Leitsatz (amtlich)

"Waisenrentenberechtigt" iS des AVG § 42 S 2 Nr 2 (= RVO § 1265 S 2 Nr 2) idF des RRG ist ein Kind, das im Zeitpunkt der Scheidung (Nichtigerklärung oder Aufhebung) der Ehe zum Personenkreis der waisenrentenberechtigten Kinder iS von AVG § 44 iVm § 39 (= RVO § 1267 iVm § 1262) gehört hat; die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs brauchen im Zeitpunkt der Eheauflösung nicht erfüllt zu sein.

 

Normenkette

AVG § 42 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 S. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 42 S. 2 Nr. 2 Fassung: 1972-10-16; RVO § 1265 S. 2 Nr. 2 Fassung: 1972-10-16; AVG § 44 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1267 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 8. Juli 1975 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist noch streitig, ob der Klägerin ab Januar 1973 Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres früheren Ehemannes (des Versicherten) zusteht.

Die Klägerin ist 1901 geboren. Sie schloß 1932 die Ehe mit dem Versicherten, aus der ein 1933 geborenes Kind hervorging. 1938 wanderte der Versicherte nach Großbritannien aus und erwarb später die britische Staatsangehörigkeit. 1939 wurde die Ehe aus seinem Verschulden durch Urteil des Landgerichts Berlin geschieden. Im Juli 1965 ist er verstorben.

Der Versicherte hatte am ersten Weltkrieg teilgenommen und bis 1923 30 Pflichtbeiträge zur deutschen Angestelltenversicherung entrichtet. Sein aus Entschädigungsrenten und Altersruhegeld stammendes Einkommen betrug im Sterbejahr 1.185,- DM monatlich. Die seit 1948 in Großbritannien lebende Klägerin verdiente von Juli 1964 bis Juni 1965 etwa 890.-.- englische Pfund brutto.

Ihren Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente nach § 42 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) lehnte die Beklagte 1970 ab, weil die Klägerin wegen der Höhe ihres Arbeitseinkommens nicht unterhaltsbedürftig gewesen sei.

Die Klage hat das Sozialgericht (SG) abgewiesen (Urteil vom 8. November 1971). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 8. Juli 1975 zurückgewiesen; es hat aber den von der Beklagten während des Berufungsverfahrens erlassenen, den Anspruch nach § 42 AVG idF des Rentenreformgesetzes vom 16. Oktober 1972 (RRG) wiederum ablehnenden Bescheid vom 18. April 1975 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, Hinterbliebenenrente ab Januar 1973 zu gewähren. Zur Begründung hat es ausgeführt, nach § 42 Satz 2 Nr. 1 AVG nF komme es auf die Höhe des Arbeitseinkommens der Klägerin nicht mehr an; auch die Voraussetzungen der Nrn. 2 und 3 seien erfüllt; insbesondere habe die Klägerin im Zeitpunkt der Ehescheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen gehabt. "Waisenrentenberechtigt" bedeute nicht, daß seinerzeit ein hypothetischer Waisenrentenanspruch bestanden, der Versicherte damals also eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt haben müsse; vielmehr werde mit dieser Formulierung der Personenkreis eingegrenzt: Nur das von § 44 iVm § 39 Abs. 2 AVG erfaßte Kind solle die Vergünstigung des § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG auslösen. Käme es auf die Erfüllung der Wartezeit im Zeitpunkt der Ehescheidung an, würde ein Verstoß gegen Art. 3 und Art. 6 des Grundgesetzes (GG) vorliegen.

Mit der Revision beantragt die Beklagte,

das angefochtene Urteil, soweit sie verurteilt wurde, aufzuheben.

Sie rügt die Verletzung des § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG. Von einem waisenrentenberechtigten Kind könne man nur sprechen, wenn zur Zeit der Auflösung der Ehe (Zeitpunkt des fiktiven Todes des Versicherten) alle Voraussetzungen für die Zahlung einer Waisenrente erfüllt gewesen wären. Auch § 45 Abs. 2 Nr. 2 AVG verwende in diesem Sinne denselben Begriff.

Die Klägerin beantragt,

Die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß der Klägerin eine Geschiedenen-Witwenrente nach § 42 AVG ab 1. Januar 1973 zu gewähren ist (Art. 1 § 2 Nr. 14, Art. 6 § 8 Abs. 1 RRG; Art. 2 § 18 Abs. 2 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes). Zwar hat sie keinen Anspruch aufgrund der Tatbestände des § 42 Satz 1 AVG. Denn der Versicherte hatte ihr zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt nach den Vorschriften des - aufgrund des Art. 17 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch hier anwendbaren - Ehegesetzes (EheG) zu leisten, weil sie wegen ihres Arbeitseinkommens von 20.-.- englischen Pfund brutto (etwa 224,- DM) wöchentlich nicht unterhaltsbedürftig war (§ 58 EheG). Für den Anspruch scheiden auch die zweite und dritte Alternative des § 42 Satz 1 AVG aus: Weder hatte der Versicherte Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten noch hat er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt gezahlt.

§ 42 Satz 1, 1. Halbsatz AVG findet aber mit Wirkung vom 1. Januar 1973 deshalb Anwendung, weil die in § 42 Satz 2 AVG nF in den Nrn. 1, 2 und 3 aufgezahlten Tatbestände erfüllt sind. Die Unterhaltsverpflichtung des Versicherten hat nämlich - nur - wegen des Einkommens der Klägerin aus ihrer Erwerbstätigkeit nicht bestanden; die Klägerin hatte ferner im Zeitpunkt der Ehescheidung ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen und war schließlich im Januar 1973 60 Jahre alt.

"Waisenrentenberechtigt" im Sinne von § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG bedeutet nicht, daß das Kind zur Zeit der Auflösung der Ehe Anspruch auf Waisenrente gehabt haben mußte. Zwar meint der Gesetzgeber, wenn er von einem "Berechtigten" spricht, in aller Regel eine Person, die alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen eines Rechtsanspruchs erfüllt (vgl. zB §§ 39, 45, 57 bis 59, 64 bis 66 AVG, BSG 29, 116, 117); so kann der Begriff in § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG aber nicht verstanden werden.

§ 42 Satz 2 AVG idF des RRG fordert in seinen Nrn. 1 bis 3 das Vorliegen mehrerer - kumulativ zu erfüllender - Tatbestände. Diese stellen auf Verhältnisse zu verschiedenen Zeiten ab. Nummer 1 betrifft die "Zeit des Todes" des Versicherten, Nr. 3 Zeiten nach dessen Tod, Nr. 2 jedoch den Zeitpunkt der Auflösung (Scheidung) der Ehe. In diesem Zeitpunkt hat der Versicherte noch gelebt. Einen Waisenrentenanspruch ohne Tod des Versicherten gibt es aber nicht; dessen Tod ist immer materiell-rechtliche Voraussetzung dieses Anspruchs.

Dies zwingt bereits zu einer Auslegung, die für den Begriff "waisenrentenberechtigt" im Sinne von § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nicht alle materiell-rechtlichen Voraussetzungen des Anspruchs auf Waisenrente fordert. Zwar räumt die Beklagte das ein; sie möchte aber wenigstens am Vorliegen der übrigen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs zur Zeit der Eheauflösung festhalten. Dem kann der Senat nicht folgen, weil eine solche Auslegung dem Sinn und Zweck der Neugestaltung der Geschiedenen-Witwenrente durch das RRG widerspricht.

Aus den Gesetzesmaterialien ist erkennbar, daß der rentenrechtliche Schutz der geschiedenen Frauen mit dem RRG verbessert und eine Verbindung mit dem neuen Eherecht hergestellt werden sollte (vgl. Vorblatt zum Entwurf des RRG und Erläuterung zu Nr. 13 in BT-Drucks., 6. Wahlperiode, VI/2916). Zwar hat der ursprünglich eingebaute Gedanke des Versorgungsausgleichs im RRG keinen Niederschlag gefunden; die Verbindungen zum neuen Eherecht sind aber in anderer Weise gefunden worden. Ein Ausdruck dieser Bestrebungen ist § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG; er greift Gedanken auf, die später in den §§ 1570 bis 1572 des Bürgerlichen Gesetzbuches idF des 1. Ehereformgesetzes vom 14. Juni 1976 (BGBl I 1421 ff) gesetzlich ausgeprägt worden sind. Wenn § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG daher verlangt, daß die geschiedene Frau im Zeitpunkt der Eheauflösung "mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen oder das 45. Lebensjahr vollendet hatte", so beruht dieses Erfordernis offenbar auf der Vermutung, daß von diesen Frauen meist oder häufig eine Erwerbstätigkeit nicht zu erwarten war; in diesem Falle konnten sie nach dem geplanten neuen Eherecht grundsätzlich vom geschiedenen Mann Unterhalt verlangen. Möglicherweise ist auch daran gedacht, daß sie wegen Nichtausübung einer Erwerbstätigkeit damals keine eigenen Rentenanwartschaften erwerben konnten.

Angesichts dieser Erwägungen des Gesetzgebers kann nicht einleuchten, warum es, wenn die Frau im Zeitpunkt der Scheidung ein Kind erzog, darauf ankommen sollte, ob das Kind damals schon die - seinerzeit erforderlichen - versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs erfüllte. Für die Frage, ob die geschiedene Frau wegen der Kindererziehung eine Erwerbstätigkeit nicht ausüben konnte, ist das ohne Bedeutung. Es ist auch nicht einzusehen, warum die Erfüllung der versicherungsrechtlichen Voraussetzungen der Hinterbliebenenrenten für zwei verschiedene Zeitpunkte verlangt wird und es nicht genügen sollte, daß sie im Zeitpunkt des Todes des Versicherten gegeben sind. Schließlich entstünden unvernünftige Ergebnisse, weil ohne verständlichen Grund Frauen benachteiligt würden, die zu einer Zeit geschieden worden sind, als der Versicherte die Wartezeit für eine Hinterbliebenenrente noch nicht zurückgelegt hatte.

Hiernach kann der Begriff "waisenrentenberechtigtes Kind" in § 42 Satz 2 Nr. 2 AVG nur dahin ausgelegt werden, daß es sich um ein Kind handeln muß, das im Zeitpunkt der Scheidung zum Personenkreis der grundsätzlich waisenrentenberechtigten Kinder im Sinne von § 44 iVm § 39 AVG gehörte; weitere als diese persönlichen Voraussetzungen eines Waisenrentenanspruchs sind nicht zu fordern. Die genannten Voraussetzungen sind hier gegeben. Das von der Klägerin im Zeitpunkt der Scheidung zu erziehende Kind war eine gemeinsame Tochter der Klägerin und des Versicherten und damals sechs Jahre alt.

Hiernach war der Revision der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

BSGE, 156

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