Beteiligte

31. März 1982 Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Der im Jahre 1931 geborene Kläger, gelernter Elektriker, bezog seit Januar 1961 Rente wegen Berufsunfähigkeit. Mit einem Bescheid ohne Datum, der am 7. März 1979 an ihn abgesandt wurde, entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats April 1979, weil er neue Kenntnisse und Fähigkeiten erworben habe, die es ihm ermöglichten, eine regelmäßige, zumutbare Erwerbstätigkeit auszuüben. Der Bescheid ging dem Kläger am 8. März 1979 zu. Am selben Tage setzte sich ein Bediensteter der Beklagten fernmündlich mit dem Kläger in Verbindung und vermerkte hierüber in der Rentenakte: "Herr K…wurde heute ausführlich in einer telefonischen Unterredung über die Rechtslage informiert. Da vor Erteilung des Entziehungsbescheides eine Anhörung nicht erfolgte, dürfte der Verfahrensmangel mit dieser Unterredung geheilt sein."

Das Sozialgericht WG) für das Saarland hat die am 13. März 1979 erhobene Klage abgewiesen (Urteil vom 14. März 1980). Das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland hat durch Urteil vom 29. Januar 1981 das vorinstanzliche Urteil sowie den Entziehungsbescheid aufgehoben und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, der Bescheid sei unter Verletzung der Anhörungspflicht nach § 34 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) erlassen worden und deshalb rechtswidrig.

Mit der Revision trägt die Beklagte vor, eine Anhörung nach Erlaß des Bescheides, aber vor Erhebung der Klage genüge den gesetzlichen Anforderungen.

Sie beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom. 29. Januar 1981 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 14. März 1980 zurückzuweisen, hilfsweise die Sache an das Landessozialgericht für das Saarland zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, sich nicht an das Telefongespräch erinnern zu können; selbst wenn es stattgefunden habe, sei ihm nicht Gelegenheit gegeben worden, den Sachverhalt zu erfassen und Stellung zu nehmen.

II

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG hat im Ergebnis zu Recht entschieden, daß der Entziehungsbescheid rechtswidrig ist, weil die Beklagte ihre Anhörungspflicht verletzt hat.

Nach § 34 Abs. 1 SGB I, der inzwischen durch Art II § 28 Nr. 1 des am 1. Januar 1981 in Kraft getretenen Sozialgesetzbuchs - Verwaltungsverfahren - (SGB X) gestrichen, jedoch ohne Änderung - aus Gründen des Sachzusammenhangs - in das SGB X übernommen und durch § 24 SGB X ersetzt worden ist, muß vor Erlaß eines Verwaltungsaktes, der in Rechte eines Beteiligten eingreift, diesem Gelegenheit gegeben werden, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern. Daran fehlt es im vorliegenden Fall.

Allerdings ist entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Rechtsmeinung der Grundsatz der Gewährung rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren hier nicht schon deshalb verletzt worden, weil sich die Beklagte erst in der Zeit zwischen dem Erlaß des Entziehungsbescheides und der Klageerhebung mit dem Kläger in Verbindung gesetzt hat. Dabei kann offenbleiben, ob die Regelung des § 41 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Abs. 2 SGB X wegen Art II § 37 Abs. 1 SGB X hier eingreift. Denn unter der Geltung des früheren § 34 SGB I ist es bereits in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) als zulässig angesehen worden, die unterlassene "Anhörung'' bis zur Klageerhebung nachzuholen (BSG, Urteile vom 24. Juli 1980 - 5 RKnU 1/79 - SozR 1200 § 34 Nr. 12 S. 55 und - 5 RKn 9/79 - SozR a.a.O. Nr. 13 S. 58); von dieser im Berufungsurteil unberücksichtigt gebliebenen Rechtsprechung abzuweichen, besteht kein Anlaß.

Auch eine fernmündliche Anhörung durch den Rentenversicherungsträger ist - anders als anscheinend die Revision annehmen möchte - nicht schlechthin mangelhaft. Dies folgt aus dem Grundsatz der Nichtförmlichkeit des Verwaltungsverfahrens, der in § 9 SGB X wortgleich mit § 10 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vom 25. Mai 1976 - VwVfG - seinen gesetzlichen Niederschlag gefunden hat und besagt, daß das Verwaltungsverfahren - und damit auch Verwaltungshandlungen - nicht an bestimmte Formen gebunden ist, soweit keine besonderen Rechtsvorschriften für die Form des Verfahrens bestehen. Eine derartige Formvorschrift enthält weder § 24 SGB X noch der frühere § 34 SGB 1. Deshalb kann nach der Ansicht des Senats die Anhörung grundsätzlich schriftlich, mündlich und auch fernmündlich erfolgen (zur Formfreiheit vgl. auch Begründung zum VwVfG, BT-Drucks 7/910 S. 52). Auch der Umstand, daß der in die Rechte des Klägers eingreifende Entziehungsbescheid, dessentwegen die Anhörung erforderlich war, schriftlich erteilt werden mußte (§ 1631 i.V.m. § 1633 Reichsversicherungsordnung - RVO -), gebietet nicht notwendig, die Anhörung ebenfalls schriftlich durchzuführen. Weder ist dem Gesetz eine solche Akzessorietät zu entnehmen, noch ergibt sich diese zwingend aus der Natur der Sache. Das bedeutet allerdings andererseits nicht, daß die fernmündliche (oder mündliche) Anhörung in bezug auf den Entziehungsbescheid zweckmäßig oder gar wünschenswert wäre; im Gegenteil, gerade die Rentenentziehung als eine gegenüber dem Versicherten sehr einschneidende, häufig auf einer Reihe von teilweise diffizilen Tatsachen beruhende Maßnahme legt es nahe, für die Anhörung die Schriftform zu wählen.

Gleichwohl ist das Anhörungsverfahren fehlerhaft gewesen. Dabei mag dahinstehen, ob und ggf. unter welchen Kriterien die in der Rentenakte der Beklagten vermerkte ausführliche Information "über die Rechtslage" die vom Gesetz geforderte Mitteilung der "für die Entscheidung erheblichen Tatsachen" miterfaßt. Wesentliches Merkmal der Gewährung des rechtlichen Gehörs im Verwaltungsverfahren ist jedenfalls, daß dem Beteiligten Gelegenheit gegeben wird, sich zu den rechtserheblichen Tatsachen zu äußern. Diese Gelegenheit erhält der Beteiligte nur dann, wenn ihm nach Bekanntgabe der Tatsachen eine angemessene Frist eingeräumt wird. Ihm muß genügend Zeit bleiben, sich mit der Sachlage vertraut zu machen und Überlegungen anzustellen; das schließt die Möglichkeit ein, sich mit einer mit dem Sozialrecht vertrauten Person zu beraten, u.U. auch seinen behandelnden Arzt hinzuzuziehen und sich erst dann gegenüber dem Rentenversicherungsträger zu äußern (vgl. BSG a.a.O. Nr. 12 S. 52, 54; VDR-Komm § 24 SGB X Rd.Nr. 10, Stand: 1. Juli 1981). Diese Gesichtspunkte sind insbesondere bei der telefonischen Information über die für die Rentenentziehung maßgebenden Tatsachen zu beachten. Eine telefonische Anhörung mit gleichzeitiger Rückäußerung durch den Versicherten erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 24 Abs. 1 SGB X (§ 34 Abs. 1 SGB I); sonst würde der Normzweck dieser Bestimmungen - Schutz des Beteiligten vor Überraschungsentscheidungen durch die Behörde - in sein Gegenteil verkehrt. Auch kann die in aller Regel unzureichende Sachkunde des Versicherten nochmalige Rückfragen beim Rentenversicherungsträger, möglicherweise auch die wiederholte Mitteilung der rechtserheblichen Tatsachen erforderlich machen. In diesem. Zusammenhang gewinnt die Einräumung einer angemessenen Äußerungsfrist sogar erhöhte Bedeutung.

Die Beklagte hat dem Kläger die sonach erforderliche Gelegenheit zur Äußerung im Rahmen einer angemessenen Überlegungsfrist nicht gewährt. Es fand dem Aktenvermerk zufolge Iediglich eine telefonische Unterredung statt, während derer der Kläger ausführlich über die Rechtslage informiert wurde. Dagegen fehlt es unter Zugrundelegung dieses Vermerks an der Einräumung einer angemessenen Äußerungsfrist. Dafür, daß gleichwohl eine solche Frist gewährt worden sei, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich. Weder hat die Beklagte schriftsätzlich hierzu etwas vorgetragen, noch enthält die Niederschrift über die Verhandlung vor dem LSG, als erstmals im Prozeß die Frage der Anhörung zur Sprache kam, etwas in dieser Richtung.

In diesem Zusammenhang bedarf es auch keiner weiteren gerichtlichen Sachaufklärung, so daß der Senat abschließend entscheiden kann und den Rechtsstreit nicht an die Tatsacheninstanz zurückzuverweisen braucht. Denn das Gericht muß nur dort den Sachverhalt näher erforschen, wo sich ihm aus Sachvortrag oder beigezogenen Unterlagen Aufklärungsmaßnahmen aufdrängen. Es ist dagegen nicht seine Aufgabe, auf dem Weg über den Untersuchungsgrundsatz das Anliegen der Beteiligten zu übernehmen sowie Tatsachen zu erforschen, welche die Beteiligten selbst nicht einmal vorgetragen haben (vgl. BSG SozR Nr. 3 zu § 103 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Das muß in besonderem Maße gelten, wenn es sich um Vorgänge handelt, die dem Pflichten- und Interessenbereich nur eines Beteiligten zuzurechnen sind. Die ordnungsgemäße Durchführung des Anhörungsverfahrens oblag der Beklagten. Daher wäre von ihr ein entsprechender Vortrag zu erwarten gewesen, wenn sie - über den Inhalt des Aktenvermerks hinaus - hätte behaupten wollen, dem Kläger sei eine Überlegungsfrist gewährt worden. Das ist nicht geschehen.

Der Kläger hat schließlich auch nicht etwa auf eine ordnungsgemäße Anhörung dadurch verzichtet, daß er den Entziehungsbescheid der Beklagten nicht mit dem Widerspruch, sondern unmittelbar mit der Klage angefochten hat. Es lag im Risikobereich der Beklagten, von welcher der beiden frei wählbaren Anfechtungsmöglichkeiten der Kläger Gebrauch machte (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 16. Januar 1979 - 5 RKnu 6/78 - SozR 1200 § 34 Nr. 6).

Da das Anhörungsverfahren der Beklagten mithin mangelhaft war, mußte der Entziehungsbescheid aufgehoben werden, ohne daß es darauf ankommt, ob die materiell-rechtlichen Voraussetzungen vorliegen oder nicht; der schwerwiegende Verfahrensmangel der unzulänglichen Anhörung rechtfertigt die Aufhebung des Bescheides allein (vgl. BSG, Urteil vom 28. Juli 1977 - 2 RU 31/77 - BSGE 44, 207, 215 =SozR 1200 § 34 Nr. 2; SozR a.a.O. Nr. 4; für das neue Recht: § 42 Satz 2 SGB X im Gegensatz zu § 46 VwVfG).

Die Revision der Beklagten war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.4 RJ 21/81

Bundessozialgericht

Verkündet am 31 März 1982

 

Fundstellen

Dokument-Index HI518328

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