Leitsatz (amtlich)

An der Auffassung wird festgehalten, daß ein deutscher Kriegsgefangener, der 1948 in Frankreich mit behördlicher Genehmigung ein Arbeitsverhältnis als "freier Arbeiter" eingegangen ist, jedenfalls für die Dauer dieses Arbeitsverhältnisses nicht mehr Kriegsgefangener im Sinne des BVG § 1 Abs 2 Buchst b ist ( Festhaltung BSG 1957-09-05 9 RV 192/54 = BSGE 3, 268).

 

Normenkette

BVG § 1 Abs. 2 Buchst. b Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Juli 1958 und des Sozialgerichts Speyer vom 26. November 1954 aufgehoben. Die Klage wird, soweit Ansprüche gegen den Beklagten erhoben worden sind, abgewiesen.

Zur Verhandlung und Entscheidung über die Ansprüche gegen die Beigeladene wird die Sache an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger geriet im Mai 1945 in Kriegsgefangenschaft, wurde später nach Frankreich gebracht und ist dort lt. Certificat de Libération des Kriegsministers am 23. Juli 1948 nach Überführung in den Status eines "freien Arbeiters in Frankreich" (après transformation en travailleur libre en France) "von der Gefangenschaft befreit worden (libéré de captivité) ". Bei seiner Arbeit auf einem Gut in Sully sur Loire erlitt er am 15. September 1949 durch den Hufschlag eines Pferdes Kopfverletzungen. Im Anschluß an die Krankenhausbehandlung in Frankreich wurde er am 3. November 1949 als travailleur libre vom Bureau de Démobilisation et de Contrôle in Tuttlingen nach seinem jetzigen Wohnort entlassen. Im November 1950 beantragte er Versorgung. In einem vom Versorgungsamt (VersorgA) eingeholten nervenfachärztlichen Gutachten des Landeskrankenhauses A. wurde neben anderen Schädigungsfolgen eine Impressionsverletzung der unteren mittleren Stirngegend mit nachfolgender Meningitis sowie eine Opticusatrophie links mit erheblicher Herabsetzung des Sehvermögens festgestellt und eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. angenommen. Mit Bescheid vom 13. Juni 1951 lehnte das VersorgA den Antrag ab, weil der Kläger den Unfall nicht als Kriegsgefangener, sondern als freier Arbeiter erlitten habe.

Vor dem Sozialgericht (SG), auf das die Berufung gegen diesen Bescheid bei Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage überging, machte der Kläger geltend, er habe im Gefangenenlager als SS-Mann unter Druck gestanden und nur durch eine Verpflichtung zur Fremdenlegion oder als "freier Arbeiter" aus dem Lager herauskommen können. So sei er freier Arbeiter geworden. Er habe aber polizeilichen Kontrollen unterlegen, das Departement nicht ohne Genehmigung verlassen und auch nicht nach Hause fahren dürfen, so daß er nicht wirklich frei geworden sei. Das SG holte eine Auskunft des französischen Ministers für ehemalige Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer ein und zog eine Zweitschrift des Certificat de Libération bei. Mit Urteil vom 26. November 1954 erkannte es "Impressionsverletzung in der unteren mittleren Stirngegend mit nachfolgender Meningitis, psychische Wesensänderung, Hirnleistungsschwächesyndrom mittleren Grades, Opticusatrophie links mit erheblicher Herabsetzung des Sehvermögens" als Dienstbeschädigung an und verpflichtete den Beklagten, dem Kläger ab 13. November 1950 die einer MdE um 70 v. H. entsprechende Versorgung zu gewähren, im übrigen wies es die Klage ab.

Gegen die Auffassung des SG, der Kläger sei trotz Überführung in den Status eines freien Arbeiters als Kriegsgefangener anzusehen, richtete sich die Berufung des Beklagten. Sie machte geltend, der Kläger sei zur Zeit des Unfalls nicht mehr Kriegsgefangener gewesen, weil er nicht unter Zwang, sondern in der Hoffnung, eher entlassen zu werden, "freier Arbeiter" geworden sei. Gegen einen versorgungsrechtlichen Schutz dieses Personenkreises spreche auch Art. 3 § 1 der Vierten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 (BGBl II 1951, 195), wonach der Kläger Ansprüche aus der Sozialversicherung habe. Das Landessozialgericht (LSG) lud die landwirtschaftliche Berufsgenossenschaft Rheinhessen-Pfalz bei. Der Kläger wies darauf hin, er sei als "freier Arbeiter" drei bis viermal von französischer Kriminalpolizei kontrolliert worden und habe sich nur innerhalb des Verwaltungsbezirks frei bewegen können. Nach Ablauf seines einjährigen Vertrages habe er sich bei dem für ihn zuständigen Kriegsgefangenenlager gemeldet und die Heimschickung beantragt. Der Lagerkommandant habe ihm erklärt, der Antrag gehe den Dienstweg und er solle zuerst einmal die Ernte fertigmachen. Darauf habe er seine frühere Arbeit bis zum Unfall fortgesetzt. Aus dem Hospital sei er mit einem Auto des Lagers Orleans abgeholt worden, habe dort einen Fahrtausweis mit genau beschriebener Strecke nach Tuttlingen, Verpflegung für zwei Tage und in Tuttlingen nach dreitägigem Aufenthalt die Entlassungspapiere erhalten. Das LSG wies durch Urteil vom 16. Juli 1958 die Berufung zurück. Es ließ die Revision zu, weil es von einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG 3, 268) abwich. Das Freiarbeitsverhältnis des Klägers könne nicht als ziviles Arbeitsverhältnis angesehen werden, weil es nur mit staatlicher Genehmigung abgeschlossen werden konnte und nicht - wie in Frankreich gesetzlich vorgeschrieben sei - der französischen Sozialversicherung unterlegen habe. Der Kläger sei durch Eingehen dieses Arbeitsverhältnisses auch nicht wirklich frei geworden.

Mit der Überführung in ein freies Arbeitsverhältnis - Libération - sei nur die Entlassung aus der Kontrolle des Kriegsgefangenenlagers verbunden gewesen, während die Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft - Démobilisation - erst am 3. November 1949 in Tuttlingen erfolgt sei. Aus dem Certificat de Libération gehe hervor, daß der Kläger die Aufenthaltsgenehmigung nur für das Departement seines Arbeitsplatzes gehabt und der Überwachung durch die örtlichen Behörden und die Gendarmerie unterstanden habe. Verletzungen des Arbeitsvertrages oder der Aufenthaltsbeschränkungen würden also nicht nur arbeitsrechtliche Folgen ausgelöst sondern zur Rückschaffung des Klägers ins Kriegsgefangenenlager und zur Bestrafung als Kriegsgefangener geführt haben. Die Arbeitsverpflichtung des Klägers habe demnach nicht die Beendigung seiner Kriegsgefangenschaft sondern nur seine "Befreiung an Ort und Stelle" bewirkt, wie auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG 6, 223) aus den Richtlinien der französischen Regierung vom 8. April 1947 entnommen habe. Dafür spreche auch die Anweisung des Lagerkommandanten, die Arbeit bis zur Heimschaffung fortzusetzen. Abgesehen davon sei der Unfall des Klägers erst nach Ablauf der einjährigen Verpflichtungsdauer eingetreten, weshalb mangels einer neuen Arbeitsverpflichtung angenommen werden müsse, daß der Kläger zumindest im Unfallzeitpunkt "wieder" Kriegsgefangener gewesen sei. Schließlich könne mit BSG 3, 268 zwar die Annahme geteilt werden, die Arbeitsverpflichtung sei nicht unter Zwang erfolgt; es könne aber - entgegen dieser Entscheidung - das Freiarbeitsverhältnis auch bei Berücksichtigung des Art. 3 der Vierten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 nicht als ein ziviles Arbeitsverhältnis angesehen werden. Beim Kläger habe es sich um ein Vollarbeitsverhältnis gehandelt, also um ein Arbeitsverhältnis, das nach der Dauer der Arbeitszeit und dem Verdienst - Barlohn und Sachleistungen - für die wirtschaftliche Existenz des Arbeitnehmers von wesentlicher Bedeutung sei. Für solche Arbeitsverhältnisse bestehe, soweit es sich um zivile handle, auch in Frankreich regelmäßig gesetzlicher Versicherungsschutz. Da die "freien Arbeiter" in Frankreich aber weder gegen Krankheit noch gegen Unfall durch die französische Sozialversicherung geschützt gewesen seien und dieser Versicherungsschutz als wesentliches Merkmal eines zivilen Arbeitsverhältnisses in einem modernen Kulturstaat angesehen werden müsse, könne schon deshalb nicht von einem zivilen Arbeitsverhältnis gesprochen werden. Die 1951 erfolgte Einbeziehung in den Schutz der deutschen Sozialversicherung ändere daran nichts, denn es sei der Sinn insbesondere der Kranken- und Unfallversicherung, sofort zu helfen. Der Schluß des BSG von der Einbeziehung in die deutsche Sozialversicherung auf Beendigung der Kriegsgefangenschaft bei Abschluß eines Zivilarbeitsvertrages mit behördlicher Genehmigung sei auch deshalb nicht zwingend, weil sich aus den §§ 54 und 65 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) ergebe, daß eine gesundheitsschädigende Einwirkung sowohl eine Schädigung im Sinne des § 1 BVG als auch ein Unfall im Sinne der Unfallversicherung sein könne, und weil eine ausdrückliche Regelung zur Vermeidung von Doppelzahlungen getroffen sei.

Die Revision des Beklagten rügt Verletzung des § 1 BVG. Das LSG habe, wie sich aus BSG 3, 268 ergebe, den Begriff der Kriegsgefangenschaft zu weit ausgedehnt, wenn es die zu § 2 des Kriegsgefangenenentschädigungsgesetzes gegebene Auslegung in BVerwG 6, 223 auf das BVG übertrage. Zu Unrecht habe das LSG auch angenommen, der Kläger sei jedenfalls nach Ablauf seiner einjährigen Arbeitsverpflichtung wieder Kriegsgefangener gewesen, denn er sei nicht etwa wieder der Kontrolle des Kriegsgefangenenlagers zugeführt worden, sondern habe sein freies Zivilarbeitsverhältnis fortgesetzt. Der Beklagte beantragt, die Klage unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen abzuweisen; der Kläger bittet, die Revision aus den Gründen des angefochtenen Urteils zurückzuweisen. Diesem Antrag schließt sich die Beigeladene sinngemäß an.

Die durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG). Sie ist daher zulässig. Sie erweist sich, soweit der gegen den Beklagten gerichtete Versorgungsanspruch in Betracht kommt, auch als begründet.

Die Vorinstanzen haben zu Unrecht bejaht, der Kläger sei zur Zeit des Unfalls Kriegsgefangener im Sinne des § 1 Abs. 2 Buchstabe b BVG gewesen. Das BVG knüpft in dieser Vorschrift zwar zunächst an den im Völkerrecht entwickelten Begriff der Kriegsgefangenschaft und den dadurch begründeten Status an; § 1 BVG läßt aber nicht die Auslegung zu, daß auch die in Feindeshand gefallenen Angehörigen der deutschen Streitkräfte, die mit ihrer Zustimmung aus der Lagerhaft in ein "freies Arbeitsverhältnis" überführt wurden, Kriegsgefangene im Sinne dieser Bestimmung blieben. Das gilt jedenfalls in aller Regel für die Personen, die wie hier auf Grund der französischen Richtlinien aus dem Jahre 1947 nach der Ausstellung eines " Certificat de Libération " ordnungsgemäß in einem Arbeitsverhältnis tätig wurden. Diese Auffassung hat der Senat bereits im Urteil vom 5. September 1956 (BSG 3, 268) vertreten; ihr ist der 8. Senat im Urteil vom 19. Januar 1961 - 8 RV 805/59 - BVBl 1962, 19) gefolgt; an ihr ist festzuhalten. Dabei bedarf es weder der Entscheidung, ob der Status der Kriegsgefangenschaft im völkerrechtlichen Sinne einen bis zur Entlassung in die Heimat aufrecht erhaltenen "Gewahrsam" an der festgehaltenen Person erfordert, noch, ob der völkerrechtliche Anspruch auf "Freilassung und Heimschaffung" (Art. 75 des Genfer Abkommens über die Behandlung der Kriegsgefangenen vom 27. Juli 1929 in RGBl 1934 II, 227) durch Eingehung eines zivilrechtlichen Arbeitsvertrages berührt wird; denn unabhängig hiervon entfällt jedenfalls der versorgungsrechtliche Schutz für die Dauer des freien Arbeitsverhältnisses. Das ist im Gesetz zwar nicht ausdrücklich hervorgehoben, ergibt sich aber mit hinreichender Deutlichkeit aus den Erwägungen, die zu der Aufnahme des § 1 Abs. 2 Buchst. b BVG in das Gesetz geführt haben und nach denen die Vergünstigungen dieser Vorschrift nur einem eingeschränkten Kreis zugute kommen sollten, zu dem die in einem freien Arbeitsverhältnis tätigen Personen nicht gehören. Bereits im Urteil des BSG vom 19. Januar 1961 ist darauf hingewiesen, daß die Begründung zum Regierungsentwurf des § 4 BVG für die Auslegung des § 1 Abs. 2 Buchst. b BVG von Bedeutung ist. Dort ist nämlich der Heimweg nach Beendigung des militärischen bzw. militärähnlichen Dienstes oder der Kriegsgefangenschaft unter versorgungsrechtlichen Schutz gestellt und in der Begründung ist ausgeführt, ein ziviles Arbeitsverhältnis, das ein ehemaliger Kriegsgefangener im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft im Gewahrsamsland eingegangen sei, könne nicht als militärähnlicher Dienst gewertet werden (vgl. Anlage 1 zur Bundestagsdrucksache Nr. 1333, 1. Wahlperiode, Begründung Teil B zu § 4 S. 49). Damit ist zugleich zum Ausdruck gebracht, daß ein solches Arbeitsverhältnis gesondert zu beurteilen ist und versorgungsrechtlich auch nicht als Kriegsgefangenschaft angesehen werden kann. Diese Ansicht ist in den Beratungen des 26. Ausschusses dür Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Bundestags zwar nicht ausdrücklich bestätigt worden, sie hat aber auch keinen Widerspruch gefunden. Sie war nämlich bereits durch das Heimkehrergesetz und die Vierte Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit bestätigt worden. Der Wirtschaftsrat hatte, wie aus den Materialien zum Heimkehrergesetz (vgl. Bundestagsdrucksache Nr. 631, 1. Wahlperiode Anlage 1 S. 9) hervorgeht, zum Ausdruck gebracht, daß er es für dringend notwendig halte, ehemalige kriegsgefangene Deutsche, die nach Beendigung eines zivilen Arbeitsverhältnisses in dem bisherigen Gewahrsamsland nach Ablauf der vorgeschriebenen Mindestverpflichtungsdauer in die Heimat zurückkehren, den sonstigen Kriegsgefangenen rechtlich und wirtschaftlich gleichzustellen. Den Entwurf eines Gesetzes über die Gleichstellung der in das zivile Arbeitsverhältnis überführten ehemaligen Kriegsgefangenen hat indes der Wirtschaftsrat nicht mehr verabschiedet, sondern die Regelung der Bundesgesetzgebung überlassen. Diese nahm jedoch keine völlige Gleichstellung vor. Das Heimkehrergesetz (HKG) vom 19. Juni 1950 (BGBl I, 221) machte in § 1 Abs. 1 und 2 bereits einen Unterschied zwischen den aus fremdem Gewahrsam entlassenen Kriegsgefangenen (Abs. 1) und "Kriegsgefangenen, die zur Überführung in ein ziviles Arbeitsverhältnis im bisherigen Gewahrsamsland entlassen worden sind" (Abs. 2); erstere "sind" nach dem Gesetz Heimkehrer, letztere "gelten" nur als Heimkehrer. Sah sich aber der Gesetzgeber aus sachlichen Gründen genötigt, neben den entlassenen Kriegsgefangenen durch gesetzliche Fiktion auch diejenigen Kriegsgefangenen in den Schutz des HKG einzubeziehen die zur Überführung in ein ziviles Arbeitsverhältnis im bisherigen Gewahrsamsland entlassen wurden, so gab er damit zu erkennen, daß der von ihm zugrunde gelegte Begriff der Kriegsgefangenschaft diesen Personenkreis nicht umfassen sollte, denn anderenfalls wäre § 1 Abs. 2 HKG überflüssig gewesen. Auch der Ausschluß der in ein ziviles Arbeitsverhältnis überführten ehemaligen Kriegsgefangenen vom Bezug des Entlassungsgeldes (§ 2 Abs. 1 HKG) und der Übergangshilfe (§ 3 Abs. 1 HKG) läßt die Sonderbehandlung dieses Personenkreises gegenüber den entlassenen Kriegsgefangenen durch die Gesetzgebung deutlich werden (vgl. Bundestagsdrucksache Nr. 631, 1. Wahlperiode Anlage 1 S. 11 zu den §§ 2 und 3). Dieser Unterscheidung trug ferner das oben bereits erwähnte vor dem Inkrafttreten des BVG getroffene Abkommen in seiner Vierten Zusatzvereinbarung Rechnung, das am 10. Juli 1950 unterzeichnet wurde und durch Gesetz vom 18. Oktober 1951 (BGBl II 177, 195) die Zustimmung des Bundestags gefunden hat. Dieses Abkommen stellte die in ein ziviles Arbeitsverhältnis in Frankreich überführten "ehemaligen" deutschen Kriegsgefangenen rückwirkend unter den Schutz der deutschen Sozialversicherung. Die Einbeziehung der zu freien Arbeitnehmern in Frankreich gewordenen ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen - nur dieser, nicht auch der in Arbeitslagern untergebrachten Kriegsgefangenen - in die deutsche Sozialversicherung wäre unverständlich, wenn sie nach Auffassung des Gesetzgebers noch als Kriegsgefangene anzusehen waren, denn den Kriegsgefangenen kam ohnehin schon versorgungsrechtlicher Schutz zu (vgl. § 4 Abs. 3 der Ersten Landesverordnung zur Durchführung des Landesversorgungsgesetzes des Landes Rheinland-Pfalz vom 18. Januar 1949 - GVBl 1949 § 11 -, Art. 2 Abs. 2 Körperbeschädigten-Leistungsgesetz und Nr. 2 Buchst. a und b der Sozialversicherungsanordnung Nr. 11). So erklärt sich auch die in der Begründung zu § 4 BVG zum Ausdruck gekommene Absicht des Gesetzgebers, die Tätigkeit der in zivile Arbeitsverhältnisse überführten ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen nicht mehr zum militärähnlichen Dienst, geschweige denn zur Kriegsgefangenschaft zu rechnen. Durch das erwähnte Abkommen sollten sie für den Ausfall des versorgungsrechtlichen Schutzes einen Ausgleich erhalten; unverständlich wäre es gewesen, wenn das Gesetz den regelmäßig auch zur Arbeitsleistung in Lagern untergebrachten Gefangenen nur den versorgungsrechtlichen Schutz, den freien Arbeitern, deren Lage an sich schon verbessert worden war, aber zusätzlich noch den Schutz der deutschen Sozialversicherung hätte gewähren wollen; darum ist such der Hinweis des LSG auf die §§ 54, 65 BVG, die grundsätzlich ganz anderen Sachverhalten - etwa Einwirkung einer Kriegsgefahr im Rahmen einer Berufstätigkeit - Rechnung tragen, nicht geeignet, einen doppelten Schutz der freien Arbeiter darzutun.

Auch die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 2 des Kriegsgefangenen-Entschädigungsgesetzes (vgl. BVerwG 6, 223) vermag den Senat nicht zur Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung zu veranlassen, weil es sich dort um ein anderes Rechtsgebiet mit anderen gesetzgeberischen Erwägungen handelt, so daß eine übereinstimmende Auslegung des Rechtsbegriffs der Kriegsgefangenschaft im BVG einerseits und im Kriegsgefangenen-Entschädigungsgesetz andererseits nicht geboten ist (vgl. BSG in BVBl 1962, 19). Aus diesem Grunde läßt auch das Bundesverwaltungsgericht in dem angegebenen Urteil dahingestellt, ob die von ihm nicht geteilte Auffassung des BSG "für den besonderen Zusammenhang zutrifft", in dem das BSG zu entscheiden hatte, nämlich "unter dem Gesichtswinkel des BVG".

Der Auffassung des LSG, beim Kläger habe es an einem "zivilen" Arbeitsverhältnis gefehlt, weil sein Arbeitsverhältnis staatlicher Genehmigung bedurft und nicht dem Schutz der französischen Sozialversicherung unterlegen habe, kann nicht zugestimmt werden. Das Vorliegen eines Arbeitsverhältnisses - mindestens auf Grund der Eingliederung des Klägers in den Betrieb seines französischen Arbeitgebers - hat das LSG zutreffend nicht in Frage gestellt. Aus welchen Gründen das nicht näher dargestellte Erfordernis staatlicher Genehmigung diesem Arbeitsverhältnis den Charakter des "zivilen" zu nehmen vermochte, ist in den Urteilsgründen nicht ausgeführt. Es kommt darauf aber auch nicht an; denn die Vierte Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit betrifft gerade die in Frankreich nach einheitlichen Richtlinien begründeten freien Arbeitsverhältnisse, zu denen auch die Tätigkeit des Klägers gehörte, und läßt keinen Zweifel an deren Abgrenzung gegenüber der echten Kriegsgefangenschaft zu. Auch der fehlende Schutz der französischen Sozialversicherung ändert nichts an dem zivilen Charakter des Arbeitsverhältnisses, in dem der Kläger während seiner Tätigkeit auf dem Gut in Sully stand. Wenn auch der weitgehend an den Begriff des zivilen Arbeitsverhältnisses gebundene Begriff des entgeltlichen Beschäftigungsverhältnisses regelmäßig als Anknüpfungspunkt für Sozialversicherungspflicht und Sozialversicherungsschutz dient (vgl. §§ 165 Abs. 2, 537 Nr. 1 und 1227 Abs. 1 Nr. 1 RVO), so gibt es doch zahlreiche Arbeitsverhältnisse, die auf Grund ihrer Besonderheit von der Versicherungspflicht ausgenommen sind (vgl. §§ 168 Abs. 1, 169, 541, 1228, 1229 RVO). Eine solche Besonderheit ist auch die außerhalb Deutschlands ausgeübte Tätigkeit des unter besonderen Bedingungen in ein freies Arbeitsverhältnis überführten Kriegsgefangenen. Der Schluß des LSG, es habe sich wegen fehlenden Sozialversicherungsschutzes beim Kläger nicht um ein ziviles Arbeitsverhältnis gehandelt, ist daher nicht gerechtfertigt.

Schließlich kann auch nicht angenommen werden, das Arbeitsverhältnis des Klägers sei mit Ablauf der einjährigen Verpflichtungszeit erloschen, so daß der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls wieder Kriegsgefangener gewesen sein müsse. Galt nämlich die Kriegsgefangenschaft durch Aufnahme in ein ziviles Arbeitsverhältnis als beendet, so konnte der Kläger nicht ohne weiteres wieder Kriegsgefangener werden, zumal ein auf diesen Erfolg gerichtetes Handeln der Gewahrsamsmacht fehlte (vgl. BSG in BVBl 1962, 19). Abgesehen davon handelte es sich im vorliegenden Fall um eine stillschweigende Verlängerung des zunächst für die Dauer eines Jahres eingegangenen Arbeitsverhältnisses, denn der Kläger setzte seine Arbeit am gleichen Arbeitsplatz auch nach Ablauf der ursprünglich dafür vorgesehenen Zeit unter den gleichen Bedingungen fort.

War somit der Kläger bei seinem Unfall am 15. September 1949 nicht mehr Kriegsgefangener, so steht ihm ein Versorgungsanspruch wegen der dabei erlittenen Gesundheitsschädigungen und ihrer Folgen nicht zu. Die Urteile der Vorinstanzen, die dies unter Verletzung des § 1 Abs. 2 Buchst. b BVG verkannt haben, mußten daher aufgehoben werden. Ferner mußte die Klage, soweit mit ihr Ansprüche gegen den Beklagten erhoben wurden, abgewiesen werden.

Mit der Entscheidung über den Versorgungsanspruch des Klägers ist jedoch der Streitgegenstand nicht erschöpft. Es ist, nachdem feststeht, daß der Kläger keine Versorgungsansprüche gegen den Beklagten hat, noch über den Anspruch gegen die Beigeladene nach Art. 3 § 1 der Vierten Zusatzvereinbarung zum Allgemeinen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreich über die soziale Sicherheit vom 10. Juli 1950 zu entscheiden. Eine solche Entscheidung hatte der Kläger im Berufungsverfahren auch ausdrücklich begehrt; denn er hatte mit Schriftsatz vom 29. Mai 1958 für den Fall, daß das LSG sich der Auffassung des Beklagten anschließen würde, um Feststellung des zuständigen Versicherungsträgers und Verweisung an das zuständige Gericht gebeten. Damit hatte er sinngemäß hilfsweise Ansprüche gegen den Beigeladenen geltend gemacht, über die das LSG nur deshalb nicht entscheiden konnte, weil es dem Hauptantrag des Klägers bereits stattgegeben hatte. Der Hilfsantrag ist zwar nicht in die Niederschrift der Verhandlung vor dem LSG vom 16. Juli 1958 aufgenommen worden. Es spricht aber nichts dafür, daß der Kläger seinen Hilfsantrag fallen lassen wollte. Das Ziel der Klage ist unter verständiger Würdigung des Vorbringens des Klägers zu ermitteln; hier ist es in dem in der mündlichen Verhandlung formulierten Antrag nur unvollständig zum Ausdruck gekommen. Nach § 123 Abs. 1 SGG hat das Gericht aber über die erhobenen Ansprüche zu entscheiden und ist nicht an die Fassung der Anträge gebunden. § 75 Abs. 5 SGG läßt in einem Verfahren, das Ansprüche aus der KOV betrifft, die Verurteilung eines beigeladenen Versicherungsträgers der Sozialversicherung zu. Nach dieser Vorschrift kann ein Versicherungsträger oder in Angelegenheiten der Kriegsopferversorgung ein Land nach Beiladung verurteilt werden. Damit ist nicht die Verurteilung eines Versicherungsträgers, der in einem auf die Gewährung von Versorgungsleistungen gerichteten Verfahren beigeladen wurde, ausgeschlossen. Das ergibt sich aus dem Zusammenhang des § 75 Abs. 5 mit Abs. 1 und 2 SGG und dem Zweck des § 75 SGG, möglichst in einem Verfahren über Ansprüche, die sich bei gleichem Sachverhalt aus dem Recht der Kriegsopferversorgung oder aus dem Recht der Sozialversicherung ergeben können, zu entscheiden. Das Gesetz hat durch die Fassung des § 75 Abs. 5 SGG nur klarstellen wollen, daß der auf dem Gebiete der Kriegsopferversorgung in Betracht kommende Leistungsträger, also ein Land in der gleichen Weise verurteilt werden kann wie ein Träger, der Sozialversicherung zu Leistungen aus dem Recht der Sozialversicherung. Es ging also davon aus, daß in allen Fällen einer Beiladung auch eine Verurteilung des Beigeladenen erfolgen könne. Die Voraussetzungen der Beiladung eines Versicherungsträgers in einem auf Gewährung von Versorgungsleistungen gerichteten Verfahren sind aber in § 75 Abs. 1 und 2 SGG geregelt. Damit sind auch hier die Voraussetzungen zur Entscheidung über den Anspruch des Klägers gegen die Beigeladene nach § 75 Abs. 5 SGG erfüllt.

Da das LSG die tatsächlichen und rechtlichen Umstände, die für die Beurteilung nach dem Recht der Unfallversicherung von Bedeutung sind, im einzelnen nicht gewürdigt hat und von seinem Rechtsstandpunkt aus auch weder festhalten noch zu erörtern brauchte, ist eine Entscheidung des BSG über die Ansprüche des Klägers gegen die Beigeladene nicht tunlich. Insoweit war daher die Sache gemäß § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, das im Schlußurteil auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2253213

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