Verfahrensgang

SG Stuttgart (Urteil vom 21.04.1993; Aktenzeichen S 6 U 3343/92)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. April 1993 wird verworfen.

Auf die Revision der Beigeladenen zu 1. wird das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. April 1993 aufgehoben.

Die Klage gegen die Bescheide der Prüfungskommission vom 6. November 1990 und 18. März 1991 wird abgewiesen.

Im übrigen wird die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Baden-Württemberg zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Der Kläger ist weitergebildeter Anästhesist und seit April 1985 als praktischer Arzt zur kassen- und vertragsärztlichen (inzwischen einheitlich: vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen bzw an ihr beteiligt. Er betreibt seit Beginn eine ausschließlich schmerztherapeutisch ausgerichtete Praxis.

Im Quartal I/90 belief sich seine durchschnittliche Honoraranforderung pro Patient im Ersatzkassenbereich auf 3.848,3 Punkte (Fallkostendurchschnitt der Allgemeinärzte: 702,1 Punkte), im Quartal II/90 auf 439,88 DM (Allgemeinärzte: 68,78 DM) und im Quartal III/90 auf 441,32 DM (Allgemeinärzte: 67,01 DM). Die Prüfungskommission verminderte die Gesamthonoraranforderungen des Klägers wegen Unwirtschaftlichkeit der Behandlungsweise im Quartal I/90 von 827.375 Punkten um 59.810 Punkte, im Quartal II/90 von 102.491,05 DM um 5.563,85 DM und im Quartal III/90 von 111.213,55 DM um 5.880,50 DM (Bescheide vom 6. November 1990 und 18. März 1991). Die Widersprüche des Klägers und des Verbandes der Angestellten-Krankenkassen (Beigeladener zu 2) wies die beklagte Beschwerdekommission mit Bescheid vom 23. August 1991 zurück. Zur Begründung führte sie ua aus, die Behandlungskosten des Klägers könnten wegen der besonderen Praxisausrichtung und des besonderen Leistungsspektrums weder mit den Durchschnittswerten der Allgemeinärzte noch mit denen der Anästhesisten verglichen werden. Die Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungsweise sei deshalb anhand eines Vergleichs mit den eigenen Durchschnittswerten aus den Abrechnungen für die Vorquartale IV/87 bis III/88 geprüft worden. Als tolerierbare Abweichung aufgrund von Schwankungen in der Patientenzusammensetzung sei die doppelte Standardabweichung (2 S) zugrunde gelegt worden; die bei den einzelnen Leistungen darüber hinausgehenden Ansätze seien unwirtschaftlich.

Das dagegen angerufene Sozialgericht (SG) Stuttgart hat die Bescheide der Prüfungskommission vom 6. November 1990 und 18. März 1991 in der Gestalt des Bescheides der Beschwerdekommission vom 23. August 1991 aufgehoben (Urteil vom 21. April 1993). Zur Begründung hat das SG dargelegt, die Prüfung der Wirtschaftlichkeit anhand der eigenen Abrechnungen des Arztes aus Vorquartalen stellte sich nicht als Prüfung nach Durchschnittswerten iS des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (SGB V) dar und sei von den Partnern des Arzt-/Ersatzkassenvertrages (EKV-Ärzte) auch nicht als weitere Prüfungsart vereinbart worden. Für die von den Prüfgremien angewandte Prüfungsart gebe es somit weder eine gesetzliche noch eine vertragliche Rechtsgrundlage mit der Folge, daß sich die Kürzungsbescheide als rechtswidrig erwiesen.

Mit den vom SG zugelassenen Sprungrevisionen rügen die Beklagte und die zu 1. beigeladene Kassenärztliche Vereinigung (KÄV) eine Verletzung materiellen Rechts. Entgegen der im angefochtenen Urteil vertretenen Auffassung falle die Prüfung anhand der eigenen Durchschnittswerte eines Arztes aus Vorquartalen unter den Begriff der Durchschnittsprüfung iS des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V, wie bereits der bewußt weit gefaßte Wortlaut der Vorschrift ergebe. Einer besonderen Vereinbarung dieser Prüfungsart habe es deshalb nicht bedurft. Die für die Überwachung des Wirtschaftlichkeitsgebotes zuständigen Prüfungsgremien seien gem § 20 Abs 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) verpflichtet, den Sachverhalt von Amts wegen in jeder Richtung aufzuklären. Das könne, wie das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden habe, erforderlichenfalls auch im Wege eines Vergleichs der Honoraranforderungen des Vertragsarztes mit eigenen Vorquartalsabrechnungen geschehen, wenn auf andere Weise keine verwertbaren Erkenntnisse zu gewinnen seien.

Die Beklagte und die Beigeladene zu 1. beantragen,

die Klage unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Stuttgart vom 21. April 1993 abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revisionen zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene zu 2. beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 29. (richtig: 21.) April 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Er trägt vor, der von der Beklagten vorgenommene Vergleich mit Durchschnittswerten aus eigenen Honorarabrechnungen des Klägers werde von der Prüfung nach Durchschnittswerten gem § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V erfaßt. Der Gesetzgeber habe diese nach altem Recht als zulässig erachtete Prüfung mit der Regelung des § 106 SGB V nicht einschränken, sondern die Wirtschaftlichkeitsprüfung lediglich auf eine gesetzliche Grundlage stellen wollen. In der Sache könne die Klage keinen Erfolg haben. Der Kläger habe die eigenen Vergleichswerte aus den Vorquartalen erheblich überschritten, so daß er hätte darlegen müssen, inwieweit sich sein Patientengut in den streitigen Quartalen anders zusammengesetzt habe als in den Vergleichsquartalen. Dieser Darlegungspflicht sei er nicht nachgekommen.

Der Beigeladene zu 3. hat keinen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist unzulässig, denn sie ist verspätet eingelegt worden.

Die Revision ist gem § 164 Abs 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bei dem BSG innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils schriftlich einzulegen. Die Revisionseinlegungsfrist endete am 27. Mai 1993. Zwar ist innerhalb der Revisionseinlegungsfrist der Schriftsatz der Beklagten vom 24. Mai 1993 eingegangen. Er bezieht sich aber lediglich auf eine – vermeintlich – eingelegte Revision und kann selbst nicht als Revisionsschrift gewertet werden. Die eigentliche Revisionseinlegung erfolgte erst durch Schriftsatz vom 13. Mai 1993, der am 1. Juni 1993 und damit verspätet beim BSG eingegangen ist. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 Abs 1 SGG) war nicht zu gewähren. Der von der Beklagten geltend gemachte Wiedereinsetzungsgrund läßt nicht erkennen, daß sie ohne Verschulden an einer rechtzeitigen Einlegung der Revision gehindert war.

Die zulässige Revision der Beigeladenen zu 1. ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an die Tatsacheninstanz zurückzuverweisen ist. Der Senat kann aufgrund der bisher getroffenen Feststellungen über die Rechtmäßigkeit der umstrittenen Honorarkürzung nicht abschließend entscheiden.

Soweit die Klage allerdings auf Aufhebung der Bescheide der am Verfahren nicht beteiligten Prüfungskommission gerichtet ist, erweist sie sich als unzulässig; denn Gegenstand der vom Kläger erhobenen Anfechtungsklage kann entgegen der Ansicht des SG zulässigerweise allein der Bescheid der beklagten Beschwerdekommission, die seit der Neuregelung des Rechts der Wirtschaftlichkeitsprüfung durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) paritätisch besetzt ist (§ 106 Abs 7 iVm Abs 4 Satz 2 SGB V idF des GRG), sein. Eine gerichtliche Anfechtung des im Verfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung von der Prüfungskommission erlassenen Bescheides scheidet – von bestimmten, hier nicht in Betracht kommenen Ausnahmen abgesehen – aus Rechtsgründen aus; eine darauf gerichtete Klage ist unzulässig (vgl das Urteil des Senats vom 9. März 1994 – 6 RKa 5/92 – = SozR 3-2500 § 106 Nr 22 mwN).

Auch soweit es der Anfechtungsklage gegen den Bescheid der Beklagten vom 23. August 1991 stattgegeben hat, kann das vorinstanzliche Urteil keinen Bestand haben. Das SG hat die Aufhebung dieses Bescheides damit begründet, daß es für die im Fall des Klägers zur Prüfung der Wirtschaftlichkeit der Behandlungsweise angewandte Methode des Vergleichs mit eigenen Fallkostendurchschnitten früherer Abrechnungsquartale keine Rechtsgrundlage gebe. Zugelassen seien nach der als abschließend zu bewertenden Regelung des § 106 Abs 2 SGB V nur die im Gesetz genannten oder vertraglich besonders vereinbarten Prüfungsarten. Da das hier praktizierte Verfahren weder im SGB V vorgesehen noch von den Partnern des Arzt-/Ersatzkassenvertrages (EKV-Ärzte) vereinbart worden sei, könnten die mit seiner Hilfe gewonnenen Erkenntnisse schon aus formal-verfahrensrechtlichen Gründen nicht Grundlage einer Honorarkürzung sein. Diese Ausführungen halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand.

Rechtsgrundlage für die arztbezogene Wirtschaftlichkeitsprüfung ärztlicher Leistungen ist § 106 SGB V, dessen Absätze 1 bis 6 gem Abs 7 der Vorschrift in ihrer hier maßgebenden, bis zum 31. Dezember 1992 geltenden Fassung für die Überwachung der Wirtschaftlichkeit der vertragsärztlichen Versorgung der Ersatzkassenpatienten entsprechend gelten. Die Vorschrift legt den Krankenkassen und den KÄVen die Verpflichtung auf, die Wirtschaftlichkeit der kassen- bzw vertragsärztlichen Versorgung durch gemeinsame Prüfungseinrichtungen zu überwachen. Die Prüfungseinrichtungen haben festzustellen, ob im Einzelfall gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot verstoßen wurde, und ggf zu entscheiden, welche Maßnahmen zu treffen sind. Für die Durchführung der Prüfung sieht § 106 Abs 2 Satz 1 SGB V in der hier noch anzuwendenden Fassung des GRG bestimmte Prüfungsarten vor, nämlich die arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen nach Durchschnittswerten (Nr 1 aaO), die arztbezogene Prüfung bei Überschreitung der Richtgrößen für verordnete Leistungen nach § 84 SGB V (Nr 2 aaO) und die arztbezogene Prüfung ärztlicher und ärztlich verordneter Leistungen auf der Grundlage von Stichproben (Nr 3 aaO). Über diese Regelung hinausgehend eröffnet § 106 Abs 2 Satz 3 SGB V den Landesverbänden der Krankenkassen und den KÄVen gemeinsam die Möglichkeit, andere als die in Satz 1 Nr 1 bis 3 aaO vorgesehenen arztbezogenen Prüfungsarten zu vereinbaren.

Die vom Gesetz als Regelprüfungsart angesehene arztbezogene Prüfung nach Durchschnittswerten (§ 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V) basiert auf einer Gegenüberstellung der durchschnittlichen Fallkosten des geprüften Arztes einerseits und der Gruppe vergleichbarer Ärzte andererseits. Anknüpfungspunkt für die Beurteilung der Wirtschaftlichkeit ist somit der durchschnittliche Behandlungsaufwand der Ärzte der Vergleichsgruppe in dem zu prüfenden Quartal. Davon unterscheidet sich der von der beklagten Beschwerdekommission vorgenommene Vergleich darin, daß die Honoraranforderungen des Klägers in den geprüften Quartalen mit einem aus seinen Abrechnungswerten früherer Quartale ermittelten Durchschnittswert verglichen worden sind. Es kann dahingestellt bleiben, ob dieses als sog „Vertikalvergleich” (Raddatz, Die Wirtschaftlichkeit der kassenärztlichen und kassenzahnärztlichen Versorgung in der Rechtsprechung – WKR –, 6.3.2) bezeichnete Vorgehen, für das auch der EKV-Ärzte keine ausdrückliche Regelung enthält, als Modifikation der Prüfung nach Durchschnittswerten der Prüfungsart des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V zuzurechnen ist (so wohl Clemens in: Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, Bd 1, 1994, § 35 RdNr 8) oder – wie das SG gemeint hat – den Voraussetzungen der genannten Vorschrift nicht entspricht (in diesem Sinne auch Spellbrink, Wirtschaftlichkeitsprüfung im Kassenarztrecht nach dem Gesundheitsstrukturgesetz ≪GSG≫, 1994, RdNr 544); denn entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung ist eine Wirtschaftlichkeitsprüfung auf der Grundlage anderer Prüfungsarten rechtlich jedenfalls dann zulässig und geboten, wenn die Prüfung nach den in § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 bis 3 SGB V aufgeführten und den von den Vertragspartnern zusätzlich vereinbarten Prüfungsarten keine verwertbaren Ergebnisse zu erbringen vermag. Dem Gesetz ist keine generelle Beschränkung auf die gesetzlich vorgesehenen oder vertraglich vereinbarten Prüfungsarten zu entnehmen. Eine Auslegung der maßgeblichen Vorschriften in diesem Sinne stünde im Widerspruch zur Überwachungsverpflichtung des § 106 Abs 1 SGB V; sie verkehrte zudem die normativen Vorgaben des GRG ins Gegenteil und begegnete auch verfassungsrechtlichen Bedenken.

Wie bereits ausgeführt, leitet sich aus der Regelung des § 106 Abs 1 SGB V nicht nur die Befugnis, sondern vielmehr die Verpflichtung der Krankenkassen und der KÄVen als Träger der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen ab, die Wirtschaftlichkeit der kassen-/vertragsärztlichen Versorgung zu überwachen. Dieses Verständnis der Vorschrift wird durch Sinn und Zweck verschiedener, durch das GRG neugefaßter Regelungen des Krankenversicherungsrechts belegt. Es war eines der Hauptanliegen dieser Neuregelungen, die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Leistungserbringung stärker herauszustellen und dieses Vorhaben rechtlich abzusichern (vgl dazu aus der Begründung des Gesetzesentwurfs BT-Drucks 11/2237, Allg Teil A I, S 132; II 1, S 137; III 2, S 142; V 3, S 150 ua). Demgemäß wendet sich das im Gesetz an mehreren Stellen verankerte Wirtschaftlichkeitsgebot nicht nur an die Versicherten und beschränkt insoweit deren Ansprüche (vgl § 2 Abs 1, Abs 4, § 12 Abs 1; § 27 Abs 1 SGB V: nur „notwendige” Krankenbehandlung); es gilt ebenso sowohl für die Krankenkassen und die Leistungserbringer allgemein (§ 70 Abs 1 SGB V) als auch speziell für die an der kassen-/vertragsärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte (§ 72 Abs 2 SGB V) sowie andere Leistungserbringer (vgl zB § 113 SGB V). Mit dieser umfassenden Absicherung des Wirtschaftlichkeitsgebotes ging eine strikte Verpflichtung zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Leistungserbringer einher, weil diese „im gesundheitlichen Versorgungssystem eine Schlüsselstellung einnehmen” (Begründung des Gesetzentwurfs in BT-Drucks, aaO, A II 1, S 137; vgl auch aaO, V 3, S 150). Demgemäß wurde in § 106 SGB V nicht nur das unter der Geltung der RVO in der Praxis der Prüfungsgremien entwickelte und durch die Rechtsprechung bestätigte statistische Prüfverfahren gesetzlich abgesichert; es wurden zugleich auch weitere Prüfungsarten eingeführt, „um die Nachteile einer ausschließlich an Durchschnittswerten orientierten Prüfung, zB durch eine Annäherung an die Fachgruppendurchschnitte, auszuschließen” (Begründung des Gesetzentwurfs, BT-Drucks, aaO, zu § 114, S 196).

Einer Gesetzesinterpretation, die im Ergebnis dazu führt, daß Gruppen von ärztlichen Leistungserbringern nicht geprüft werden können, weil die in § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 bis 3 SGB V vorgesehenen oder die vereinbarten Prüfungsarten ungeeignet sind, kann angesichts dieser Zusammenhänge nicht gefolgt werden. Sie steht im direkten Wertungswiderspruch zu den aufgezeigten gesetzlichen Vorgaben. Sie hätte nämlich zur Folge, daß die Prüfungseinrichtungen ihrer gesetzlichen Verpflichtung zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit in Teilbereichen nicht nachkommen könnten und das Wirtschaftlichkeitsgebot für die betreffenden Ärzte faktisch außer Kraft gesetzt würde. Darin läge zugleich ein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG), weil einzelne Leistungserbringer ohne sachlichen Grund von der Wirtschaftlichkeitsprüfung ausgenommen blieben.

Der hier vertretenen Auffassung kann nicht ernsthaft der Einwand entgegengehalten werden, die Verbände der Krankenkassen und die KÄVen könnten – ihrer Befugnis aus § 106 Abs 2 Satz 3 SGB V entsprechend – von vornherein geeignete Prüfungsarten vereinbaren, so daß die Situation, daß ärztliche Leistungserbringer mangels zugelassener Prüfungsarten einer Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht unterzogen werden könnten, nicht eintreten könne. Diese Sichtweise reduziert zum einen die gesetzliche Verpflichtung zur Überwachung der Wirtschaftlichkeit der kassen-/vertragsärztlichen Versorgung in ihrer konkreten Ausprägung zum Teil auf den Bereich, über den sich die Vertragspartner einigen konnten. Zum anderen verkennt ein derartiges Verständnis die praktischen Anforderungen der Wirtschaftlichkeitsprüfung, wie sie sich seit Jahrzehnten in der Rechtsprechung des erkennenden Senats widerspiegeln. Die Prüfungsgremien stehen aufgrund einer ständig zunehmenden Differenzierung ärztlicher Leistungserbringung in der ambulanten Praxis, der Bildung neuer Behandlungsschwerpunkte sowie des Einsatzes neuer technischer Entwicklungen sowohl bei der ärztlichen Behandlung als auch bei der Abrechnung ärztlicher Leistungen vor Problemstellungen, die sie mit den bisher bekannten und angewandten Prüfungsarten jedenfalls teilweise nur unzureichend zu lösen vermögen. Es obliegt mithin den Prüfungsgremien schon aufgrund ihrer Zuständigkeit zur Durchführung der Wirtschaftlichkeitsprüfung, sachgerechte Prüfungsarten (= Beweismethoden) zu entwickeln, deren Geeignetheit ggf von der Rechtsprechung zu überprüfen ist. Der Senat hat daher bereits früher darauf hingewiesen, daß die Prüfungsgremien im Verwaltungsverfahren der Wirtschaftlichkeitsprüfung gem § 20 SGB X verpflichtet sind, den Sachverhalt bezüglich der Frage, ob der zu prüfende Arzt unwirtschaftlich gehandelt hat oder nicht, mit allen dazu geeigneten Beweismitteln aufzuklären (BSGE 70, 246, 251 f = SozR 3-2500 § 106 Nr 10). Es besteht kein Anlaß, hiervon angesichts der Regelung des § 106 Abs 2 Satz 3 SGB V abzugehen; denn die Befugnis, neben den im Gesetz vorgesehenen Prüfungsarten weitere zu vereinbaren, ist nicht eingeräumt worden, um de facto die Prüfungsbefugnis der Prüfungsgremien zu beschränken, sondern vielmehr, um das vorgegebene Prüfungsspektrum erweitern zu können.

Aus allem ergibt sich, daß die Prüfungsgremien neue Prüfungsarten, dh auch solche, die nicht gem § 106 Abs 2 Satz 3 SGB V vereinbart worden sind, anwenden dürfen, sofern weder die gesetzlich vorgesehenen noch die vereinbarten Prüfungsarten zur Durchführung einer sachgerechten Wirtschaftlichkeitsprüfung geeignet sind.

Unter den nachfolgend genannten Voraussetzungen liegen auch keine durchgreifenden rechtlichen Bedenken dagegen vor, aus dem Vergleich der Honoraranforderungen eines Arztes in einem Quartal mit Durchschnittswerten aus seinen Honorarabrechnungen in früheren Quartalen auf die Unwirtschaftlichkeit der von ihm abgerechneten Leistungen zu schließen.

Verwaltungspraxis und Rechtsprechung haben es schon in der Vergangenheit als sachgerecht angesehen, den in Vorquartalen erbrachten Leistungsumfang als Beurteilungskriterium für die Wirtschaftlichkeit der Leistungserbringung ergänzend mit heranzuziehen (vgl BSGE 11, 102, 114 f für die Schätzung des unwirtschaftlichen Mehraufwandes; BSGE 17, 79, 86 = SozR Nr 5 zu § 368n RVO für die Verfeinerung des Vergleichsmaßstabes; BSGE 46, 136, 140 = SozR 2200 § 368n Nr 14 und BSG SozR 3-2500 § 106 Nr 14 für die Festlegung des offensichtlichen Mißverhältnisses; BSGE 50, 84, 87 = SozR 2200 § 368e Nr 4 und BSG SozR 2200 § 368n Nr 31 für die Quantifizierung einer Praxisbesonderheit; BSG SozR 2200 § 368n Nr 19 für die Ausübung des Kürzungsermessens). Sofern keine andere geeignete Prüfungsart zur Verfügung steht, kann ein solcher „Vertikalvergleich” auch als alleinige Prüfmethode in Betracht kommen und verwertbare Erkenntnisse über die Wirtschaftlichkeit der ärztlichen Tätigkeit erbringen. Allerdings kann die Rechtfertigung dieses Vertikalvergleichs sich nicht auf die der Regelung des § 106 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB V zugrundeliegende Fiktion stützen, nach der davon auszugehen ist, daß die Gesamtheit der Ärzte einer Vergleichsgruppe im Durchschnitt gesehen wirtschaftlich handelt. Stattdessen wird der Durchschnittswert der eigenen Honoraranforderungen des geprüften Arztes als Vergleichsmaßstab zugrunde gelegt, selbst wenn es keinerlei Beleg dafür gibt, daß der von ihm in diesen Quartalen erbrachte Leistungsumfang dem Wirtschaftlichkeitsgebot entsprochen hat. Bereits die in dieser Vorgehensweise liegende Begünstigung des im Vertikalvergleich geprüften Arztes im Verhältnis zu anderen Ärzten schließt eine allgemeine Anwendung dieser Prüfungsmethode aus. Auf sie darf daher, wie bereits oben ausgeführt, ausschließlich in den Fällen zurückgegriffen werden, in denen die Prüfung nach anderen Prüfungsarten, etwa wegen der Unvergleichbarkeit des Leistungsspektrums, ausscheidet.

Darüber hinaus sind bei dem Vertikalvergleich verschiedene Anforderungen zu beachten, um Zufallsergebnisse zu vermeiden. Voraussetzung für seine Zulässigkeit ist zunächst, daß sich sowohl Patientengut als auch Behandlungsstruktur in den zu vergleichenden Zeiträumen nicht wesentlich geändert haben. Weiter sind für die Bildung des Durchschnittswertes mindestens vier aufeinanderfolgende Quartale zugrunde zu legen. Ausgeschlossen muß schließlich sein, daß es sich bei dem geprüften Quartal um ein einzelnes aus der Reihe fallendes „Spitzenquartal” handelt. Ob den so ermittelten Durchschnittswerten – wie im vorliegenden Verfahren von der Beklagten praktiziert – wegen möglicher Schwankungen in der Patientenstruktur hierfür noch ein Zuschlag hinzuzufügen ist, mag dahingestellt bleiben, weil derartige Schwankungen bereits durch die Bildung des Durchschnittswertes berücksichtigt worden sind. Liegen die genannten Voraussetzungen vor, kommt den so ermittelten Durchschnittswerten dieselbe Funktion zu, die das „offensichtliche Mißverhältnis” bei der statistischen Vergleichsmethode hat. Den Arzt trifft ab dem Überschreiten der Durchschnittswerte die Beweislast für die Wirtschaftlichkeit seiner Behandlungsweise.

Der Senat kann nicht abschließend beurteilen, ob der angefochtene Bescheid der Beklagten den aufgezeigten Anforderungen entspricht, weil insoweit hinreichende tatsächliche Feststellungen fehlen. Zwar lagen der Bildung der Durchschnittswerte vier aufeinanderfolgende Quartale zugrunde, und die geprüften Quartale waren durch eine stetige Steigerung insbesondere beim Gesamtfallwert gekennzeichnet. Die Praxis des Klägers war weiterhin seit ihrer Eröffnung ausschließlich schmerztherapeutisch ausgerichtet, was gegen eine – vom Kläger im gerichtlichen Verfahren geltend gemachte – Veränderung in der Patientenstruktur sprechen könnte, die zudem nur beachtlich wäre, wenn sie zwischen den Vergleichsquartalen IV/87 bis III/88 und den geprüften Quartalen I bis III/90 eingetreten wäre. Das SG hat – von seiner Auffassung ausgehend zu Recht – hierzu und zu der vom Kläger weiter dargelegten Fortentwicklung des schmerztherapeutischen Behandlungsstandards und einer damit verbundenen Kostensteigerung keine Feststellungen getroffen. Das LSG, an das die Sache gem § 170 Abs 4 Satz 1 SGG zurückverwiesen worden ist, wird die diesbezüglichen Feststellungen nachzuholen und bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174296

AusR 1995, 10

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