Entscheidungsstichwort (Thema)

"Waisenberechtigtes Kind"

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Auslegung des Begriffes "waisenrentenberechtigtes Kind" (Anschluß an BSG vom 1976-08-19 11 RA 110/75).

 

Leitsatz (redaktionell)

Der Begriff "waisenberechtigtes Kind" ist dahin auszulegen, daß es sich um ein Kind handeln muß, welches im Zeitpunkt der Scheidung der Ehe zum Personenkreis der grundsätzlich waisenberechtigten Kinder iS von RVO § 1267 iVm RVO § 1262 gehört.

Weitere als diese persönlichen Voraussetzungen eines Waisenrentenanspruchs können nicht gefordert werden (Anschluß an BSG 1976-08-19 11 RA 110/75 = DAngVers 1977, 54).

 

Normenkette

RVO § 1265 S. 2 Nr. 2 Fassung: 1972-10-16, § 1267 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1262 Abs. 2 Fassung: 1964-04-14

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 4. Februar 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Klägerin vom 1. Mai 1973 an Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) zusteht.

Die Ehe der Klägerin mit dem Versicherten wurde im Jahre 1953 aus Verschulden des Versicherten geschieden. Das am 29. Mai 1948 geborene eheliche Kind wurde von der Klägerin erzogen. Der Versicherte starb im Dezember 1955.

Mehrere Rentenanträge, die die Klägerin in der Zeit von 1956 bis 1970 stellte, wurden mit der Begründung abgelehnt, die Voraussetzungen des § 1265 RVO seien nicht erfüllt. Nach Inkrafttreten des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 beantragte die Klägerin am 3. April 1973 erneut die Gewährung der Hinterbliebenenrente. Die Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 13. Dezember 1973 mit der Begründung ab, daß - wenn auch die übrigen Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO erfüllt seien - dem Antrag deshalb nicht stattgegeben werden könne, weil das Kind der Klägerin und des Versicherten im Zeitpunkt der Scheidung nicht waisenrentenberechtigt im Sinne des § 1265 Satz 2 Nr. 2 RVO gewesen sei. Ein - im Falle des Todes des Versicherten - zu dieser Zeit gestellter Antrag auf Waisenrente hätte nach damaligem Recht keinen Erfolg haben können. Ein Anspruch auf Waisenrente habe sich erst vom 1. Januar 1957 an ergeben.

Das Sozialgericht hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin vom 1. Mai 1973 an Hinterbliebenenrente nach dem Versicherten zu gewähren (Urteil vom 28. Juni 1974), das Landessozialgericht (LSG) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 4. Februar 1975). In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, der Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" im Sinne des § 1265 Satz 2 Nr. 2 RVO könne nicht so verstanden werden, daß dem Kind - wäre der Versicherte im Zeitpunkt der Scheidung gestorben - Waisenrente zugestanden haben müsse. Es komme allein darauf an, daß das Kind zum Kreis der Personen gehöre, die im Falle eines späteren Todes des Versicherten Anspruch auf Waisenrente haben würden. Diese Voraussetzungen seien im vorliegenden Fall erfüllt. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 1265 Satz 2 RVO lägen - wie auch von der Beklagten eingeräumt werde - vor.

Mit der zugelassenen Revision wendet sich die Beklagte gegen diese Gesetzesinterpretation. Sie ist der Meinung, der Anspruch sei im vorliegenden Fall deshalb nicht gegeben, weil das Kind im Zeitpunkt der Scheidung - den Tod des Versicherten unterstellt - nicht waisenrentenberechtigt gewesen sei.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zur Begründung beruft sie sich auf das angefochtene Urteil. Die Revision hat keinen Erfolg.

Der Klägerin steht die Hinterbliebenenrente nach § 1265 Satz 2 RVO zu. Da alle übrigen Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sind, hängt die Entscheidung davon ab, ob die Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung ein "waisenrentenberechtigtes Kind" (§ 1265 Satz 2 Nr. 2 RVO) zu erziehen hatte. Der Senat hat diese Frage - in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen - bejaht. Er folgt damit der vom Bundessozialgericht in seiner Entscheidung vom 19. August 1976 - 11 RA 110/75 - vertretenen Auffassung. Dort ist unter anderem ausgeführt: "Waisenrentenberechtigt" im Sinne von § 42 Satz 2 Nr. 2 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) (= § 1265 Satz 2 Nr. 2 RVO) bedeute nicht, daß das Kind zur Zeit der Auflösung der Ehe Anspruch auf Waisenrente gehabt haben müsse. § 42 Satz 2 AVG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (RRG) fordere in seinen Nrn. 1 bis 3 das Vorliegen mehrerer - kumulativ zu erfüllender - Tatbestände. Diese stellten auf Verhältnisse zu verschiedenen Zeiten ab. Nummer 1 betreffe die "Zeit des Todes" des Versicherten, Nummer 3 Zeiten nach dessen Tod, Nummer 2 jedoch den Zeitpunkt der Auflösung (Scheidung) der Ehe. In diesem Zeitpunkt habe der Versicherte noch gelebt. Einen Waisenrentenanspruch ohne Tod des Versicherten gebe es aber nicht. Dies zwinge bereits zu einer Auslegung, die für den Begriff "waisenrentenberechtigt" im Sinne von § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nicht alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Waisenrente fordere.

Aus den Gesetzesmaterialien sei im übrigen erkennbar, daß der rentenrechtliche Schutz der geschiedenen Frau mit dem RRG verbessert und eine Verbindung mit dem neuen Eherecht hergestellt werden sollte. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen sei § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG; er greife Gedanken auf, die später in den §§ 1570 bis 1572 des Bürgerlichen Gesetzbuches idF des 1. Ehereformgesetzes vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421 ff) gesetzlich ausgeprägt worden seien. Wenn § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG daher verlange, daß die geschiedene Frau im Zeitpunkt der Eheauflösung "mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen oder das 45. Lebensjahr vollendet hatte", so beruhe dieses Erfordernis offenbar auf der Vermutung, daß von diesen Frauen meist oder häufig eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden könne. Für diesen Fall könnten sie nach dem im Verlauf des Jahres 1977 in Kraft tretenden neuen Eherecht grundsätzlich vom geschiedenen Mann Unterhalt verlangen. Möglicherweise sei auch daran gedacht, daß sie wegen Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit damals keine eigenen Rentenanwartschaften erwerben konnten.

Angesichts dieser Erwägungen könne der Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" in § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nur dahin ausgelegt werden, daß es sich um ein Kind handeln müsse, das im Zeitpunkt der Scheidung zum Personenkreis der grundsätzlich waisenrentenberechtigten Kinder im Sinne von § 44 i. V. m. § 39 AVG (= § 1267 i. V. m. § 1262 RVO) gehöre. Weitere als diese persönlichen Voraussetzungen eines Waisenrentenanspruchs seien nicht zu fordern.

Die vorbezeichneten Voraussetzungen sind in dem hier zu entscheidenden Fall erfüllt. Das von der Klägerin erzogene Kind gehört nach den Feststellungen des LSG zweifelsfrei zum Personenkreis des § 1267 i. V. m. § 1262 RVO.

Hiernach muß die Revision zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648367

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