Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Wegeunfall. persönlicher Lebensbereich

 

Orientierungssatz

1. § 543 RVO ist nicht anwendbar, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte innerhalb desselben Gebäudes befinden (vgl BSG 1960-05-24 2 RU 122/59 = BSGE 12, 165).

2. Bei einem Unfall auf der Treppe eines Hauses, in dem sich Arbeitsstätte und Wohnung befinden, kommt es darauf an, ob ihre Benutzung für Betriebszwecke noch so wesentlich ist, daß sie noch ein Teil der Betriebsstätte ist.

 

Normenkette

RVO §§ 542-543

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 12.01.1966)

SG Mannheim (Entscheidung vom 26.06.1963)

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 12. Januar 1966 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Die Beteiligten streiten in erster Linie darüber, ob der Sturz der Klägerin am 15. Juli 1961 auf einer Treppe, die im Korporationshaus der Studentenverbindung "Arminia" in Heidelberg zu ihrer im Kellergeschoß dieses Hauses liegenden Hausmeisterwohnung führt, ein Arbeitsunfall ist. Über die Räumlichkeiten des Hauses sowie über die Begleitumstände des Unfalls enthält das angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Baden-Württemberg vom 12. Januar 1966 folgende tatsächliche Feststellungen:

"Die Treppe, auf der die Klägerin verunglückte, wird für private und betriebliche Zwecke benutzt. Sie verbindet die Hausmeisterwohnung und die darunter liegende Kegelbahn mit dem Hauseingang und dem über der Hausmeisterwohnung liegenden Festsaal und den anderen Räumen und Zimmern des insgesamt 7-stöckigen Korporationshauses. Am Unfalltag fand eine Veranstaltung (Stiftungsfest) im Studentenhaus statt. Dabei war die Klägerin nach dem zwischen ihr und der Eigenheim-Vereinigung H A e. V. abgeschlossenen Vertrag vom 15.6.1955, mit dem ihr die Stellung einer Hausmeisterin im Korporationshaus der K. D. Studentenverbindung A in H übertragen wurde, verpflichtet, die Küche zu übernehmen, zu bedienen und abzurechnen. Im Unfallzeitpunkt gegen 20.30 Uhr wollte die Klägerin ihr 3-jähriges Kind, das sie bislang bei sich in der Betriebsküche gehabt hatte, zu Bett bringen, und sie ist mit dem Kind auf dem Arm auf dem Wege von der Küche in die Wohnung die Steintreppe heruntergestürzt. Nach ihren Angaben bot sich gerade dieser Zeitpunkt an, weil die letzten Gäste gegen 20.30 Uhr verabschiedet worden waren. Da aber der Kommers in sämtlichen Räumen des Korporationshauses bis etwa 22.00 Uhr weitergegangen sei und auch zusätzliche Bedienungen, mit denen sie noch habe abrechnen müssen, an diesem Tage eingesetzt worden seien, habe sie aus betrieblichen Gründen unverzüglich nach dem Zubettbringen ihres Kindes wieder in die Betriebsräume zurückkehren müssen."

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 25. Juni 1962 die begehrte Unfallentschädigung, weil der Unfall sich nicht bei einer betrieblichen Tätigkeit, sondern bei einer privaten Verrichtung ereignet habe.

Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat auf Klage durch Urteil vom 26. Juni 1963 die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides verurteilt, den Unfall der Klägerin vom 15. Juli 1961 als Arbeitsunfall anzuerkennen und die gesetzlichen Leistungen zu gewähren.

Das LSG Baden-Württemberg hat durch das angefochtene Urteil die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:

Die Klägerin habe im Zeitpunkt des Unfalls die Treppe benutzt, um in ihrer Wohnung eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit zu verrichten. Sie habe diese Treppe immer betreten müssen, um in ihre Wohnung zu gelangen. Die Treppe diene aber auch wesentlich betrieblichen Zwecken. Nach dem Anstellungsvertrag habe die Klägerin die Stellung eines Hausmeisters; sie müsse das ganze Haus sauber halten. In den Stockwerken unterhalb der Wohnung der Klägerin befänden sich die Kegelbahn und der Heizungsraum; die Klägerin müsse nach dem Anstellungsvertrag die Heizung bedienen. Somit sei - mit Ausnahme ihrer Wohnung - das ganze Korporationshaus Arbeitsstätte der Klägerin. Dazu gehöre auch die zur Wohnung der Klägerin, aber auch zu anderen Räumen des Hauses, in denen die Klägerin arbeiten müsse, führende Treppe. Am Tage des Unfalls sei überdies, wie bei einem Stiftungsfest üblich, das ganze Haus, einschließlich der Kegelbahn, von den Angehörigen der Verbindung und ihren Gästen benutzt worden. Die Klägerin sei somit innerhalb der betrieblichen Sphäre verunglückt. Dieser Umstand reiche für die ursächliche Verknüpfung zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit aus. Es sei nicht erforderlich, daß an der Stelle, an der sich der Unfall ereignet habe, eine betriebliche Tätigkeit verrichtet werden sollte. Der mit der Zurücklegung des Weges verbundene eigenwirtschaftliche Zweck könne den Versicherungsschutz nicht aufheben. Deshalb sei nicht entscheidend, ob, worauf das SG abgestellt habe, die Klägerin sich in ihrer Wohnung, nachdem sie ihr Kind zu Bett gebracht habe, habe erfrischen und für ihre weitere Arbeitstätigkeit zurechtmachen wollen. Das Erstgericht habe jedoch auch diesen Gesichtspunkt zu Recht berücksichtigt. Die Klägerin sei nach ihren glaubhaften Angaben zuerst in der Betriebsküche tätig gewesen und habe, nachdem sie ihr Kind in die Wohnung gebracht habe, Gäste bedienen wollen. Dazu sei aber im betrieblichen Interesse erforderlich gewesen, daß sie vorher ihre Kleidung und Frisur in Ordnung brachte. Ihr Bedürfnis nach einer Erfrischung sei nach einem langen Arbeitstag, der, da sie nach dem Anstellungsvertrag für die Bewirtschaftung des Korporationshauses und die Betreuung der Gäste verantwortlich sei, ihren vollen Einsatz erfordert habe, ebenfalls durch betriebliche Umstände bedingt gewesen. Ohne rechtliche Bedeutung sei, daß sie diese - im allgemeinen eigenwirtschaftlichen - Verrichtungen in ihrem privaten Bereich habe erledigen wollen. Ein Arbeitsunfall liege somit vor. Die Beklagte sei dem Grunde nach zur Entschädigung zu verurteilen gewesen, weil mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden könne, daß ein Leistungsanspruch der Klägerin gegeben sei. Sie habe eine Gehirnerschütterung erlitten, die eine über die 13. Woche nach dem Unfall hinausgehende Minderung der Erwerbsfähigkeit bedinge. Die Klägerin habe bei ihrer polizeilichen Vernehmung am 20. März 1962 glaubhaft erklärt, daß sie noch Kopfschmerzen habe. Dem stehe nicht entgegen, daß ihr behandelnder Arzt Dr. Künzel auf Anfrage der Beklagten am 17. April 1962 - also zeitlich später - erklärt habe, daß die Klägerin wiederhergestellt sei.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Auffassung des Berufungsgerichts laufe darauf hinaus, daß allein schon die Anwesenheit eines Beschäftigten auf seiner Arbeitsstätte diesem den Unfallversicherungsschutz gegen alle Betriebsgefahren und seine Anwesenheit verbürge. Durch die Anwesenheit auf der Arbeitsstätte werde aber nur eine räumliche und örtliche Beziehung zur Betriebstätigkeit hergestellt. Es sei jedoch weiterhin erforderlich, daß der Versicherte sich zu betrieblichen Zwecken und im Interesse des Betriebes dort aufhalte. Das LSG habe selbst eingeräumt, daß die Klägerin den Weg zu ihrer Wohnung zu eigenwirtschaftlichen Zwecken zurückgelegt habe. Ein innerer Zusammenhang mit der Betriebstätigkeit liege somit nicht vor. Dieser werde auch nicht dadurch begründet, daß die Klägerin sich habe erfrischen wollen, bevor sie ihre betriebliche Tätigkeit habe fortsetzen wollen. Es sei für die Klägerin nicht notwendig gewesen, zu diesem Zweck ihre Wohnung aufzusuchen; dies hätte sie sicher auch in der Betriebsküche oder in einem für das weibliche Personal gewiß vorhandenen Waschraum tun können. Hätte für die Klägerin nicht die Notwendigkeit bestanden, ihr Kind zu Bett zu bringen, hätte sie ihre Wohnung bestimmt nicht aufgesucht. Überdies liege keine ordnungsgemäße tatsächliche Feststellung des Berufungsgerichts darüber vor, daß die Klägerin zur Zeit des Unfalls bereits einen langen Arbeitstag hinter sich und deshalb das Bedürfnis gehabt habe, sich zu erfrischen. Im übrigen trete gegenüber dem für die Klägerin vorrangigen Zweck, ihr Kind zu versorgen, eine etwaige betrieblich bedingte Notwendigkeit, sich zu erfrischen, völlig in den Hintergrund; ein solches Bedürfnis nach Erfrischung sei somit nur als Gelegenheitsursache des Unfalls anzusehen.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II

Der Senat hat ohne mündliche Verhandlung entschieden; die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) liegen vor.

Die Revision ist insofern begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.

Zutreffend ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, daß in der vorliegenden Streitsache die Frage des Unfallversicherungsschutzes der Klägerin auf dem Weg von der Betriebsküche zu ihrer ebenfalls im Korporationshaus gelegenen Wohnung sich nicht nach der Sondervorschrift für den Versicherungsschutz auf Wegen nach und von der Arbeitsstätte (§ 543 der Reichsversicherungsordnung idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - RVO aF, jetzt § 550 RVO) beurteilt. Nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG 11, 267; 12, 165), ist für diese Vorschrift kein Raum, wenn sich Wohnung und Arbeitsstätte - ungeachtet des hier vorliegenden Umstandes, daß sie räumlich voneinander getrennt sind - innerhalb desselben Gebäudes befinden. Zutreffend hat das LSG ferner für die Frage des Unfallversicherungsschutzes nach der - angesichts des Zeitpunkts des Unfalls maßgeblichen - Vorschrift des § 542 RVO aF als wesentlich angesehen, ob die Klägerin sich bereits in ihrem unversicherten persönlichen Lebensbereich befunden hatte, als sie auf der von der Betriebsküche zu ihrer Wohnung führenden Treppe stürzte. Dies hat das Berufungsgericht indessen zutreffend verneint. Nach seinen von der Revision nicht angegriffenen tatsächlichen Feststellungen führt diese Treppe von den in den oberen Stockwerken gelegenen, Korporationszwecken dienenden Räumen nicht nur zur Wohnung der Klägerin, sie muß auch betreten werden, um zu der unterhalb dieser Wohnung befindlichen Kegelbahn und zum Heizungskeller zu gelangen. Die vom Berufungsgericht hieraus gezogene Folgerung, die Treppe werde nicht so selten und nebensächlich für Betriebszwecke benutzt, daß sie zu dem ausschließlich dem persönlichen Lebensbereich der Klägerin zuzurechnenden Teil des Korporationshauses gehöre, ihre Benutzung für Betriebszwecke vielmehr so wesentlich sei, daß die Treppe noch ein Teil der Betriebsstätte der Klägerin sei, ist rechtlich unbedenklich (siehe auch BSG 11, 267, 270).

Ob dies - wie das Berufungsgericht annimmt, wogegen aber die Revision sich wendet - bereits genügt, um einen inneren Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit zu bejahen, bedarf indessen vorliegendenfalls keiner Entscheidung. Der Versicherungsschutz ist schon deshalb gegeben, weil die Klägerin ihre Wohnung auch aus betrieblichen Gründen aufgesucht hat. Ihr Aufenthalt in der Betriebsküche ist angesichts der dabei naturgemäß auftretenden Hitze- und Geruchseinwirkungen bereits als ausreichender Grund dafür anzusehen, daß die Klägerin sich in ihre Wohnung begeben hat, um sich für die nachfolgend beabsichtigte, anders geartete betriebliche Tätigkeit vorzubereiten. Die aus betrieblichen Gründen gebotene Notwendigkeit, sich zu erfrischen, sowie die Kleidung und Frisur in Ordnung zu bringen, ist für die Klägerin, wie das LSG mit Recht angenommen hat, nicht nur ein Nebenzweck dafür gewesen, in ihre Wohnung zu gehen. Somit hat die Klägerin den Weg dorthin nicht, wie die Revision annimmt, zurückgelegt, um bei Gelegenheit einer privaten Verrichtung etwas zu tun, was auch betrieblichen Zwecken diente. Nach den vom LSG getroffenen tatsächlichen Feststellungen, gegen welche die Revision keine begründeten Revisionsrügen vorgebracht hat, ist der betriebliche Zweck - neben der Notwendigkeit, das Kind zu Bett zu bringen - nach Lage des Falles vielmehr für die Zurücklegung des Weges rechtlich wesentlich gewesen (ähnlich SozR Nr. 54 zu § 542 RVO; Urteil des erkennenden Senats vom 28. Oktober 1966 - 2 RU 234/63).

Das LSG hat deshalb mit Recht den Unfallversicherungsschutz im Zeitpunkt des Unfalls bejaht. Es hat jedoch zu Unrecht das vom SG erlassene Urteil bestätigt, durch das die Beklagte zur Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung dem Grunde nach verurteilt worden ist. Ein Grundurteil (§ 130 Satz 1 SGG) darf nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats nur ergehen, wenn die begründete Wahrscheinlichkeit besteht, daß ein Leistungsanspruch in einer Mindesthöhe gegeben ist (SozR Nr. 4 zu § 130 SGG). Dies setzt u. a. voraus, daß der Arbeitsunfall vom 15. Juli 1961 einen Schaden verursacht hat. Ausreichende tatsächliche Feststellungen hat das Berufungsgericht jedoch insoweit nicht getroffen. Der behandelnde Arzt der Klägerin, der prakt. Arzt Dr. K, hat im Krankheitsbericht vom 17. April 1962 ausgeführt, daß die Klägerin durch den Sturz eine leichte Gehirnerschütterung mit Kopfschmerzen und Übelkeit erlitten habe, nach gutem Heilverlauf die Behandlung am 1. August 1961 abgeschlossen worden und die Klägerin wieder hergestellt sei. Die Klägerin hat anläßlich der Unfalluntersuchung am 20. März 1962 gegenüber der Polizei allerdings angegeben, daß sie noch Kopfschmerzen verspüre und deshalb von Dr. K behandelt werde. Diese Erklärung steht aber möglicherweise in Widerspruch zur Auskunft des behandelnden Arztes. Es ist nicht völlig klar, ob sich dessen Mitteilung, die Klägerin sei wiederhergestellt, auf den Zeitpunkt des 1. August 1961 (Abschluß der Behandlung) oder des 17. April 1962 bezieht (Tag der Erstattung des Berichts). Dies hat das LSG ebensowenig geklärt wie die weitere Frage, ob die neuerdings geklagten Kopfschmerzen noch eine Folge des Unfalls vom 15. Juli 1961 sind (vgl. auch Schönberger, Der Arbeitsunfall im Blickfeld spezieller Tatbestände, Teil 2, 1967, Seite 33 unten ff).

Deshalb war das Urteil des LSG aufzuheben. Die Sache war zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens bleibt dem Urteil des Berufungsgerichts vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324119

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