Verfahrensgang

LSG für das Saarland (Urteil vom 23.10.1962)

SG für das Saarland (Urteil vom 20.09.1961)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 23. Oktober 1962 wird aufgehoben, soweit es über die Anschließung des Klägers an die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 20. September 1961 entschieden hat.

Im übrigen wird die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfallereignisses vom 17. November 1958. Streitig ist in erster Linie, ob ein im zeitlichen Anschluß an dieses Ereignis auf getretener Bandscheibenvorfall (Lendenwirbelsäule) mit teilweiser Hebelähmung links rechtlich wesentlich durch das Unfallereignis verursacht ist.

Aus dem angefochtenen Urteil des Landessozialgerichts (LSG) ergibt sich folgender Sachverhalt:

Der Kläger ist im Eisenbahnbetrieb der Burbacher Hütte als Fahrdienstleiter beschäftigt. Am 15. Dezember 1958 machte er Entschädigungsansprüche geltend, weil er sich am 17. November 1958 beim Abspringen von einer Lokomotive das Kreuz verrenkt habe, indem er zuerst auf einen, Schutthaufen getreten und anschließend mit dem ganzen Körper nach vorne gefallen sei. Nach diesem Ereignis verspürte er Schmerzen im Kreuz, arbeitete jedoch weiter, nachdem er sich in der Verbandsstube ein schmerzstillendes Mittel hatte verabreichen lassen. Als die Rückenbeschwerden sich nicht besserten und der Kläger nach ein paar Tagen den linken Fuß nicht mehr heben und nur auf den linken Vorfuß auftreten konnte, begab er sich in die Behandlung des Dr. Sch… Saarbrücken. Dieser vermerkte in einem Krankheitsbericht vom 23. Dezember 1958, daß der Kläger nach seinen ihm gegenüber gemachten Angaben beim Abspringen von einer Maschine mit der linken Ferse auf einen Stein auf getreten sei.

Der Facharzt für Nerven- und Geisteskrankheiten Dr.M., Saarbrücken, stellte anläßlich einer Untersuchung am 4. Dezember 1958 eine Lähmung des linken Wadennerven fest. In einem Krankheitsbericht vom 2. Mai 1959 wies Dr. M. auf röntgenologisch festgestellte Veränderungen an der Wirbelsäule hin und bejahte die Frage, ob nach dem. Befund eine spontane Entstehung wahrscheinlich oder möglich sei Wegen des Röntgenbefundes überwies er den Kläger an den Facharzt für Orthopädie Prof. Dr.G. Dieser diagnostizierte einen Bandscheibenschaden der Lendenwirbelsäule mit teilweiser Hebelähmung links und erklärte in einem Krankheitsbericht vom 23. Dezember 1958, daß der Bandscheibenschaden sicherlich spontan entstanden, in diesem latenten Schaden jedoch durch den Unfall eine richtunggebende Verschlimmerung eingetreten sei.

Eine Auskunft der Kreisversicherungsanstalt Saarbrücken-Stadt – Zweigstelle Burbach – vom 19. Dezember 1958 ergab, daß der Kläger von 1946 bis zu dem Ereignis vom 17. November 1958 lediglich an einer Magenblutung und an einer Ulcusduodeni-Blutung erkrankt war.

Der Facharzt für Röntgen- und Lichtheilkunde Dr.B. gelangte in seinem Gutachten vom 17. September 1959 zu dem Ergebnis, der Kläger leide an einer Bandscheibendegeneration, die nicht durch den Unfall verursacht worden sei, sondern schon seit langem bestehe, wie sich aus einer Röntgenaufnahme vom 16. Januar 1951 ergebe, die anläßlich einer Röntgenuntersuchung des Magens gemacht worden sei. Es sei anzunehmen, daß bei dem Ereignis vom 17. November 1958 ein Bandscheibenvorfall eingetreten sei, der zu einer Kompression der 5. Lendenwurzel des linken Beinnerven geführt habe und so die Lähmung des linken Fußhebenerven bewirke; trotz der bestehenden Bandscheibendegeneration sei der Kläger offensichtlich bis zum 17. November 1958 beschwerdefrei gewesen; dem angeschuldigten Unfallereignis müsse daher die Bedeutung einer Einwirkung im Sinne einer vorübergehenden Verschlimmerung des bestehenden Wirbelsäulenleidens zuerkannt werden; die Dauer der Einwirkung sei zunächst – vorbehaltlich einer Nachuntersuchung – auf etwa 2 Jahre zu begrenzen, wobei die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 v.H. zu schätzen sei. Prof. Dr. S. der Direktor des Strahleninstituts der Universitätsklinik Homburg und sein Assistenzarzt Dr.H. kamen in dem von ihnen erstatteten Gutachten vom 30. November 1959 zu dem Ergebnis, daß die bei dem Kläger bestehenden Wirbelsäulenleiden, nämlich eine Spondylochondrose und ein Übergangswirbel mit vorzeitiger Abnutzung der entsprechenden Bandscheiben und Bandscheibenvorfall, mit dem angeschuldigten Unfallereignis nicht in ursächlichem Zusammenhang stünden. In der Begründung, die ebenfalls auf das Vorliegen von Abnutzungserscheinungen bereits vor dem angeschuldigten Unfallereignis hinweist, wird außerdem folgendes ausgeführt; Nach einem Aufsatz von Jantke in Schöneberg „Die ärztliche Beurteilung Beschädigter” würden alltägliche Vorkommnisse (Anheben von Lasten mit und ohne Hilfe, plötzliche Körperbewegungen usw.) ursächlich für einen Bandscheibenvorfall angeschuldigt; selbst wenn der Vorfall dabei zum ersten Male in Erscheinung getreten sei, seien die Ereignisse nur als Gelegenheitsursachen zu werten, die den Bandscheibenvorfall ausgelöst hätten. In dem vorliegenden Fall sei die Gewalteinwirkung bei dem Unfall nach der Schilderung des Unfallhergangs so gering gewesen, daß der Unfall als alltägliches Vorkommnis angesehen werden müsse und nach dem deutschen Versicherungsrecht nicht als Unfall gewertet werden könne.

Die damals für die Entschädigung zuständige Landesversicherungsanstalt für das Saarland (LVA), Abteilung Allgemeine Arbeitsunfallversicherung, lehnte den Entschädigungsanspruch des Klägers durch Bescheid vom 8. Januar 1960 unter Bezugnahme auf das von Prof. Dr.S. erstattete Gutachten ab.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) für das Saarland erhoben mit dem Antrag, die LVA zur Gewährung einer Rente, hilfsweise zur Anerkennung einer richtunggebenden Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens zu verurteilen. In tatsächlicher Beziehung hat der Kläger angegeben, der Sturz habe sich beim Abspringen von der stehenden Lokomotive ereignet und er habe sich sofort zur Werksverbandsstation begeben, wo ihm schmerzstillende Tabletten gegeben worden seien; trotzdem habe er nur unter größter Anstrengung seinen Bürodienst beenden können.

Während des Klageverfahrens ist die Süddeutsche Eisen- und Stahl-BG auf Grund des Gesetzes zur Neuordnung der Soaialversicherungsträger im Saarland vom 28. März 1960 als Beklagte anstelle der LVA in das Verfahren eingetreten.

Das SG hat im Termin vom 20. September 1961 Dr. med.G. als ärztlichen Sachverständigen gehört. Dieser hat sich den Gutachten von Prof. Dr.G. und Dr.B. angeschlossen und eine vorübergehende Verschlimmerung angenommen 9 deren Dauer allerdings auf nicht länger als 4 Monate beschränkt sei. Der Sachverständige hat ausdrücklich erklärt, daß er die Einholung eines weiteren Gutachtens nicht für erforderlich halte. Der Kläger hat in diesem Termin beantragt, ihm eine Rente von 2. v.H. für 2 Jahre zu gewähren.

Das SG hat durch Urteil vom 20. September 1961 unter Aufhebung des Bescheides die Beklagte verurteilt, das Unfallereignis als vorübergehende Verschlimmerung eines anlagebedingten Leidens anzuerkennen und dem Kläger nach Wegfall des Krankengeldes eine Rente von 2. v.H. für 4 Monate zu gewähren. Zur Begründung hat das SG ua ausgeführt: Es könne die Auffassung der Beklagten nicht teilen, daß das Unfallereignis nur als Gelegenheitsursache für das Inerscheinungtreten des Leidens anzusehen sei. Bei dem Alter des Klägers von 56 Jahren könnten beim Hinfallen leicht Schäden entstehen, und es sei zu berücksichtigen, daß der Kläger vor dem Unfall wegen seines bereits vorhandenen Bandscheibenschadens niemals krank gefeiert habe. Das Gericht sei der Auffassung, daß er ohne das Unfallereignis noch eine Zeit beschwerdefrei geblieben wäre. Die Rechtsmittelbelehrung des Urteils lautet: „Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig”.

Nach der Niederschrift über die mündliche Verhandlung ist jedoch verkündet worden; „Die Berufung wird zugelassen”.

Gegen das Urteil des SG hat die Beklagte Berufung beim LSG für das Saarland eingelegt. Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 18. Juli 1962 hat der Kläger zum Unfallhergang folgendes angegeben: „Am 17. November 1958 stieg ich als Fahrdienstleiter von der stehenden Lokomotive ab. Da eine andere Lokomotive mir entgegen kam, mußte ich mich während des Absteigens umdrehen. Ich kam dabei zu Fall, und zwar derart daß ich mit den Händen über einen Schutthaufen fiel. Meines Erachtens wurde dadurch mein Kreuz nach innen eingedrückt. Ich bin der Auffassung, daß dies eine starke Einwirkung verursacht hat. Ich verspürte sofort starke Schmerzen und ging zur Verbandsstation. Dort bekam ich schmerzstillende Tabletten. Ich arbeitete weiter. Nach einigen Tagen ging ich zu Dr. Sch…, der mich zu dem Nervenarzt Dr. M. überwies. Später bin ich dann zu Dr.G. gegangen. Auf Vorhalt: Mir wurde meine Erklärung in dem Krankheitsbericht von Dr. Sch… vom 23. Dezember 1958 vorgelesen, wonach ich über den Unfallhergang nur erklärt habe, daß ich beim Springen von der Maschine mit der linken Ferse auf einen Stein aufgeschlagen bin. Diese Erklärung widerspricht nicht meiner heutigen Darstellung. Es war uneben und ich glaubte, daß der Aufschlag mit der Ferse das Wesentliche des Unfallherganges gewesen sei. Möglicherweise hat auch Dr. Sch… meine Erklärung über den Unfallvorgang nicht vollständig aufgenommen.”

Im Termin vom 23. Oktober 1962 hat das LSG den Lokomotivführer Oskar P. als Zeuge vernommen und den Facharzt für Orthopädie Prof. Dr.G., dem zur Vorbereitung seines Gutachtens die Akten am 11. Oktober 1962 zugesandt worden waren, als Sachverständigen gehört.

Der Sachverständige hat u.a. zur Frage der Größe der einwirkenden Gewalt ausgeführt; Dem geschilderten Ereignis käme die Bedeutung einer wesentlichen Teilursache zu, wenn die Krafteinwirkung auf die Bandscheibe das übliche Maß der Alltagsbelastung wesentlich, d. h. um das Doppelte oder Mehrfache überschritten hätte. Das entscheidende bei dieser Frage sei die Geschwindigkeit, mit der die Abfallbewegung oder Auffangbewegung beim Sturz ausgeführt worden sei. Wenn man die Belastung der Bandscheibe von T. im Stehen mit rund 70 kg (Körpergewicht minus Gewicht der Beine und des Beckens) annehmen dürfe, betrage die Belastung bei einer schnellen Fluchtbewegung das 5- bis 10-fache, das bedeute eine jähe Krafteinwirkung auf die Bandscheibe von 3.500 kg. Es dürfe als erwiesen angesehen werden, daß eine Kraft auf die Bandscheibe eingewirkt habe, die das Maß der Belastung im Alltag der Arbeit von T. ganz erheblich überschritten habe. Der Sachverständige hat daraus gefolgert, daß das Unfallereignis vom 17. November 1958 eine wesentliche Teilursache im Krankheitsgeschehen darstelle. Es sei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß ohne dieses Ereignis die Bandscheibe noch auf absehbare Zeit hin weiterhin belastungsfähig geblieben wäre.

Über die Anträge in dieser mündlichen Verhandlung enthält die Niederschrift folgendes: „Der Vertreter des Klägers (Berufungsbeklagten) beantragte, die Berufung aus den Gründen der angefochtenen Entscheidung zurückzuweisen. Auf Grund der Ausführungen des Sachverständigen Prof.G. legte er Anschlußberufung ein und stellte weiterhin den Antrag, das Urteil des SG für das Saarland vom 20. September 191 dahingehend abzuändern, daß dem Kläger die zuerkannte Rente von 20 v.H. auch über den in dem Urteil des SG genannten Zeitpunkt hinaus gewährt wird.

Hierauf beantragte der Vertreter der Beklagten (Berufungsklägerin), die Anschlußberufung als unzulässig, hilfsweise als unbegründet, zurückzuweisen.

Das LSG hat durch Urteil vom 23. Oktober 1962 die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers das Urteil des SG dahingehend geändert, daß die dem Kläger zuerkannte Rente von 20 v.H. über den in diesem Urteil genannten Zeitpunkt hinaus gewährt wird. Die Revision hat das LSG zugelassen.

Das LSG hat die Anschlußberufung für zulässig gehalten. Es ist der Auffassung, der Zulässigkeit stehe auch nicht entgegen, daß die Anschließung nicht durch einen besonderen Schriftsatz oder, wie geschehen, zu Protokoll des Urkundsbeamten erklärt worden sei; denn an die Formerfordernisse der unselbständigen Anschlußberufung könnten keine strengeren Anforderungen gestellt werden als an die Berufung selbst. Im übrigen hat das LSG zur Begründung des Urteils u. a. folgendes ausgeführt. Durch den Zeugen P. sei die Darstellung des Klägers über den Unfallhergang bestätigt worden, daß der Kläger im Gegensatz zu dem Vermerk des Dr. Sch… beim Hinabsteigen von der Lokomotive zu Fall gekommen und nach vorn gestürzt sei. Er sei kurze Zeit liegengeblieben und dann weggehinkt. Die Gutachter seien mithin von einem richtigen Sachverhalt ausgegangen. Die Gutachten stimmten darüber überein, daß nach dem Unfallereignis ein Bandscheibenvorfall aufgetreten sei, der die jetzt noch bestehende Hebelähmung links verursache. Im allgemeinen werde die Auffassung vertreten, daß es sich bei einem Bandscheibenvorfall um ein Krankheitsbild auf dem Boden degenerativer Veränderungen handele, das zu seiner Entwicklung mehrere Jahre benötige und in der Regel von selbst und gelegentlich bei einem geringen Anlaß auftrete. Der Kläger habe mindestens seit einigen Jahren an einer Bandscheibendegeneration gelitten.

Die Röntgenaufnahme vom 16. Januar 951 habe bereits in demselben Umfang Veränderungen auf gewiesen wie der Röntgenbefund nach dem Ereignis durch Dr.B. Das Bandscheibenleiden einschließlich des Bandscheibenvorfalls sei somit nicht durch das Unfallereignis entstanden. Infrage stehe nur, ob das Leiden durch das Unfallereignis wesentlich verschlimmert worden sei und der Vorfall wesentlich früher oder in wesentlich größerem Umfang eingetreten sei als bei normaler Entwicklung. Das sei nach der Auffassung des Senats zu bejahen. In dem Gutachten von Prof. Dr. S. werde lediglich auf eine allgemeine Ansicht verwiesen. Die Auffassung dieses Gutachters, daß die Gewalteinwirkung gering gewesen sei, gehe fehl. Dr. B. habe hervorgehoben 9 daß der Kläger trotz der Bandscheibendegeneration bis zum Unfallereignis beschwerdefrei gewesen sei, und nehme eine vorübergehende Verschlimmerung an. Auch Prof. Dr. G. halte eine unfallbedingte Verschlimmerung für gegeben. Sie ergebe sich nach der Auffassung des Senats aus dem Gesichtspunkt, daß die Veränderungen von 1951 bis zum Unfallereignis stationär geblieben seien und daß nach der Ansicht von Prof. G. der Kläger ohne das Unfallereignis auf absehbare Zeit beschwerdefrei geblieben wäre. Der andere Gesichtspunkt sei die Größenordnung der einwirkenden Gewalt. Das Fehlen von Beschwerden könne allerdings auch gegeben sein, wenn sich die Degeneration bei einer belanglosen Gelegenheit erstmals bemerkbar mache. Wichtiger sei, daß die degenerativen Veränderungen in den 7 Jahren vor dem Unfallereignis stationär geblieben seien. Das spreche dagegen, daß der Vorfall das Endstadium einer schicksalsmäßigen Entwicklung sei. Das Unfallereignis sei auch kein alltägliches Vorkommnis gewesen. Die durch Reflexe bedingten Abwehrbewegungen hätten nach den Ausführungen von Prof. Dr. G. eine jähe Krafteinwirkung auf die Bandscheibe in einer Größenordnung von 3500 kg bedeutet 9 während die Belastung der Bandscheibe im Stehen nur rund 70 kg betrage. Es handele sich also um eine Krafteinwirkung, die das normale Maß um das Vielfache übersteige. Es sei durchaus verständlich, daß hierdurch ein Bandscheibenriß bewirkt worden sei, von dem der Kläger ohne den Sturz und die Reflexbewegungen unter normalen Lebensansprüchen noch längere Zeit bewahrt geblieben wäre. Die Auffassung des Sachverständigen Dr. G. werde auch von anderen medizinischen Autoritäten des chirurgischen und orthopädischen Fachgebietes vertreten. Es gebe keine völlig einheitliche Meinung. Da Prof. Dr. G. die MdE auch über die vom SG anerkannten 4 Monate hinaus auf 20 v.H. schätze und die Unfallfolgen als Dauerschaden bezeichne, sei das angefochtene Urteil, soweit es den ursächlichen Zusammenhang bejaht und eine MdE von 20 v.H. für 4 Monate zugrunde gelegt habe, zu bestätigen und im übrigen auf die Anschlußberufung des Klägers dahin zu ändern, daß die dem Kläger zuerkannte Rente von 20 v.H. über den im Urteil genannten Zeitpunkt hinaus weitergewährt werde.

Das Urteil des LSG ist der Beklagten am 25. März 1963 zugestellt worden.

Die Beklagte hat durch ein am 8. April 1963 eingegangenes Telegramm sowie durch Schriftsatz vom 11. April 1939, der am 18. April 1963 eingegangen ist, Revision eingelegt und die Revision am 4. Mai 1963 und 24. Mai 1963 begründet. Sie beantragt: Unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Anschlußberufung als unzulässig zu verwerfen sowie unter Aufhebung des Urteils des SG die Klage abzuweisen. Hilfsweise beantragt sie, das angefochtene Urteil dahin zu ändern, daß die Anschlußberufung als unzulässig verworfen wird, und im übrigen das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen. Vorsorglich beantragt sie außerdem, das angefochtene Urteil schlechthin aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

In tatsächlicher Beziehung hat die Beklagte vorgetragen, daß der Kläger wegen der Folgen des Unfallereignisses vom 17. November 1958 nicht arbeitsunfähig gewesen sei und auch kein Krankengeld erhalten habe. Sie hat zum Nachweis die Ablichtung eines Schreibens der AOK für das Saarland 9 Zweigstelle Burbach, vom 25. April 1963 vorgelegt.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Zu dem tatsächlichen Vorbringen der Beklagten hat er ausgeführt, Dr. Sch… habe dem Kläger zwar nahegelegt, sich krank schreiben zu lassen, dieser habe jedoch als pflichtbewußter Arbeitnehmer hiervon nichts wissen wollen, sondern habe seine Arbeit fortgesetzt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist durch Zulassung statthaft und form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Sie ist zulässig.

Die Revision ist jedoch unbegründet, soweit sie die Entscheidung des LSG über die Berufung der Beklagten betrifft.

Die Revision rügt ua, das LSG habe den Ursachen-Begriff der rechtlich wesentlichen Ursache unrichtig angewandt. Diese Rüge ist unbegründet. Das LSG hat nicht verkannt, daß die Auswirkungen des Unfallereignisses vom 17. November 1958 die im zeitlichen Anschluß an das Unfallereignis auf getretenen Gesundheitsstörungen (Bandscheibenvorfall) nicht als alleinige Ursache herbeigeführt haben, sondern daß diese Gesundheitsstörungen nur deshalb eintreten konnten, weil beim Kläger bereits erhebliche Veränderungen der Bandscheiben bestanden. Es hat für die rechtliche Wertung der Auswirkungen des Unfallereignisses zutreffend darauf abgestellt, ob die Veränderungen der Bandscheiben bereits soweit fortgeschritten waren, daß jederzeit auch durch ein belangloses Ereignis ein Bandscheibenvorfall herbeigeführt werden konnte. Es hat diese Frage verneint und ausdrücklich als seine Auffassung festgestellt, daß der Kläger ohne die Auswirkung des Unfallereignisses voraussichtlich noch längere Zeit von einem Bandscheibenriß verschont geblieben wäre (vgl. zu den Begriffen der „Auslösung” und der „Gelegenheitsursache”; Martinek in Breithaupt 1950 S. 1152, den Beschluß des erkennenden Senats vom 31. Januar 1958, MdR 1958, 281, das Urteil des erkennenden Senats vom 26. April 1962, veröffentlicht in „Die Berufsgenossenschaft” 1963 S. 213 sowie für die Kriegsopferversorgung BSG S. 87).

Auch die Rüge der Revision ist unbegründet, das LSG habe sich über anerkannte Lehrmeinungen der medizinischen Wissenschaft hinweggesetzt. Das LSG hat sich mit den verschiedenen ärztlichen Auffassungen hinsichtlich des ursächlichen Zusammenhangs zwischen einem Unfallereignis und einem Bandscheibenvorfall eingehend auseinandergesetzt und insbesondere unter Bezugnahme auf das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. G. näher dargelegt 9 aus welchen Gründen es hier einen Ausnahmefall für gegeben angesehen hat.

Infolgedessen kommt es darauf an, ob die tatsächlichen Feststellungen, auf denen die rechtlichen Schlußfolgerungen des LSG beruhen, von der Revision mit begründeten Revisionsrügen wirksam angefochten sind (vgl. 163 SGG).

Die Revision greift die Feststellungen des LSG hinsichtlich des Unfallhergangs mit Rügen an und ist ua der Auffassung, daß der Sturz sich nicht beim Absprung, sondern beim Gehen auf ebener Erde ereignet habe. Diese Rügen sind nicht begründet. Das LSG hat sich mit den Widersprüchen zwischen der Darstellung des Klägers im Termin vom 18. Juli 192 und den Angaben in verschiedenen Gutachten und ärztlichen Berichten eingehend auseinandergesetzt und die gesetzlichen Grenzen des Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung dadurch nicht überschritten, daß es die durch die Angaben des Zeugen P. weitgehend gestützte Darstellung des Klägers seinen rechtlichen Schlußfolgerungen zugrunde gelegt hat. Auch der Hinweis der Revision, daß nicht klargestellt sei, ob sich der Unfall bei Dunkelheit oder, wie der Zeuge P. angegeben hat, „gegen Abend in der Dämmerung” ereignet habe, ist nicht geeignet, die Tatsachengrundlage des angefochtenen Urteils zu erschüttern. Dagegen weist die Revision an sich mit Recht darauf hin, daß die Niederschrift über das Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr.G. insofern einen offensichtlichen Fehler enthält als das „5- bis 10-fache” von 70 kg nicht 3500 kg ergibt 9 sondern nur 350 kg. Die Niederschrift über das vom Sachverständigen erstattete Gutachten läßt jedoch unmißbräuchlich erkennen daß es sich hierbei um einen offensichtlichen Irrtum handelt, der für Schlußfolgerungen des Sachverständigen ohne ausschlaggebende Bedeutung ist. Infolgedessen wird die Pest Stellung des LSG, die Belastung durch die Reflexbewegung bei dem Sturz habe das Maß der alltäglichen Belastung um ein Vielfaches überstiegen, nicht dadurch infrage gestellt, daß das LSG aus der Niederschrift die auf einem offensichtlichen Rechenfehler beruhende Zahl 3500 kg in das Urteil übernommen hat.

Die Revision ist somit unbegründet, soweit sie sich dagegen wendet, daß das LSG das Unfallereignis als eine rechtlich wesentliche Ursache der im zeitlichen Anschluß daran aufgetretenen Gesundheitsstörungen angesehen hat.

Allerdings weist die Revision mit Recht darauf hin, daß die vom SG ausgesprochene Verurteilung insofern auf unzureichenden Tatsachenfeststellungen beruht, als das SG zwar die Dauer des Rentenbezuges für die nach seiner Auffassung nur vorübergehende Verschlimmerung des Bandscheibenschadens auf 4 Monate begrenzt, jedoch weder den Beginn der Zahlung einer Rente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente noch das Ende der Rentenzahlungen selbst festgestellt hat. Insbesondere fehlt es, wie die Revision zutreffend gerügt hat, auch im Urteil des LSG an einer Feststellung darüber, ob überhaupt und wie lange der Kläger Krankengeld bezogen hat. Dieser Fehler hat möglicherweise eine Benachteiligung des Klägers zur Folge, weil die Vermutung naheliegt, das SG sei davon ausgegangen, daß der Kläger eine Zeitlang Krankengeld bezogen habe, und habe deshalb den 4-Monats-Zeitraum für den Rentenbezug erst an den Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit anschließen lassen wollen. Die Beklagte ist jedoch durch diesen Fehler nicht beschwert. Sie ist durch die Zurückweisung der Berufung gegen das Urteil des SG lediglich gebunden, dem Kläger für 4 Monate eine Rente von 20 v.H. der Vollrente zu gewähren, und kann in dem Ausführungsbescheid nunmehr den Beginn dieser Rentenzahlungen selbst feststellen.

Die Revision der Beklagten ist deshalb insoweit unbegründet, als das LSG die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG vom 20. September 1961 zurückgewiesen hat. Sie war insoweit zurückzuweisen.

Dagegen rügt die Beklagte auch nach der Auffassung des erkennenden Senats mit Recht, daß das LSG auf Grund der Anschließung des Klägers an die Berufung der Beklagten das Urteil des SG zugunsten des Klägers geändert und die Beklagte – über die im Urteil des SG ausgesprochene Verurteilung hinaus – verurteilt hat, die vom SG nur für die Dauer von vier Monaten zugesprochene Rente in Höhe von 20 v.H. der Vollrente auf unbeschränkte Zeit zu gewähren.

Der Kläger hat sich der Berufung der Beklagten erst im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG am 23. Oktober 1962 angeschlossen, als er nach der Erstattung des Gutachtens des Sachverständigen Dr. G. mit der Möglichkeit rechnen konnte, eine Rente auf unbegrenzte Zeit zugesprochen zu erhalten. Wie sich aus der Niederschrift über die Verhandlung ergibt, ist die Anschließung durch mündlichen Vortrag des Prozeßbevollmächtigten des Klägers erklärt worden, ein die Anschließungserklärung enthaltender Schriftsatz ist nicht eingereicht worden.

Im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit ist zwar auch nach Ablauf der Rechtsmittelfrist eine – unselbständige – Anschließung an das Rechtsmittel des Gegners zulässig, die durch einen angriffsweise wirkenden Antrag dem Gericht ermöglicht, ohne Einschränkung durch das Verbot der reformatio in peius über den gesamten Streitstoff zu entscheiden. Im einzelnen wird hierzu auf das Urteil des 4. Senats vom 1. März 1956 (BSG 2, 229) verwiesen.

Mangels einer ausdrücklichen Regelung im Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind auf eine Anschließung an die Berufung des Gegners nach § 202 SGG die §§ 521 bis 522 a der Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechend anzuwenden. Der 4. Senat hat daraus die Schlußfolgerung gezogen, daß die Anschließung nach § 522 a ZPO grundsätzlich durch Einreichung einer Berufungsanschlußschrift erfolgen müsse. Er hat offengelassen, ob im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, in dem abweichend von § 518 ZPO neben der Einlegung der Berufung durch Einreichung einer Berufungsschrift die Einlegung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle (§ 151 SGG) zulässig ist, die letztere Form auch für die Erklärung der Anschliessung gewählt werden kann. Er hat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß dieses besonders geregelte förmliche Verfahren nicht durch eine bloße, wenn auch in die Niederschrift aufgenommene Erklärung in der mündlichen Verhandlung ersetzt werden kann (vgl. auch BSG 7, 3, 8; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der SGb, Anm. 18 zu § 143 SGG; für den Zivilprozeß BGHZ 33, 169, 173).

Im Urteil des 1. Senats vom 30. Oktober 1957 (SozR Nr. 1 zu § 1444 aF RVO) auf das sich das LSG berufen hat, ist zwar näher ausgeführt, daß im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit für die Anschließung an die Berufung des Gegners keine strengeren Vorschriften gelten als für die Einlegung der Berufung selbst; in dem vom 1. Senat zu entscheidenden Fall war jedoch die Anschließung schriftlich er klärt worden, der Schriftsatz enthielt aber weder einen Antrag noch eine Begründung.

Die Auffassung des 4. Senats hat verschiedentlich Kritik gefunden (vgl. zB Kubisch NJW 1957, 320; Wende KOV 1937, 121). Der 9. Senat hat im Urteil vom 15. Juli 1959 (SozR Nr. 3 zu § 522 a ZPO) auch gegenüber diesen Einwendungen an der Auffassung festgehalten, daß weder die Schriftform noch die Form der Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle dadurch ersetzt werden kann, daß eine in der mündlichen Verhandlung abgegebene Erklärung in die Niederschrift über die Verhandlung aufgenommen wird. In dem Urteil sind die Gründe für die Zweckmäßigkeit der Schriftform hervorgehoben und ist darauf hingewiesen, daß die Überprüfung des Inhalts einer Verhandlungsniederschrift, soweit derartige Parteierklärungen und Anträge in Frage stehen, nicht durch einen Zwang zum Verlesen des Niedergeschriebenen gesichert ist (vgl. § 122 Abs. 2 SGG), andererseits aber die Beweiskraft der Niederschrift (vgl. § 164 ZPO) die nachträgliche Berichtigung von Unklarheiten oder Irrtümern erschwert.

Der erkennende Senat schließt sich der Auffassung des 4. und 9. Senats an, daß eine nur durch mündlichen Vortrag in der Verhandlung vor dem Berufungsgericht erklärte Anschliessung des Berufungsbeklagten an die Berufung nicht rechtswirksam ist.

Das LSG hat hiernach zu Unrecht die Anschließung des Klägers an die Berufung der Beklagten als rechtswirksam angesehen und sich für berechtigt gehalten, das nur von der Beklagten mit der Berufung angefochtene Urteil des SG durch eine weitergehende Verurteilung zugunsten des Klägers zu ändern.

Auf die insoweit begründete Revision der Beklagten mußte deshalb das Urteil des LSG aufgehoben werden, soweit es über die Anschließung des Klägers an die Berufung der Beklagten entschieden hat.

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Dr. Kaiser, Demiani

 

Fundstellen

DVBl. 1968, 352

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