Leitsatz (amtlich)

Zur Frage des Unfallversicherungsschutzes beim Beschaffen weißer Kittel für Verkäufer in einem Lebensmittelgeschäft, wenn das Tragen dieser Kleidung in dem Unternehmen üblich ist.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin zu 1) wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 20. Juni 1967 insoweit aufgehoben, als ihre Klage abgewiesen worden ist.

In diesem Umfang wird die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Detmold vom 11. Mai 1966 zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin zu 1) die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin zu 1) wurde am 19. Januar 1965 von einem Unfall betroffen. Sie ist in einem Einzelhandelsgeschäft, das von ihrem Ehemann und ihrem Sohn in R betrieben wird, als Verkäuferin tätig. In diesem Unternehmen sind meistens 10 Personen beschäftigt. Am Warenumsatz sind Lebensmittel mit 90 v.H., Glas- und Porzellanwaren mit 6 v.H., Tapeten und Farben mit 4. v.H. beteiligt. Der Klägerin zu 1) obliegt vornehmlich der Verkauf von Wurst, Feinkost und Milch sowie Molkereiprodukten. Alle Verkäufer und Verkäuferinnen des Geschäftes, zu denen auch eine Tochter der Klägerin zu 1) gehört, tragen weiße Arbeitskittel. Diese werden für die Inhaber des Geschäfts und deren Angehörige auf Geschäftskosten angeschafft und gereinigt. Die familienfremden Angestellten müssen dies auf eigene Kosten besorgen.

Am 19. Januar 1965 suchte die Klägerin zu 1) in B ein Kaufhaus auf, um für sich und ihr Tochter drei weiße Arbeitskittel zu erwerben. Zu dem Kauf kam es jedoch nicht, weil die Klägerin auf der Rolltreppe stürzte und sich einen Oberarmbruch zuzog, der stationäre Behandlung erforderlich machte. Die AOK W, die Klägerin zu 2), zahlte die Behandlungskosten.

Die Beklagte lehnte durch den an die Klägerin zu 1) gerichteten Bescheid vom 3. Juni 1965 die Gewährung einer Entschädigung mit folgender Begründung ab: Die weißen Kittel würden von den Verkäufern im Betrieb vorwiegend aus privaten Gründen, nämlich zur Schonung ihrer Alltagskleidung getragen. Die Arbeitskleidung stelle unter den im vorliegenden Fall gegebenen Umständen kein Arbeitsgerät i.S. des § 549 der Reichsversicherungsordnung (RVO) dar. Infolgedessen sei die Klägerin zu 1) nicht versichert gewesen, als sie unterwegs gewesen sei, um weiße Kittel einzukaufen.

Hiergegen haben die Unfallverletzte und die AOK für den Kreis W. Klage erhoben. Die AOK beansprucht ausschließlich Ersatz für die aufgewendeten Krankenbehandlungskosten. Sie ist der Ansicht, der innere Zusammenhang des Beschaffens der Arbeitskleidung mit der Betriebsarbeit sei auch im vorliegenden Falle gegeben; denn es sei in dem Lebensmittelgeschäft allgemein üblich, weiße Kittel zu tragen.

Die Klägerin zu 1) macht geltend: Es müßten bei der Behandlung der Lebensmittel von den Verkäufern weiße Kittel aus Gründen der Sauberkeit und Korrektheit der Kleidung getragen werden. Demzufolge sei das Beschaffen einer solchen Berufskleidung eine betriebliche Tätigkeit.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 3. Juni 1965 verurteilt, den Unfall der Klägerin zu 1) vom 19. Januar 1965 als Arbeitsunfall anzuerkennen und ihr die gesetzliche Entschädigung aus der Unfallversicherung zu gewähren und die Ersatzansprüche der Klägerin zu 2) in der gesetzlichen Höhe zu befriedigen.

Die Beklagte hat Berufung eingelegt.

Im Termin zur Berufungsverhandlung ist über Art und Umfang der Beschäftigung der Klägerin zu 1) in dem Geschäft ihrer Familie durch Vernehmung eines kaufmännischen Angestellten sowie einer Verkäuferin dieses Geschäftes Beweis erhoben und die Klägerin zu 1) gehört worden.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 20.Juni 1967 die beiden Klagen abgewiesen und zur Begründung u.a. ausgeführt: Der Einkauf der Arbeitskittel, den die Klägerin zu 1) im Zeitpunkt des Unfalls beabsichtigt habe, stelle keine ihren Versicherungsschutz begründende Tätigkeit dar. Die Arbeitskittel seien kein Arbeitsgerät i.S. des § 549 RVO, wenn sie auch von den Verkäufern im Lebensmittelhandel vielfach und in dem Geschäft üblicherweise getragen würden. Es sei nicht festzustellen, daß das Tragen weißer Kittel dort dem Schutz der Ware diene oder vorgeschrieben sei. Im Lebensmitteleinzelhandel bestehe keine gesetzliche Verpflichtung zum Tragen sog. Schutzkleidung, es sei denn, daß Frischfleisch oder Frischfisch geführt werde. Zwar sei es in Lebensmittelgeschäften schon aus Gründen der Konkurrenzfähigkeit üblich, daß die Verkäufer in weißen Kitteln arbeiten. Dies reiche jedoch nicht aus, um diese Kittel als Arbeitsgerät zu bewerten; denn für das adrette Auftreten der Verkäufer und Verkäuferinnen wären Friseur und sonstiges Äußeres von nicht minderer Bedeutung als die Kleidung.

Das Urteil ist am 20. Juli 1967 zugestellt worden.

Die Klägerin zu 1) hat gegen das Urteil am 21. Juli 1967 Revision eingelegt und sie am 6. September 1967 begründet. Es wird gerügt, das LSG habe § 549 RVO verletzt, indem es den Begriff "Arbeitsgerät" zu eng ausgelegt habe. Dazu wird u.a. vorgebracht: Es sei bindend festgestellt, daß der Lebensmittelverkauf den weit überwiegenden Teil des Geschäftsbetriebes der Klägerin zu 1) ausmache und das gesamte Verkaufspersonal weiße Kittel trage. Dies sei in der Lebensmittelbranche aus Gründen der Sauberkeit und Hygiene erforderlich und diene wesentlich betrieblichen Interessen. Außerdem seien die weißen Kittel als Schutzkleidung für die Ware Arbeitsgerät der Verkäufer.

Die Klägerin zu 1) beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie pflichtet im wesentlichen den Ausführungen des angefochtenen Urteils bei.

II

Das Berufungsurteil ist nur von der Klägerin zu 1) angefochten worden. Die Klägerin zu 2) ist nicht am Revisionsverfahren beteiligt, da sie lediglich ihren Ersatzanspruch nach § 1504 RVO und nicht auch den Leistungsanspruch der Verletzten aufgrund des § 1511 RVO verfolgt hat (vgl. BSG 24, 155, 157; Urteil des 2. Senats vom 31.10.1968 - 2 RU 72/66 -).

Die Revision der Klägerin zu 1) ist zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Die Entscheidung über den geltend gemachten Entschädigungsanspruch hängt davon ab, ob der zum Unfall führende Weg der Klägerin der versicherten Tätigkeit zuzurechnen ist, die sie als Verkäuferin in dem von ihrem Ehemann und ihrem Sohn betriebenen Einzelhandelsunternehmen ausübt. Das LSG hat diese Frage nach Auffassung des erkennenden Senats zu Unrecht verneint. Nach den in dem angefochtenen Urteil getroffenen tatsächlichen Feststellungen war die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls unterwegs, um weiße Kittel zu besorgen, die sie und ihre Tochter in ihrem familieneigenen, hauptsächlich mit dem Verkauf von Lebensmitteln befaßten Einzelhandelsgeschäft als Arbeitskleidung tragen wollten. Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei diesem Vorhaben der Klägerin um die Erneuerung von Arbeitsgerät i.S. des § 549 RVO handelte und der Versicherungsschutz der Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls aufgrund dieser Vorschrift gegeben war. Denn jedenfalls stand das Besorgen der weißen Kittel schon aus einem anderen Grund mit der versicherten Tätigkeit der Klägerin in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang.

In dem Lebensmittelgeschäft der Klägerin ist es nach den auch von der Beklagten nicht beanstandeten Feststellungen des LSG üblich, daß die Beschäftigten, vor allem das Verkaufspersonal, in weißen Kitteln arbeiten. Sie verfolgen damit zwar nicht zuletzt den Zweck, ihre Alltagskleidung zu schonen. Darüber hinaus dient das Tragen der weißen Kittel jedoch auch betrieblichen Belangen; denn durch diese Arbeitskleidung kann der Kundschaft in besonders eindrucksvoller Weise vor Augen geführt werden, daß in dem Geschäft eine saubere und hygienisch einwandfreie Handhabung der Ware gewährleistet ist. Erfahrungsgemäß entspricht es in der Lebensmittelbranche einer allgemeinen Übung, daß die mit der Ware umgehenden Personen weiße Kleidung (Mäntel, Kittel oder Schürzen) tragen, und gehört es zu dem vom Käufer erwarteten äußeren Erscheinungsbild der Geschäftsaufmachung, daß in weißer, sogar möglichst einheitlicher Kleidung bedient wird.

Aus diesen Gesichtspunkten ist nach Auffassung des erkennenden Senats die Annahme gerechtfertigt, daß weiße Arbeitskleidung in Lebensmittelgeschäften wesentlich im Betriebsinteresse getragen wird. Dies hat zwangsläufig zur Folge, daß, ebenso wie das Benutzen der Kleidung bei der Arbeit, auch die auf ihr Beschaffen gerichteten Tätigkeiten wesentlich betrieblichen Zwecken dienen. Da die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls unterwegs war, um weiße Kittel zu erwerben, die für sie und ihre Tochter als Arbeitskleidung in dem Lebensmittelgeschäft ihrer Familie bestimmt waren, ist in ihrem Vorhaben eine rechtlich wesentliche Verknüpfung des zum Unfall führenden Weges mit ihrer Betriebsarbeit zu erblicken. Der Unfall der Klägerin ist daher als Arbeitsunfall im Sinne des § 548 RVO zu werten.

Die erstinstanzliche Verurteilung der Beklagten zur Entschädigungsleistung an die Klägerin für die Folgen ihres Unfalls vom 19. Januar 1965 ist somit zu bestätigen. Das SG hat erkennbar ein Grundurteil nach § 130 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) erlassen. Die Voraussetzungen hierfür sind gegeben. Nach den Feststellungen des Berufungsurteils ist es wahrscheinlich, daß der geltend gemachte Leistungsanspruch in einer Mindesthöhe besteht (SozR Nr. 3 und 4 zu § 130 SGG). Deshalb war auf die Revision der Klägerin das Berufungsurteil insoweit aufzuheben, als es deren Klage abgewiesen hat, und die Berufung der Beklagten gegen das erstinstanzliche Urteil in diesem Umfang zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284851

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