Entscheidung wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Das Land Rheinland-Pfalz hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen ein zivilgerichtliches Urteil, mit dem der Beschwerdeführer zur Unterlassung von Äußerungen verurteilt worden ist.

I.

1. Der Beschwerdeführer war Aktionär der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu 2). Die Klägerin des Ausgangsverfahrens zu 2) war ihrerseits an der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu 1) beteiligt. Infolge eines Kurseinbruchs der Aktie der Klägerin zu 2) erlitt der Beschwerdeführer 1992 eine erhebliche Vermögenseinbuße, für die er verschiedene Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Klägerinnen verantwortlich macht.

Anfang 1993 beabsichtigten Vorstandsmitglieder der Klägerin zu 1), eine ihnen gehörende Beteiligung zu veräußern. Der Beschwerdeführer fürchtete, die beabsichtigte Transaktion werde die Interessen der Klägerin zu 2) beeinträchtigen. Er richtete deshalb am 3. Februar 1993 folgendes Schreiben an zwei Hausbanken der Klägerin zu 1):

Betreff: M'er Unternehmensgruppe A./S. AG, Gebrüder P.

hier: geplante Veräußerungen von Unternehmensteilen, namentlich die Beteiligungsgesellschaft B. GmbH einschließlich persönlicher Gesellschaftsanteile der Gebrüder P.

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich vertrete eine Gruppe geschädigter A.-Aktionäre, zu denen auch der Unterzeichner gehört.

Aufgrund massiver schädigender, strafbarer Handlungen der Eigner der S. AG in bewußtem Zusammenwirken mit den verantwortlichen Vertretungs- und Überwachungsorganen der A. wird umgehend unter Arrestausbringung über die Vermögenswerte der Unternehmensgruppe Klage gegen S. AG/A. und den für diese verantwortlich Handelnden bei auch Stellung entsprechender Strafanträge erfolgen.

Aufgrund dessen fordere ich Sie hiermit dringlichst auf, sich jedweder Mitwirkung an der seitens der Unternehmensgruppe, namentlich S. AG und deren Eignern, geplanten Verfügung über die B. GmbH oder Anteilen daran zu enthalten.

Ich gehe davon aus, insbesondere in Ansehung der strafrechtlichen Involvierung der Organe der A./S. AG, daß dortseits auch kein Interesse besteht, sich an derlei die Interessen der A.-Aktionäre weiter schädigenden Transaktionen in irgendeiner Weise zu beteiligen, was um so mehr gilt, als die geplanten Rechtsgeschäfte in unmittelbarem Zusammenhang mit der bislang nicht zurückgeführten Landesbürgschaft stehen!

Hochachtungsvoll

gez. Sch.

Rechtsanwalt

2. Die Klägerinnen erwirkten am 8. Februar 1993 beim Landgericht eine einstweilige Verfügung, mit der dem Beschwerdeführer unter anderem untersagt wurde, seinen Vorwurf, die Organe der Klägerinnen seien strafrechtlich involviert, weiter zu verbreiten. Das Landgericht setzte den Verfahrenswert des Verfügungsverfahrens auf 1.000.000 DM fest. Der Beschwerdeführer erhob keinen Widerspruch gegen die einstweilige Verfügung, ging jedoch gegen die Festsetzung des Verfahrenswerts mit der Beschwerde vor, die vom Oberlandesgericht durch Beschluß vom 27. Juli 1993 zurückgewiesen wurde.

Im Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht begehrten die Klägerinnen, den Beschwerdeführer zu Unterlassung und Widerruf seiner Äußerungen aus dem Brief vom 3. Februar 1993 zu verurteilen. Der Beschwerdeführer verteidigte sich unter anderem mit dem Vorbringen, sein Interesse an einer Wiederholung der umstrittenen Äußerungen sei erloschen. Das Landgericht wies die Klage mit Urteil vom 26. August 1993 ab. Die Klägerinnen hätten keinen Unterlassungsanspruch, da eine Wiederholungsgefahr nicht bestehe. Ebensowenig stehe ihnen ein Widerrufsanspruch zu. Zwar handele es sich bei den in Frage stehenden Äußerungen um Tatsachenbehauptungen. Es fehle aber an einer dauernden und fortwirkenden Störung der Klägerinnen. Außerdem seien diese hinsichtlich der Unwahrheit der Betrugsvorwürfe beweisfällig geblieben. Den Streitwert setzte das Landgericht mit Beschluß vom 13. September 1993 auf 3.000.000 DM fest.

Mit dem angegriffenen Urteil änderte das Oberlandesgericht die landgerichtliche Entscheidung und verurteilte den Beschwerdeführer, es zu unterlassen, die beiden folgenden Äußerungen insbesondere gegenüber Banken und Sparkassen zu verbreiten oder verbreiten zu lassen:

  1. Die vertretungsbefugten Organe der S. AG begehen massiv schädigende, strafbare Handlungen im bewußten Zusammenwirken mit den verantwortlichen Vertretungs- und Überwachungsorganen der Aktiengesellschaft (A.);
  2. Die Organe der A./S. AG seien strafrechtlich involviert.

Im übrigen wies das Oberlandesgericht die Klage ab. Zur Begründung führte es aus: Bei den beanstandeten Äußerungen handele es sich nicht um Tatsachenbehauptungen, sondern jedenfalls in ihrem Kern um kränkende Meinungsäußerungen (unter Zitat von BGH, NJW 1982, S. 2246 ≪2247≫). Es sei angesichts der Wortwahl des Beschwerdeführers evident, daß die in Frage stehenden Äußerungen ehrverletzend seien. Es bestehe auch Wiederholungsgefahr. Der Beschwerdeführer könne sich nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§§ 824 Abs. 2 BGB, 193 StGB) berufen, denn bei Absicht der Beleidigung nach Form der Äußerung oder nach Begleitumständen versage der Schutz der Wahrnehmung berechtigter Interessen. Das Widerrufsverlangen der Klägerinnen scheitere, weil Meinungsäußerungen einem Widerruf nicht zugänglich seien. Das Oberlandesgericht setzte den Streitwert des Verfahrens auf insgesamt 60.000 DM fest.

Der Beschwerdeführer nahm seine zunächst eingelegte Revision zurück, nachdem der Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 9. Mai 1995 den Streitwert für die Revisionsinstanz auf 60.000 DM festgesetzt hatte.

3. Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1, Art. 12 Abs. 1, Art. 14 Abs. 1, Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG. Die Verfassungsbeschwerde habe besondere Bedeutung für ihn, weil die Klägerinnen sich in verschiedenen zivilrechtlichen Auseinandersetzungen auf das angegriffene Urteil bezögen.

Das Oberlandesgericht habe sein Grundrecht auf Meinungsfreiheit verkannt. Es habe die umstrittenen Äußerungen zu Unrecht als Meinungsäußerungen klassifiziert und sich nicht hinreichend mit dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Interesse beschäftigt. Auf sein Vorbringen zur strafrechtlichen Verstrickung der Vorstandsmitglieder der Klägerinnen sei das Oberlandesgericht überhaupt nicht eingegangen. Ebensowenig habe es sich mit seinem Vortrag zur Wiederholungsgefahr auseinandergesetzt.

Durch die willkürliche Einordnung des Rechtsstreits als vermögensrechtliche Streitigkeit und die Herabsetzung des Streitwerts auf 60.000 DM habe das Oberlandesgericht ihm die Revision genommen und dadurch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt. Sein Grundrecht auf rechtliches Gehör sei verletzt, weil das Oberlandesgericht seinen Vortrag nicht gewürdigt und eine Überraschungsentscheidung getroffen habe. Die mit dem Urteil für ihn verbundene unmittelbare Kostenbelastung verletze sein Grundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG, und schließlich sei Art. 12 Abs. 1 GG verletzt, da das Urteil ihn auch in seiner Funktion als Rechtsanwalt treffe.

4. Das Ministerium der Justiz des Landes Rheinland-Pfalz hat von einer Stellungnahme abgesehen. Die Klägerinnen halten die Verfassungsbeschwerde für unbegründet.

 

Entscheidungsgründe

II.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an, weil dies zur Durchsetzung von Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG angezeigt ist (§ 93 a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung liegen vor (§ 93 c BVerfGG). Das Bundesverfassungsgericht hat die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Fragen bereits entschieden (vgl. insbesondere BVerfGE 85, 1 ≪13 ff.≫; 93, 266 ≪293 ff.≫; 94, 1 ≪7 ff.≫).

1. Das angegriffene Urteil verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG.

a) Die dem Beschwerdeführer untersagten Äußerungen genießen den Schutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG, ohne daß es dafür auf die im Ausgangsverfahren unterschiedliche Qualifizierung der Äußerung als Werturteil oder Tatsachenbehauptung ankäme. Werturteile werden vom Grundrechtsschutz stets erfaßt, Tatsachenbehauptungen jedenfalls dann, wenn sie meinungsrelevant sind (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪8≫; 94, 1 ≪7≫). Sollte die Äußerung entgegen der Auffassung des Oberlandesgerichts als Tatsachenbehauptung anzusehen sein, so wäre sie wegen ihres Meinungsbezugs geschützt.

b) Die Meinungsfreiheit findet ihre Schranken gemäß Art. 5 Abs. 2 GG unter anderem an dem Recht der persönlichen Ehre. Dazu gehören auch die Vorschriften der §§ 12, 823, 824, 862, 1004 BGB, §§ 185, 186 StGB, auf die das Oberlandesgericht seine Unterlassungsverurteilung gestützt hat. Es ist Aufgabe der ordentlichen Gerichte, diese Bestimmungen auszulegen und anzuwenden. Die Gerichte haben bei ihrer Entscheidung jedoch dem Einfluß der Meinungsfreiheit auf die Vorschriften des Zivil- und Strafrechts Rechnung zu tragen, damit die wertsetzende Bedeutung des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG auch auf der Rechtsanwendungsebene gewahrt bleibt (vgl. BVerfGE 7, 198 ≪208≫). Das erfordert regelmäßig eine Abwägung zwischen der in der Unterlassungsverurteilung liegenden Beeinträchtigung der Meinungsfreiheit einerseits und der Gefährdung des von den genannten Bestimmungen geschützten Rechtsguts durch die Äußerung andererseits. Das Ergebnis dieser Abwägung ist wegen ihres Fallbezugs verfassungsrechtlich nicht vorgegeben.

Doch tritt die Meinungsfreiheit bei herabsetzenden Äußerungen, die sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, regelmäßig hinter den Ehrenschutz zurück (vgl. BVerfGE 61, 1 ≪12≫). Wegen dieses die Meinungsfreiheit verdrängenden Effekts ist der Begriff der Schmähkritik allerdings eng auszulegen. Auch eine überzogene oder gar ausfällige Kritik macht eine Äußerung für sich genommen noch nicht zur Schmähung oder Formalbeleidigung. Hinzutreten muß vielmehr, daß bei der Äußerung nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. Sie muß sich jenseits auch polemischer und überspitzter Kritik in der persönlichen Herabsetzung eines anderen erschöpfen. Hält ein Gericht eine Äußerung fälschlich für eine Formalbeleidigung oder Schmähung, mit der Folge, daß eine konkrete Abwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls unterbleibt, so liegt darin ein verfassungsrechtlich erheblicher Fehler, der zur Aufhebung der Entscheidung führt, wenn diese darauf beruht (vgl. BVerfGE 93, 266 ≪294≫).

c) Das angegriffene Urteil wird diesen Maßstäben nicht gerecht.

Zwar läßt es sich im Ergebnis nicht beanstanden, daß das Oberlandesgericht, anders als das Landgericht, die umstrittenen Äußerungen als Meinungsäußerungen eingestuft hat. Auch seine Auffassung, daß die Äußerungen ehrkränkend wirken, begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.

Dagegen ist mit Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG nicht vereinbar, daß das Oberlandesgericht dem Beschwerdeführer die Berufung auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen allein mit dem Hinweis auf die „Absicht der Beleidigung nach Form der Äußerung oder nach Begleitumständen” versagt hat. Damit hat das Gericht die Äußerung zwar nicht terminologisch, aber der Sache nach wie eine Formalbeleidigung bzw. Schmähung behandelt. Die Voraussetzungen für eine solche Einordnung lagen indessen nicht vor.

Die Äußerungen des Beschwerdeführers in den Briefen an die Hausbanken der beiden Klägerinnen standen im Zusammenhang mit der schwierigen wirtschaftlichen Situation, in welcher sich die Klägerin zu 2) 1992 befand, und für die der Beschwerdeführer verschiedene Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder der Klägerinnen verantwortlich machte. Veranlaßt waren die Äußerungen des Beschwerdeführers von einer beabsichtigten Transaktion durch Vorstandsmitglieder der Klägerin zu 1). Der Beschwerdeführer nahm dabei nicht nur seine eigenen Interessen, sondern auch die anderer Aktionäre wahr. Ziel seiner Äußerung war es, durch einen Appell an die Banken der Klägerin zu 1) die Transaktion zu verhindern, von der er eine weitere Schädigung der Aktionärsinteressen befürchtete. Die Hinweise auf die angeblich strafrechtliche Relevanz der Handlungen von Organmitgliedern der Klägerinnen hatten ersichtlich die Funktion, den Appell zu unterstützen. Unter diesen Umständen kann aber nicht die Rede davon sein, daß sich die Äußerungen fern jedes sachlichen Anliegens in der Diffamierung von Personen erschöpften.

Das angegriffene Urteil beruht darauf, daß das Oberlandesgericht die Äußerungen des Beschwerdeführers der Sache nach als Schmähkritik eingestuft hat. Dadurch hat es sich den Weg zur Abwägung zwischen den Belangen der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und denjenigen des Ehrenschutzes auf der anderen Seite von vornherein verstellt. Tatsächlich enthält das Urteil auch keine Erwägungen zu der Frage, welche Gesichtspunkte im konkreten Fall für oder gegen eine Unterlassungsverurteilung sprechen könnten. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das Oberlandesgericht den Unterlassungsanspruch der Klägerinnen bei einer anderen Einordnung der Äußerung und der dann gebotenen Abwägung verneint hätte.

2. Auf die Rügen der Verletzung anderer Grundrechte kommt es danach nicht mehr an.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 34 a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Unterschriften

Papier, Grimm, Hömig

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1261616

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge