Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtannahmebeschluß: Voraussetzungen der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmer-Koalition und Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit - Erfordernis einer "Verbandsmacht" - TVG § 2 Abs 1 mit Gleichheitssatz vereinbar - Gewerkschaftszugehörigkeit und gesetzlicher Richter

 

Orientierungssatz

1. Die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit sind befugt, die unbestimmten Rechtsbegriffe im Wege der Auslegung des TVG im Lichte von GG Art 9 Abs 3 auszufüllen, also die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmer-Koalition näher zu umschreiben (Festhaltung BVerfG, 1981-10-20, 1 BvR 404/78, BVerfGE 58, 233 ≪248≫).

2. Im Bereich der Feststellung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation gilt nicht die Wesentlichkeitstheorie, sondern es müssen die Gerichte bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch, soweit es um die nähere Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit geht (vgl BVerfG, 1991-06-26, 1 BvR 779/85, DB 1991, 1678).

3. Die auch den angegriffenen Entscheidungen zugrundeliegenden Grundsätze der "Durchsetzungskraft" und der "Leistungsfähigkeit der Organisation" behindern die Entstehung neuer Koalitionen nicht in unzumutbarer Weise. Das Erfordernis einer gewissen "Verbandsmacht" stellt ein geeignetes und erforderliches Mittel der Bestimmung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung dar.

4. Im Hinblick auf GG Art 3 Abs 1 ist es sachlich gerechtfertigt, daß TVG § 2 Abs 1 die Tariffähigkeit der Arbeitgeber nicht von ihrer Durchsetzungskraft abhängig macht (vgl BVerfGE 58, 233 ≪256≫, im übrigen führen die angegriffenen Entscheidungen nicht zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung der großen und etablierten Gewerkschaften.

5. Die Heranziehung eines gewerkschaftszugehörigen ehrenamtlichen Richters im Arbeitsgerichtsverfahren verletzt nicht GG Art 101 Abs 1 S 2. Sie beruht nicht auf Willkür, da sie allein einfachrechtlich keinen Ablehnungsgrund ergibt, was auch dann gilt, wenn über einen Rechtsstreit zu entscheiden ist, an dem die Gewerkschaft beteiligt ist, der der Richter angehört.

 

Normenkette

ZPO §§ 41-42; GG Art. 9 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1; TVG § 2 Abs. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2

 

Verfahrensgang

BAG (Entscheidung vom 16.01.1990; Aktenzeichen 1 ABR 93/88 EzA § 2 TVG Nr 19)

LAG Köln (Entscheidung vom 10.10.1988; Aktenzeichen 5 TaBV 27/88 LAGE § 2 TVG Nr 4)

ArbG Bonn (Entscheidung vom 24.02.1988; Aktenzeichen 4 BV 9/87)

 

Gründe

1. Art. 9 Abs. 3 GG wird durch die angegriffenen Entscheidungen nicht verletzt.

Das Bundesverfassungsgericht hat bereits entschieden, daß die Gerichte der Arbeitsgerichtsbarkeit befugt sind, die unbestimmten Rechtsbegriffe im Wege der Auslegung des Tarifvertragsgesetzes im Lichte des Art. 9 Abs. 3 GG auszufüllen, also die Voraussetzungen für die Tariffähigkeit einer Arbeitnehmer-Koalition näher zu umschreiben, solange der Gesetzgeber auf die Normierung der Voraussetzungen für die Gewerkschaftseigenschaft und die Tariffähigkeit im einzelnen verzichtet hat (BVerfGE 58, 233 ≪248≫).

Daran ist festzuhalten. Ohne Erfolg beruft sich die Beschwerdeführerin demgegenüber auf die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Lehre, daß der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muß (Wesentlichkeitstheorie, vgl. etwa BVerfGE 49, 89 ≪126 f.≫ m.w.N.). Sie gilt für das Verhältnis von Staat und Bürger. Die Feststellung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmerorganisation betrifft jedoch deren Verhältnis zu gleichgeordneten Grundrechtsträgern. In diesem Bereich müssen die Gerichte bei unzureichenden gesetzlichen Vorgaben das materielle Recht mit den anerkannten Methoden der Rechtsfindung aus den allgemeinen Rechtsgrundlagen ableiten, die für das betreffende Rechtsverhältnis maßgeblich sind. Das gilt auch, soweit es um die nähere Ausgestaltung der Koalitionsfreiheit geht (vgl. BVerfG, Beschluß vom 26. Juni 1991 - 1 BvR 779/85 -, Umdruck S. 14). Daran ändert auch der Hinweis der Beschwerdeführerin auf Art. 11 EMRK nichts. Wann eine Vereinigung eine Gewerkschaft ist, sagt Art. 11 EMRK nicht (BVerfGE 58, 233 ≪253 f.≫). An den allgemeinen rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Normen sind höchstrichterliche Urteile schon deswegen nicht zu messen, weil sie dem Gesetzesrecht nicht gleichzuachten sind und keine damit vergleichbare Rechtsbindung erzeugen (vgl. BVerfGE 38, 386 ≪396≫). Übrigens sind die von den Gerichten für Arbeitssachen verwendeten Begriffe "Durchsetzungskraft" und "Leistungsfähigkeit der Organisation" hinreichend bestimmt. Aus den angegriffenen Entscheidungen ergibt sich, daß die Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen.

Durch die Grundsätze, die auch den angegriffenen Entscheidungen zugrunde liegen, wird die Entstehung neuer Koalitionen nicht in unzumutbarer Weise behindert. Der einzelne Arbeitnehmer ist rechtlich nicht gehindert, sich einer im Aufbau befindlichen Koalition anzuschließen und dazu beizutragen, daß ihr eine entsprechende Durchsetzungskraft zukommt (BVerfGE 58, 233 ≪250≫). Das Erfordernis einer gewissen "Verbandsmacht" stellt ein geeignetes und erforderliches Mittel der Bestimmung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung dar. Es sollen nämlich nur solche Koalitionen an der Tarifautonomie teilnehmen können, die in der Lage sind, den von der staatlichen Rechtsordnung freigelassenen Raum des Arbeitslebens durch Tarifverträge zu gestalten, und so die Gemeinschaft zu befrieden. Dazu gehört eine gewisse "Verbandsmacht" (vgl. BVerfG, a.a.O., S. 248 f.).

Die Feststellung des Tatbestandes sowie die Auslegung und Anwendung der Merkmale "Durchsetzungskraft" und "Leistungsfähigkeit der Organisation" zur Feststellung der Tariffähigkeit einer Arbeitnehmervereinigung im Einzelfall obliegt in erster Linie den hierfür zuständigen Gerichten für Arbeitssachen. Die Verfassungsbeschwerde läßt nicht erkennen, daß verfassungsrechtlich relevante Rechtsanwendungsfehler unterlaufen wären. Insbesondere läßt sich den angegriffenen Entscheidungen nicht entnehmen, daß die Gerichte (wie behauptet) zu hohe Anforderungen gestellt und damit die Bedeutung der Koalitionsfreiheit oder den Umfang des Schutzbereiches dieses Grundrechts verkannt hätten.

2. Art. 3 Abs. 1 GG ist nicht verletzt.

Daß § 2 Abs. 1 TVG die Tariffähigkeit der Arbeitgeber nicht von ihrer Durchsetzungskraft abhängig macht, beruht auf einem sachlichen Grund. Das Gesetz will damit die Existenz eines Tarifpartners sichern, wenn ein Arbeitgeberverband nicht besteht (BVerfGE 20, 312 ≪318≫; 58, 233 ≪256≫). Wenn der Gesetzgeber das Interesse daran, auf jeden Fall einen Tarifpartner auf Arbeitgeberseite zur Verfügung zu stellen, höher veranschlagt als die Frage der Durchsetzungsfähigkeit des einzelnen Arbeitgebers, so ist das nach Art. 3 Abs. 1 GG nicht zu beanstanden (BVerfGE 58, 233 ≪256≫). Die Verfassungsbeschwerde hat keine neuen, eine andere Beurteilung rechtfertigenden Argumente vorgebracht.

Die angegriffenen Entscheidungen führen auch nicht zu einer ungerechtfertigten Bevorzugung der großen und etablierten Gewerkschaften. Denn die Erfordernisse der Durchsetzungskraft sowie der Leistungsfähigkeit der Organisation sind geeignet und erforderlich, um eine sinnvolle Teilnahme an der Tarifautonomie sicherzustellen. Die unterschiedliche Behandlung ist damit von einem sachlichen Grund getragen.

3. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ist nicht verletzt.

Die Heranziehung des ehrenamtlichen Richters A. beruhte nicht auf Willkür. Bereits einfachrechtlich hätte die Gewerkschaftszugehörigkeit des Richters A. allein keinen Ablehnungsgrund ergeben (vgl. BAG, AP Nrn. 1 und 2 zu § 41 ZPO und AP Nr. 3 zu § 42 ZPO). Denn durch die Zusammensetzung der arbeitsgerichtlichen Spruchkörper hat der Gesetzgeber zu erkennen gegeben, daß er die gewerkschaftliche Betätigung eines ehrenamtlichen Richters für zulässig erachtet. Das gilt auch dann, wenn über einen Rechtsstreit zu entscheiden ist, an dem die Gewerkschaft beteiligt ist, der der Richter angehört (vgl. Germelmann, in: Germelmann/Matthes/Prütting, ArbGG, 1990, § 49 Rdnr. 21). Bei hervorgehobener Stellung in der Gewerkschaft gilt anderes nur dann, wenn der Richter gerade den Verlauf des zu entscheidenden Verfahrens beeinflussen kann (vgl. Germelmann, a.a.O.). Aus der Verfassungsbeschwerde läßt sich dazu nichts entnehmen.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI543600

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