Leitsatz (amtlich)

1. Die Vorschriften der ZPO §§ 521 - 522a über die Anschließung des Berufungsbeklagten an die Berufung finden auf das Verfahren nach dem SGG entsprechende Anwendung, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht im einzelnen ausschließen.

2. Die Anschließung des Berufungsbeklagten an die Berufung kann rechtswirksam nicht durch Vortrag in der mündlichen Verhandlung erfolgen.

3.Wenn das LSG über eine nicht formgerecht eingelegte Anschließung an die Berufung sachlich entscheidet, anstatt sie als unzulässig zu verwerfen, leidet das Verfahren an einem wesentlichen Mangel.

 

Leitsatz (redaktionell)

Die bei den Beratungen eines Gesetzentwurfes zum Ausdruck gekommenen Ansichten können nur insoweit von Bedeutung sein, als sie in dem Gesetz einen - wenn auch vielleicht nur unvollkommenen - Ausdruck gefunden haben.

 

Normenkette

ZPO §§ 521-522, 522a; SGG § 158 Fassung: 1953-09-03, § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03, § 202 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts ... vom 28. Oktober 1954 wird mit den ihm zugrundeliegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht ... zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Die 1890 geborene, bis 1945 in ..., jetzt in ... wohnhafte Klägerin beantragte am 10. November 1950 bei der Beklagten die Gewährung der Invalidenrente. Ursprungsversicherungsanstalt war für sie die Landesversicherungsanstalt (LVA.) .... Sie gab an, daß sie von 1904 bis 1918, von 1921 bis 1929 und von 1945 bis 1948 Pflichtbeiträge sowie von 1933 bis 1944 und von 1949 bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres freiwillige Beiträge zur Angestelltenversicherung, Invalidenversicherung bzw. zur einheitlichen Berliner Versicherung entrichtet habe. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 8. Januar 1952 mit der Begründung ab, daß die Anwartschaft aus den vor 1918 entrichteten Beiträgen erloschen sei, weil für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 31. März 1945 eine Beitragsleistung nicht glaubhaft nachzuweisen sei (§ 54 BSVAG) und eine neue Wartezeit seit 1945 nicht erfüllt sei, weil nur 41 anrechnungsfähige Beiträge entrichtet worden seien. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin Einspruch ein, der durch den Beschwerdeausschuß der Beklagten mit im wesentlichen gleicher Begründung zurückgewiesen wurde.

Auf die hiergegen eingelegte Beschwerde der Klägerin entschied der Bezirksberufungsausschuß des Sozialversicherungsamts ... wie folgt: "Unter Aufhebung der Entscheidung des Beschwerdeausschusses der Beschwerdegegnerin vom 4. September 1952 wird die Beschwerdegegnerin verurteilt, die Wartezeit von 60 Beitragsmonaten als erfüllt anzusehen". Der Bezirksberufungsausschuß sah auf Grund der von der Klägerin entrichteten Beiträge die Wartezeit von 60 Monaten als erfüllt an; dagegen sah er nicht als erwiesen an, daß die für die Altersinvalidenrente erforderliche Wartezeit von 180 Beitragsmonaten erfüllt sei. Er ging davon aus, daß die Anwartschaft aus den bis 1918 geleisteten Beiträgen durch die in der Zeit vom 1. Januar 1929 bis zum 31. März 1945 geleisteten Beiträge aufrechterhalten sei.

Gegen diese Entscheidung legte die Beklagte weitere Beschwerde ein, die nach § 218 Abs. 6 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Berufung auf das Landessozialgericht (LSGer.) ... überging. In der letzten mündlichen Verhandlung gab die Klägerin mündlich die Erklärung ab, daß sie sich der Berufung der Beklagten anschließe. Das LSGer. hob durch Urteil vom 28. Oktober 1954 das Urteil des Bezirksberufungsausschusses des früheren Sozialversicherungsamts ... vom 4. September 1952 und den Bescheid der früheren Versicherungsanstalt ... vom 8. Januar 1952 auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin vom 1. Dezember 1950 an die Altersinvalidenrente zu gewähren. Es sah nicht nur die Wartezeit von 60 Monaten, sondern auch die Wartezeit von 180 Monaten als erfüllt und die Anwartschaft als erhalten an. Es hat die Revision nicht zugelassen. Das Urteil wurde der Beklagten am 22. November 1954 zugestellt.

Die Beklagte legte mit Schriftsatz vom 18. Dezember 1954 gegen dieses Urteil - unter Stellung eines Revisionsantrages - am 20. Dezember 1954 Revision ein und begründete zugleich die Revision. Sie rügt das Vorliegen wesentlicher Verfahrensmängel:

Das LSGer. habe nur ein Grundurteil erlassen, obwohl es ohne weiteres auch über die Höhe der Rente habe entscheiden können; auch habe es das Urteil weder im Rubrum noch im Tenor noch in den Gründen als Grundurteil bezeichnet; außerdem habe es den Beteiligten nicht vorher bekanntgegeben, daß es ein Grundurteil fällen wolle. Das Urteil sei zudem nicht vollstreckbar.

Das LSGer. habe weiterhin nicht die Zulässigkeit der Anschlußberufung geprüft, ihr nicht die Anschlußberufungsschrift in Abschrift zugestellt und ihr insoweit nicht das Recht zur schriftlichen Äußerung eingeräumt.

Sie glaubt im übrigen, daß nur Beitragsleistungen der Klägerin vom Jahre 1906 (Vollendung des 16. Lebensjahres) bis zum Jahre 1918 und von 1945 bis 1949 nachzuweisen seien. Sie bestreitet, daß für die Zeit von 1921 bis 1929 Pflichtbeiträge und von 1933 bis 1944 freiwillige Beiträge geleistet worden seien. Sie greift die Beweiswürdigung des LSGer. hinsichtlich dieser Feststellungen an. Sie erkennt allerdings jetzt an, daß durch die bis 1918 geleisteten Beiträge die Wartezeit von 60 Monaten (nicht die von 180 Monaten) erfüllt sei, und ist nunmehr der Ansicht, daß auf Grund des Fremd- und Auslandsrentengesetzes mit Inkrafttreten dieses Gesetzes (31. März 1952) die Anwartschaft wieder aufgelebt sei. Da die Klägerin nach vertrauensärztlichem Gutachten seit Oktober 1953 invalide sei, stehe ihr somit die Invalidenrente vom 1. November 1953 an zu. Sie hat auf Grund eines neuen Antrages der Klägerin vom 14. Januar 1955 durch Bescheid vom 1. Februar 1955 den Anspruch auf Ruhegeld nach § 26 des Angestelltenversicherungsgesetzes und auf Invalidenrente nach § 1253 der Reichsversicherungsordnung wegen dauernder Berufsunfähigkeit beziehungsweise Invalidität anerkannt und der Klägerin die Rente vom 1. November 1953 an in Höhe von 59.70 DM (vom 1.12.1954 an einschl. Mehrbetrag in Höhe von 67.20 DM) zugesprochen und erkennt den Anspruch der Klägerin auf Zahlung einer Invalidenrente in Höhe von monatlich 59.70 DM vom 1. November 1953 an ausdrücklich an.

Sie beantragt,

1.) das Urteil des Landessozialgerichts ..., soweit es über einen Invalidenrentenanspruch der Klägerin gegen sie vom 1. November 1953 an in Höhe von 59.70 DM monatlich hinausgeht, aufzuheben und im übrigen die Klage abzuweisen,

2.) hilfsweise - oder wenn das Bundessozialgericht keine Sachentscheidung trifft - unter Aufhebung des vorbezeichneten Urteils des Landessozialgerichts ... den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht ... zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt durch Schriftsatz des Rechtsanwalts Dr. ... vom 11. Februar 1955,

die Revision als unzulässig zu verwerfen,

hilfsweise,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie ist der Ansicht, daß das Verfahren des LSGer. nicht an einem wesentlichen Verfahrensmangel leide.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden; sie ist auch statthaft, da die Beklagte einen vorliegenden wesentlichen Verfahrensmangel schlüssig gerügt hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).

Das LSGer. ist mit Recht davon ausgegangen, daß auch im sozialgerichtlichen Verfahren die Anschließung an die Berufung des Gegners zulässig ist. Nach § 202 SGG sind, soweit das Sozialgerichtsgesetz keine Bestimmungen über das Verfahren enthält, das Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) und die Zivilprozeßordnung (ZPO) entsprechend anzuwenden, wenn die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten dies nicht ausschließen. Nach diesem insoweit eindeutigen und zwingenden Gesetzeswortlaut steht es nicht im Ermessen des Gerichts, ob es die Vorschriften des GVG und der ZPO anwenden will, vielmehr muß es sie - entsprechend - anwenden, wenn nicht einer der beiden einschränkenden Tatbestände (eigene Regelung im SGG bzw. grundsätzliche Unterschiede der beiden Verfahren) gegeben ist. Im Gegensatz zu dem bei den Vorberatungen zum SGG beteiligten Sachverständigenausschuß wollte es der Gesetzgeber, anders als in dem früheren Verfahren vor den Versicherungsbehörden, aus Gründen der Rechtssicherheit nicht dem Ermessen der Rechtsprechung überlassen, ob die zivilprozessualen Vorschriften entsprechend angewandt werden sollen, sondern wollte bewußt die subsidiäre Anwendung dieser Vorschriften zwingend anordnen (vgl. Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Stuttgart und Köln, Anm. 1 zu § 202). Die Begründung zu dem (damaligen) § 150 des Entwurfs der Bundesregierung zu einem Gesetz über das Verfahren in der Sozialgerichtsbarkeit (Bundestagsdrucksache Nr. 4357) weist ausdrücklich darauf hin, daß aus Gründen der Rechtssicherheit eine freie Gestaltung des Verfahrens erst möglich sein soll, wenn auch durch entsprechende Anwendung der ZPO und des GVG die erforderliche Regelung nicht gefunden werden kann. Nach Ansicht des erkennenden Senats muß daher grundsätzlich jede im sozialgerichtlichen Verfahren vorkommende, nicht im SGG geregelte prozessuale Frage durch Zurückgreifen auf die Vorschriften des GVG beziehungsweise der ZPO beantwortet werden, soweit nicht die Unterschiede beider Verfahrensarten dies ausschließen (so auch Schroeter, Die Sozialgerichtsbarkeit 1955, S. 229). Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit haben daher in dieser Hinsicht nicht die freiere Stellung der ehemaligen Versicherungsbehörden, die ihren diesbezüglichen Entscheidungen auch Zweckmäßigkeitserwägungen zugrundelegen konnten. Glücklich, der die Anwendung der Vorschriften der ZPO über die Anschließung ablehnt, weil die analoge Anwendung dieser Vorschriften auch sonst nicht erfolge (vgl. SGb. 1954 S. 190, 1955 S. 45 und S. 230), übersieht, daß im § 202 SGG die entsprechende Anwendung aller Vorschriften der ZPO über das Verfahren zwingend vorgeschrieben ist, soweit nicht die Unterschiede beider Verfahrensarten dies ausschließen.

Von diesem allgemeinen zwingenden Gesetzesbefehl kann nur dann abgegangen werden, wenn das Gesetz selbst hinsichtlich besonderer Tatbestände eine Ausnahme vorschreibt. Eine ausdrückliche Ausnahmeregelung ist hinsichtlich der Anschließung nicht erfolgt; aber auch sonst ist aus dem Gesetz nichts zu entnehmen, was auf eine solche Ausnahmeregelung schließen lassen könnte. Es darf hierbei nicht übersehen werden, daß die bei den Beratungen des Gesetzentwurfs zum Ausdruck gekommenen Ansichten nur insoweit von Bedeutung sein können, als sie in dem Gesetz einen - wenn auch vielleicht nur unvollkommenen - Ausdruck gefunden haben (Enneccerus-Nipperdey, Allg. Teil des bürgerlichen Rechts, 1. Halbbd., 14. A., Tübingen, 1952 S. 202). Dies könnte mangels jeglicher sonstiger gesetzlicher Anhaltspunkte hier höchstens dann der Fall sein, wenn das Gesetz die betreffende Materie so vollständig geregelt hätte, daß alle im sozialgerichtlichen Verfahren vorkommenden prozessualen Fragen aus den Vorschriften des SGG selbst beantwortet werden könnten, ohne daß auf die Vorschriften des GVG und der ZPO zurückgegriffen werden müßte. Nur dann könnte angenommen werden, daß im Gesetz der Wille zu einer abschließenden Regelung zum Ausdruck gekommen wäre.

Es wird in diesem Zusammenhang geltend gemacht, daß das SGG die Zahl der Rechtsmittel abschließend geregelt habe und daher für die Anschlußberufung im sozialgerichtlichen Verfahren kein Raum mehr sei. Dieser Einwand greift jedoch nicht durch. Die Anschließung ist nach allgemeiner Ansicht kein Rechtsmittel, sondern stellt lediglich eine Auswirkung des Rechts des Berufungsbeklagten dar, durch Anträge die Grenzen einer neuen Verhandlung zu bestimmen; sie ist ein angriffsweise wirkender Antrag des Berufungsbeklagten innerhalb der Berufung des Gegners, wobei das Rechtsmittel selbst das alte, vom Berufungskläger eingelegte bleibt (RGZ. 7, 345; 85, 84; 110, 233; 153, 348; Walsmann, Die Anschlußberufung, S. 119 ff; BGH., NJW. 1952 S. 384; Baumbach, Kommentar zur Zivilprozeßordnung, 23. Aufl., Anm. 1) zu § 521; BGH. Bd. 4 S. 229 ff.). Unbeschränkt gilt dies zwar nur für die sog. unselbständige Anschließung, da die innerhalb der Berufungsfrist erfolgte Anschließung bei Rücknahme der Berufung oder bei deren Verwerfung wegen Unzulässigkeit wie eine selbständige Berufung behandelt wird. Da aber der Berufungsbeklagte innerhalb der Berufungsfrist auch seinerseits Berufung einlegen kann, handelt es sich selbst bei Eintritt dieser Folge nicht um ein neuartiges Rechtsmittel, sondern nur um das ohnedies zugelassene Rechtsmittel der Berufung. Die Zulässigkeit der selbständigen Anschließung ist aus diesem Grunde im sozialrechtlichen Verfahren auch unbestritten. Da hiernach die Anschließung kein Rechtsmittel ist, sondern lediglich ein innerhalb der gegnerischen Berufung gestellter Antrag, wird die Zahl der Rechtsmittel des SGG durch sie nicht erweitert. Der Begründung des Reichsversicherungsamts (vgl. AN. 1887 S. 357; 1891 IV S. 161; vgl. auch E. des RVG., RVG. Bd. I S. 16), daß die Rechtsmittel in den Verfahren vor den Versicherungsbehörden erschöpfend geregelt seien und daher die Anschließung nicht zulässig sei, kann daher nicht beigetreten werden.

Es war allerdings noch zu prüfen, ob nicht die Berufungsvorschriften des SGG ihrerseits abschließend geregelt sind, so daß für die Einführung eines derartigen Antrags in das sozialgerichtliche Berufungsverfahren kein Raum mehr ist. Diese Frage mußte jedoch verneint werden. Selbst wenn die Vorschriften über die Berufungsanschließung bei dieser Prüfung außer Betracht bleiben, ergibt der Vergleich der Berufungsvorschriften des SGG mit denjenigen der ZPO eine Reihe von Lücken, die mangels eigener Regelung im SGG nur durch Zurückgreifen auf die Vorschriften der ZPO geschlossen werden können, wenn alle im sozialgerichtlichen Verfahren auftretenden prozessualen Fragen beantwortet werden sollen. So sei, ohne daß diese Aufzählung erschöpfend sein soll, beispielsweise auf die §§ 512, 514, 517 und 543 ZPO verwiesen. Hieraus ergibt sich, daß die Berufung im SGG nicht abschließend geregelt ist. Mangels sonstiger gesetzlicher Anhaltspunkte kann daher nicht angenommen werden, daß das Gesetz die Berufungsvorschriften abschließend regeln wollte. Es müssen also nach § 202 SGG sämtliche Bestimmungen der ZPO über die Berufung auf das sozialgerichtliche Verfahren entsprechend angewandt werden, soweit das SGG eine in der ZPO geregelte Frage nicht beantwortet und die Unterschiede beider Verfahren dieses nicht ausschließen.

Aus dem Schweigen des Gesetzes kann somit nicht der von Glücklich gezogene Schluß gezogen werden, daß die Vorschriften der ZPO über die Berufungsanschließung nicht entsprechend anzuwenden seien. Ob aus dem von Schroeter (SGb. 1955 S. 229) erwähnten Umstand, daß der Unterausschuß des Rechtsausschusses des Bundesrats vorgeschlagen habe, die unselbständige Anschlußberufung ausdrücklich zu erwähnen, diese Anregung auch Gegenstand der Beratungen im Ausschuß für Sozialpolitik des Bundestages gewesen sei, der Schluß gerechtfertigt ist - wie Schroeter meint -, daß eine ausdrückliche Aufnahme einer solchen Vorschrift nur deshalb nicht erfolgt sei, weil dies mit Rücksicht auf § 202 SGG als überflüssig angesehen wurde, kann andererseits dahingestellt bleiben. Selbst wenn man hieraus einen entgegengesetzten Schluß ziehen würde, wäre eine in der Beratung zum Ausdruck gekommene, der Einführung der Berufungsanschließung entgegenstehende Ansicht ohne Bedeutung, da sie keinerlei Niederschlag in dem Gesetz gefunden hat.

Es war nach § 202 SGG allerdings zu prüfen, ob nicht der Unterschied beider Verfahrensarten die Anwendung der ZPO-Vorschriften über die Anschließung ausschließt. Dies ist jedoch nach Ansicht des erkennenden Senats nicht der Fall. Die Berufungsanschließung hat lediglich den Zweck, zu erreichen, daß über den Rechtsstreit in der Berufungsinstanz - unter Ausschaltung der Wirkung des Verbots der Schlechterstellung (reformatio in pejus) - nicht nur innerhalb der Anträge des Berufungsklägers, sondern darüber hinaus auch im Rahmen der Anträge des Berufungsbeklagten entschieden werden kann. Da auch im sozialgerichtlichen Verfahren das Verbot der reformatio in pejus gilt (vgl. Urt. des 10. Senats vom 29.2.1956 - 10 RV 75/55 -), gleichen sich insoweit beide Verfahren. Es widerspricht keinem der von dem Zivilprozeß abweichenden Grundsätze des sozialgerichtlichen Verfahrens, daß das Verbot der reformation in pejus durch eine solche Anschließung im Einzelfall außer Wirkung gesetzt wird; im Gegenteil, mehr noch als den Grundsätzen des Zivilprozesses entspricht es den Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens, das in stärkerem Maße die Durchsetzung der materiellen Wahrheit anstrebt, daß der Rechtsstreit in seinem vollen Umfang nachgeprüft werden kann. Erst die Anschließung gibt in einem Verfahren, in welchem das erstinstanzliche Urteil der Klage nicht in vollem Umfang stattgegeben hat, die Möglichkeit der erneuten Entscheidung über den gesamten Rechtsstoff. Ohne die Möglichkeit der Anschließung könnte insbesondere neuer Prozeßstoff nur einseitig und unvollständig berücksichtigt werden (so auch im Ergebnis Schroeter SGb. 1955 S. 229; ebenfalls, wenn auch aus anderen Gründen mit abweichendem Ergebnis Drittler, SGb. 1954 S. 65; Bayer. LSGer. VIII. Senat, Urt. vom 1.3.1954, SGb. 1954 S. 190). Die zu einem anderen Ergebnis führende Begründung Glücklichs (SGb. 1954 S. 191; 1955 S.230) ist auch insoweit nicht überzeugend. Ähnliche, von Glücklich angeführte Nachteile, welche sich daraus ergeben, daß im sozialgerichtlichen Verfahren - im Gegensatz zum Zivilprozeß - der Berufungskläger die Berufung noch bis zum Schluß der mündlichen Verhandlung ohne Zustimmung des Gegners zurücknehmen kann, bestehen auch dann, wenn nur Berufung eingelegt ist. Zudem kann dem insoweit sicherlich bestehenden Unterschied beider Verfahren keinesfalls eine "grundsätzliche" Bedeutung im Sinne des § 202 SGG zuerkannt werden. Die Vorschriften der §§ 521 bis 522a ZPO haben daher für das sozialgerichtliche Verfahren entsprechende Anwendung zu finden.

Die von der Klägerin eingelegte Anschlußberufung ist jedoch nicht formgerecht eingelegt worden. Nach § 522a Abs. 1 ZPO erfolgt die Anschließung durch Einreichung der Berufungsanschlußschrift bei dem Berufungsgericht, während die Klägerin die Anschließung nur durch Vortrag in der mündlichen Verhandlung erklärt hat. Es erhebt sich allerdings die Frage, ob nicht im sozialgerichtlichen Verfahren die Anschließung, ebenso wie die Berufung, auch durch Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle rechtswirksam erfolgen kann. Zwar finden die Berufungsvorschriften auf die Anschließung keine unmittelbare Anwendung, da die Anschließung keine Berufung ist; es fragt sich jedoch, ob nicht diese zweite Möglichkeit der Berufungseinlegung nach § 151 Abs. 1 SGG für die Anschließung entsprechend angewandt werden muß. Diese Frage bedarf jedoch hier keiner Entscheidung, da auch diese Form der Anschließung nicht gewahrt ist. Die bloße Erklärung in der mündlichen Verhandlung kann, obgleich auch sie protokolliert wird, nicht der Erklärung zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle gleichgestellt werden, da es sich hierbei um ein besonderes, förmlich geregeltes Verfahren handelt, das nicht durch ein anderes Verfahren ersetzt werden kann, selbst wenn dieses ebenfalls gleiche oder sogar noch höhere Sicherheiten bietet (RG. 13.2.1893, JW. 1893 S. 106; a.A. Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur ZPO, 18. A., Anm. I zu § 159; Baumbach, Kommentar zur ZPO, Anm. 3b zu § 569; Glücklich, SGb. 1955 S. 46). Die in der zu entscheidenden Rechtssache erfolgte Anschließung der Klägerin an die Berufung der Beklagten war daher unzulässig und hätte vom LSGer. nach § 522a Abs. 3 i. Vbdg. mit dem - anstelle des § 519b ZPO entsprechend anzuwendenden - § 158 Abs. 1 SGG als unzulässig verworfen werden müssen. Da das LSGer. statt dessen auch über den Teil des Berufungsverfahrens, der nicht durch die eingelegte Berufung Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden ist, sachlich mitentschieden hat, leidet das Verfahren ebenso an einem wesentlichen Mangel, als wenn über eine Berufung sachlich entschieden worden wäre, obwohl diese als unzulässig hätte verworfen werden müssen (vgl. wegen des Grundsatzes das Urteil des erkennenden Senats vom 27.10.1955 - 4 RJ 105/54 -).

Die Revision der Beklagten ist daher statthaft.

Sie ist auch begründet, da das angefochtene Urteil auf dem Mangel beruht; denn es hätte anders ausfallen können, wenn das Verfahren nicht an diesem Mangel litte. Wenn das LSGer. die Anschließung als unzulässig verworfen hätte, so hätte es wegen des Verbots der reformatio in pejus die Beklagte nicht in weiterem Umfang verurteilen können, als sie bereits in erster Instanz verurteilt worden ist.

Da das angefochtene Urteil wegen des auch für den erkennenden Senat wirksamen Verbots der reformatio in pejus auch nicht aus anderen Gründen im Sinne des § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG aufrechterhalten werden konnte, mußte es aufgehoben werden. Eine eigene Entscheidung des erkennenden Senats war nicht tunlich, weil das mit der Berufung angefochtene Urteil erster Instanz an einem wesentlichen Verfahrensmangel leidet. Dieses Gericht hat, anstatt über den geltend gemachten Anspruch, wenn auch nur in der Form eines Grundurteils, zu entscheiden, lediglich festgestellt, daß die Wartezeit von 60 Monaten erfüllt sei, hat also etwas zugesprochen, was überhaupt nicht beantragt war. Dieses Urteil muß daher auf jeden Fall aufgehoben werden. Die hiernach erforderliche Entscheidung war jedoch zweckmäßigerweise dem LSGer. zu überlassen, da dieses - im Gegensatz zu dem erkennenden Senat - die Wahl hat, entweder nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen oder - nach etwa formgerecht wiederholter Berufungsanschließung der Klägerin - über den gesamten Rechtsstreit, soweit er nicht durch Annahme des inzwischen erklärten Anerkenntnisses der Beklagten erledigt wird, selbst zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

NJW 1957, 320

NJW 1957, 39

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