Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfälle im privaten Bereich

 

Leitsatz (redaktionell)

Befinden sich die Betriebs- und Wohnräume innerhalb eines Gebäudes, so steht der Versicherte auf dem Weg von der Wohnung zur Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit grundsätzlich nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, solange er den persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hat, es sei denn, daß dieser wesentlich auch betrieblichen Zwecken dient.

Eine Treppe im Hausflur eines Gebäudes, in dem sich die Betriebs- und Wohnräume befinden, wird vom Unternehmer und seinem Ehegatten nicht deshalb wesentlich zu betrieblichen Zwecken benutzt, weil sie die im Obergeschoß innerhalb der Wohnräume liegende Toilette auch vom Geschäft aus aufsuchen; zu betrieblichen Zwecken können nur die im Geschäft beschäftigten Arbeitnehmer die Treppe benutzen.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30, § 543 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 7. Juli 1971 und des Sozialgerichts Kiel vom 8. Juli 1970 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Die Klägerin war als Unternehmerin eines Milcheinzelhandelsgeschäftes bei der Beklagten gegen Arbeitsunfall versichert. Das Geschäft lag in einem Wohnhaus, in dem auch die Klägerin wohnt. Der Laden und ein angrenzender Büroraum befanden sich im Erdgeschoß dieses Hauses, während die übrigen Räume des Erdgeschosses einschließlich einer dazugehörigen Toilette an Dritte vermietet waren. Die im ersten Stockwerk gelegene Privatwohnung der Klägerin war über einen Hausflur und eine Treppe zu erreichen. Im Treppenhaus des ersten Stockwerkes befand sich auch die einzige für private Zwecke sowie für den Geschäftsbetrieb zur Verfügung stehende Toilette. Im Geschäft wurde die Klägerin bei der Arbeit von ihrem Ehemann und einem jungen Mädchen unterstützt.

Am 19. Januar 1970 erstattete die Klägerin eine Unfallanzeige, wonach sie sich am 16. Dezember 1969 auf der Treppe von der Wohnung in den Laden bei einem Sturz Verletzungen zugezogen habe. Sie gab an, sie habe die Toilette aufgesucht und sei auf dem Rückweg in den Laden auf der viertletzten Stufe abgerutscht und gefallen.

Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 23. Februar 1970 Entschädigungsleistungen ab, da die Klägerin zur Zeit des Unfalls nicht unter Versicherungsschutz gestanden habe; dieser beginne erst mit dem Erreichen der Geschäftsräume.

Die Klägerin hat Klage erhoben.

Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. Juli 1970 die Beklagte verurteilt, die Klägerin wegen der Folgen des Unfalls vom 16. Dezember 1969 zu entschädigen. Es hat ausgeführt: Werde die neben der Wohnung gelegene Toilette auch von den anderen im Milch- und Lebensmittelgeschäft der Klägerin tätigen Personen benutzt, so dehne sich die betriebliche Sphäre auch auf diesen Raum aus. Das Bundessozialgericht (BSG) habe außerdem ständig die Auffassung vertreten, daß der Unfallversicherungsschutz nicht entfalle, wenn eine private Besorgung nach natürlicher Betrachtungsweise nur zu einer geringfügigen Unterbrechung der versicherten Tätigkeit führe.

Die Beklagte hat Berufung eingelegt.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung mit Urteil vom 7. Juli 1971 zurückgewiesen und zur Begründung u. a. ausgeführt: Die Toilette habe sich nicht innerhalb der Wohnung der Klägerin befunden, sondern lediglich im Hausflur des Gebäudes, in welchem sowohl ihre Wohnung als auch ihre Geschäftsräume gelegen hätten. Deshalb könne die Toilette nicht ausschließlich als Teil der Wohnung und damit allein zum Privatbereich der Klägerin gehörig angesehen werden. Sie gehöre vielmehr mindestens im gleichen Umfang zur Wohnung und zum Betrieb der Klägerin. Das ergebe sich insbesondere daraus, daß sie während der Geschäftsstunden mindestens überwiegend von den Betriebsräumen aus aufgesucht wurde, und zwar nicht nur von der Klägerin und ihrem mithelfenden Ehemann, sondern auch von der ständig beschäftigten Verkaufskraft. Ganz besonders deutlich werde es auch daraus, daß die Toilette, nachdem die Klägerin das Geschäft aufgegeben habe, von den jetzt im Laden tätigen Personen benutzt werden müsse. Für die Frage der Betriebszugehörigkeit spiele es nicht nur eine Rolle, daß die Toilette zur Zeit des Unfalls für die im Ladengeschäft tätige Verkäuferin zur Verfügung gehalten werden mußte. Es könne auch nicht außer acht gelassen werden, daß sie während der Geschäftszeit vom Laden aus auch seitens der weiteren dort tätigen Personen, nämlich von der Klägerin und ihrem Ehemann, aufgesucht wurde. Daraus folge, daß die Toilette in rechtlich wesentlichem Umfange dem Betrieb zuzurechnen sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt.

Sie trägt vor: Ein Unfall auf dem Gang zur Toilette könne zur Entschädigungspflicht führen, wenn er durch den mangelhaften Zustand oder eine andere Besonderheit in der Beschaffenheit der Betriebstoilette herbeigeführt worden sei-Dies sei hier aber nicht der Fall. Es sei deshalb unerheblich, ob die Treppe, auf der die Klägerin verunglückt sei, zur Arbeitsstätte zähle.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung bzw. entsprechender Änderung des angefochtenen Urteils nach den Anträgen in der Vorinstanz, insbesondere auf Klagabweisung, hilfsweise auf Zurückverweisung an die Vorinstanz zu erkennen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

II

Die zulässige Revision ist begründet.

Das LSG ist zunächst zutreffend davon ausgegangen, daß das Verrichten der Notdurft zu den zahlreichen anderen Verrichtungen gehört, ohne die zwar eine ordnungsgemäße Arbeitstätigkeit nicht möglich ist, die aber trotzdem grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (vgl. z. B. BSG SozR Nr. 45 zu § 543 RVO aF, vollständig abgedruckt in BG 1964, 252; BSG Urteile vom 31. Mai 1967 - 2 RU 218/64 - und vom 11. November 1971 - 2 RU 133/68 -). Die Erwägungen, die dazu geführt haben, den Versicherungsschutz für das Verrichten der Notdurft während der Arbeitszeit auf der Betriebsstätte im Regelfall zu bejahen (vgl. BSG Urteile vom 31. Mai 1967 und 11. November 1971 aaO; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-7. Aufl., S. 482 c m. w. N.), treffen im vorliegenden Fall nicht zu. Die Klägerin hat die Toilette nicht auf der Betriebsstätte, sondern in ihrer eigenen Wohnung aufgesucht. Befinden sich - wie hier - Betriebs- und Wohnräume innerhalb eines Gebäudes, so steht nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats ein Versicherter auf dem Weg von der Wohnung zur Aufnahme einer betrieblichen Tätigkeit grundsätzlich nicht unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, solange er den rein persönlichen Lebensbereich noch nicht verlassen hat (vgl. BSG 11, 267, 269; 12, 165, 166; SozR Nr. 20 zu § 543 RVO aF; vgl. auch Brackmann aaO Seite 480 w m. w. N.). Die Auffassung des LSG, die Klägerin habe den Unfall nicht mehr im häuslichen Bereich, sondern an einem Ort erlitten, der wesentlich auch zu betrieblichen Zwecken benutzt werde, setzt voraus, daß diese betriebliche Benutzung nicht nur selten oder gelegentlich stattfindet (vgl. BSG 11, 267, 270; Urteile vom 30. Juli 1968 - 2 RU 155/66 - und vom 11. November 1971 aaO; Brackmann aaO S. 480 w m. w. N.). Die Treppe im Hausflur ist hier nicht deshalb wesentlich zu betrieblichen Zwecken benutzt worden, weil die Klägerin und ihr Ehemann die Toilette auch vom Geschäft aus aufgesucht haben. Das Aufsuchen der Toilette durch die Klägerin und ihren Ehemann hing, wovon das LSG - wie bereits aufgezeigt - zunächst ebenfalls ausgegangen ist, mit deren persönlichen Lebensbereich zusammen. Zu "betrieblichen Zwecken" hätte nur die Verkäuferin den Weg durch das Haus zur Toilette im ersten Stockwerk benutzt, denn nur deren Aufsuchen der Toilette stand außerhalb ihres häuslichen Bereichs unter Versicherungsschutz.

Daß die Klägerin als Geschäftsinhaberin gehalten war, die Toilette ihrer Privatwohnung allgemein für Hilfskräfte ihres Geschäftes zur Verfügung zu stellen, rechtfertigt es ebenfalls nicht, die Treppe zur Toilette schon vor einer tatsächlichen wesentlichen Mitbenutzung für betriebliche Zwecke nicht zur privaten, sondern bereits zur betrieblichen Sphäre zu zählen.

Der Senat ist an die von der Revision nicht angegriffene Feststellung gebunden, daß die Verkäuferin - entgegen ihrer eigenen Aussage - die Toilette im ersten Stockwerk und damit die dorthin führende Treppe, auf der sich der Unfall ereignet hat, während ihrer Tätigkeit im Geschäft mitbenutzt hat. Im Rahmen der Gesamtbenutzung der Treppe im häuslichen Bereich bedeutet dies jedoch selbst dann keine wesentliche Mitbenutzung zu betrieblichen Zwecken, wenn man - mangels tatsächlicher Feststellungen des Berufungsgerichts - zugunsten der Klägerin davon ausgeht, daß die Verkäuferin ganztägig und nicht nur - wie sie und der Ehemann der Klägerin bekundet haben - halbtags tätig war. Dabei ist die gesamte Benutzung der Treppe zu privaten Zwecken und nicht nur das - gleichfalls eigenwirtschaftliche - Aufsuchen der Toilette durch die Klägerin und deren Ehemann vom Geschäft aus gegenüber der Mitbenutzung durch eine Hilfskraft im Betrieb zu berücksichtigen. Für eine darüber hinausgehende Benutzung der Treppe zu betrieblichen Zwecken sind den tatsächlichen Feststellungen des LSG sowie dem Vorbringen der Klägerin und dem gesamten Akteninhalt keine Anhaltspunkte zu entnehmen.

Die Klägerin ist somit in ihrem privaten Bereich verunglückt und hat im Zeitpunkt des Unfalls am 16. Dezember 1969 noch nicht wieder unter Versicherungsschutz gestanden. Ihre Klage auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung wegen dieses Unfalls war deshalb auf die Revision der Beklagten abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1670494

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