Leitsatz (amtlich)

Neue Berufskrankheit - Lärmschwerhörigkeit - keine Rückwirkung - Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes - keine Anwendung des § 551 Abs 2 RVO nF:

Es verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG, daß in § 4 Abs 2 der 6. BKVO vom 28.4.1961 die neu als Berufskrankheit bezeichnete Krankheit "Lärmschwerhörigkeit" von jeglicher Rückwirkung ausgenommen ist.

 

Orientierungssatz

§ 551 Abs 2 RVO nF iVm Art 4 § 2 Abs 1 UVNG kann nach seinem Sinngehalt (vgl BSG vom 29.9.1964 - 2 RU 30/64 = BSGE 21, 296), der bei der rückwirkenden Anwendung dieser Vorschrift zu beachten ist, jedenfalls nicht dazu führen, daß der Versicherungsträger diese Vorschrift in Fällen anwendet, in denen keine neuen Erkenntnisse vorliegen, der Gesetzgeber vielmehr eine bestimmte Erkrankung bereits in das BK-Verzeichnis aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch Ausschluß der Rückwirkung der betreffenden Bestimmung (hier: BKVO 3 Anl 1 Nr 26 F: 28.4.1961) ausdrücklich ausgeschlossen hat.

 

Normenkette

RVO § 545 Fassung: 1942-03-09, § 551 Abs. 2; GG Art. 3 Abs. 1; BKVO 6 § 4 Abs. 2 S. 1, § 1; UVNG Art. 4 § 2 Abs. 1; BKVO 3 Anl 1 Nr. 35 Fassung: 1936-12-16; BKVO 6 Anl 1 Nr. 26; BKVO Anl 1 Nr. 26; BKVO 3 Anl 1 Nr. 26 Fassung: 1961-04-28

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 20.09.1963)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 20. September 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1930 geborene Kläger arbeitete seit Beendigung seiner Lehrzeit (1950) in der Handschmiede der Nähmaschinenfabrik P in Kaiserslautern. Diese richtete am 18. September 1959 eine Anzeige über eine Berufskrankheit (BK) an die Beklagte, weil der Kläger an zunehmender Schwerhörigkeit leide. Einige Monate später erstattete der Werkarzt der P-AG, Dr. B ebenfalls Anzeige über eine BK mit dem Hinweis, daß nach dem Zeugnis des behandelnden Arztes, des Facharztes für Hals-, Nasen- und Ohren-(HNO-)Krankheiten Dr. B, vom 8. September 1959 beim Kläger eine 1952 erstmals festgestellte starke fortschreitende beiderseitige Nervenschwerhörigkeit vorliege, die sich in den letzten Jahren auffällig verschlechtert habe. In der Folgezeit erhielt der Kläger in seinem Betrieb einen anderen - minder bezahlten - Arbeitsplatz zugewiesen. Die Beklagte teilte der Firma P am 21. November 1960 mit, daß nach der Stellungnahme des staatlichen Gewerbearztes in Mainz vom 19. August 1960 die Voraussetzungen für eine entschädigungspflichtige BK nach Nr. 35 der Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO) nicht erfüllt seien, weil die Lärmschwerhörigkeit des Klägers den von dieser Verordnung geforderten Schweregrad (durch Lärm verursachte Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit) nicht erreicht habe.

Mit Schreiben vom 6. Januar 1961 wandte sich der Bevollmächtigte des Klägers an die Beklagte mit dem Antrag, die Frage der Entschädigung zu prüfen, weil der Kläger nach dem Zeugnis seines Hausarztes an beiderseitiger hochgradiger Schwerhörigkeit leide. Mit Bescheid vom 27. Juli 1962 versagte die Beklagte die begehrte Unfallentschädigung mit folgender Begründung: Nach dem Gutachten der HNO-Klinik der Universität Mainz vom 31. Juli 1961, dem sich der staatliche Gewerbearzt in Mainz angeschlossen habe, liege beim Kläger zwar eine mittel- bis hochgradige Schallempfindungsstörung infolge jahrlanger dauernder Belastung in einem Lärmbetrieb vor; diese habe selbst bei Verwendung eines Hörgeräts zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 v. H. geführt. Eine Entschädigung dieser Erkrankung nach Nr. 26 der 6. BKVO (Lärmschwerhörigkeit und Lärmtaubheit) sei indessen nicht möglich, weil der Kläger infolge Wechsel seines Arbeitsplatzes den Lärmeinwirkungen schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO (7. Mai 1961) nicht mehr ausgesetzt gewesen und überdies der Versicherungsfall bereits vor diesem Zeitpunkt eingetreten sei; § 4 Abs. 2 der 6. BKVO schließe die rückwirkende Anwendung der in Nr. 26 beschriebenen BK ausdrücklich aus.

Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben (Urteil des Landessozialgerichts - LSG - Rheinland-Pfalz vom 20. September 1963, Urteil des Sozialgerichts - SG - Speyer vom 8. November 1962). Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Bevollmächtigte des Klägers hat die Revision im Schriftsatz vom 7. November 1963 im wesentlichen wie folgt begründet:

Die Bundesregierung sei nicht ermächtigt gewesen, in der 6. BKVO (wie schon in den vorangegangenen BKVOen) zu bestimmen, daß Krankheiten, die - wie die Erkrankung des Klägers - erst in dieser Verordnung als BK bezeichnet worden seien, die aber vorher schon bestanden hätten, nicht oder nur bei Vorliegen zusätzlicher Voraussetzungen entschädigt werden dürften. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut des § 551 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung - RVO - (i. d. F. des Unfallversicherungsneuregelungsgesetzes - UVNG -) besonders deutlich. Jene unterschiedliche Regelung verletze den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes (GG).

In der mündlichen Verhandlung vor dem erkennenden Senat hat der Bevollmächtigte des Klägers - entgegen seinem schriftlichen Revisionsvorbringen - eingeräumt, daß beim Kläger der Versicherungsfall bereits im Jahre 1960 eingetreten sei, so daß ihm die Vergünstigung der 6. BKVO nicht zugute komme. Das in § 4 Abs. 2 der 6. BKVO zur Berufskrankheit "Lärmschwerhörigkeit" enthaltene Verbot der rückwirkenden Anwendung sei jedoch am 1. Juli 1963 außer Kraft getreten, wie sich aus der gegenüber dem bisherigen Recht neuen Vorschrift des § 551 Abs. 2 RVO nF i. V. m. Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG ergebe. Es müsse berücksichtigt werden, daß das UVNG nicht nur später ergangen sei als die 6. BKVO, sondern daß es sich beim UVNG um ein - mit stärkerer Rechtswirkung ausgestattetes - Gesetz, bei der 6. BKVO dagegen um eine Rechtsverordnung handele.

Die Beklagte hält die Entscheidung der Vorinstanzen für rechtlich zutreffend. § 4 Abs. 2 der 6. BKVO ist nach ihrer Ansicht nicht verfassungswidrig. § 551 Abs. 2 RVO (i. d. F. des UVNG) i. V. m. Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG komme dem Kläger nicht zugute, weil die Erkrankung, an der der Kläger leide, in das Verzeichnis der BKen bereits aufgenommen sei.

Der Kläger beantragt,

die Entscheidung der Vorinstanzen und den Bescheid der Beklagten aufzuheben und diese zu verpflichten, ihm Unfallrente (-U-Rente) nach einer MdE um 20 v. H. zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Der - durch Zulassung statthaften (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - Revision war der Erfolg zu versagen.

Beim Kläger ist erstmals im Jahre 1952 ärztlich eine Schwerhörigkeit festgestellt worden. Diese hat in der Folgezeit zwar an Stärke zugenommen. Der Kläger ist aber weder taub noch liegt bei ihm eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit vor. Er erfüllt daher die Voraussetzungen der Nr. 35 der Anlage (Verzeichnis der BKen) zur 3. BKVO vom 16. Dezember 1936 (i. d. F. der 5. BKVO vom 26. Juli 1952) nicht.

Durch § 1 der 6. BKVO vom 28. April 1961, die am 7. Mai 1961 in Kraft getreten ist (§ 4 Abs. 1), ist die Anlage zur 3. BKVO geändert worden. Teilweise sind in ihr weitere Krankheiten als BKen bezeichnet, teilweise die Voraussetzungen bereits bestehender BKen gemildert worden; die nummernmäßige Reihenfolge der BKen ist durch die 6. BKVO außerdem neu gestaltet worden. Anstelle der früheren Nr. 35 ist nunmehr in der Nr. 26 bereits Lärmschwerhörigkeit eine BK. Nach dem Gutachten der HNO-Klinik der Universität Mainz liegt beim Kläger zwar eine Lärmschwerhörigkeit in rentenberechtigendem Grade vor. Indessen bestimmt § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO, daß ein Versicherter, der bereits beim Inkrafttreten dieser Verordnung an einer Krankheit leidet, die erst auf Grund dieser Verordnung als BK anerkannt werden kann, außer in den Fällen der Krankheiten nach Nr. 26 der Anlage zur 3. BKVO auf Antrag Anspruch auf Entschädigung hat, wenn der Versicherungsfall seit dem 1. Januar 1952 eingetreten ist. Die neu als BK bezeichnete Erkrankung "Lärmschwerhörigkeit" kann somit - bei Vorliegen der übrigen gesetzlichen Voraussetzungen - nur dann entschädigt werden, wenn bei Inkrafttreten der 6. BKVO der Versicherungsfall noch nicht eingetreten war. Wann dies der Fall ist, bestimmt sich nach § 3 der 3. BKVO. Danach gilt bei Berufskrankheiten der Versicherungsfall als eingetreten bei Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder, wenn dies für den Versicherten günstiger ist, bei Beginn der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Unfallversicherung (UV). Das Berufungsgericht ist auf Grund der ihm vorliegenden ärztlichen Unterlagen ohne Rechtsirrtum davon ausgegangen, daß beim Kläger der Versicherungsfall schon vor dem 7. Mai 1961 eingetreten ist. Nach dem Zeugnis des Facharztes Dr. B. vom 8. September 1959 befindet sich der Kläger bereits seit Jahren in ärztlicher Behandlung. In dem am 31. Juli 1961 erstatteten Gutachten der HNO-Klinik der Universität M. ist die MdE infolge der Lärmschwerhörigkeit auf 20 v. H. geschätzt worden. Angesichts des Umstandes, daß - wie auch im Gutachten dargelegt ist - diese Erkrankung nur allmählich fortschreitet, ist die Erwerbsfähigkeit des Klägers in jenem Grade auch schon einige Monate vorher und damit bereits bei Inkrafttreten der 6. BKVO (7. Mai 1961) gemindert gewesen. Da sonach der Versicherungsfall schon vor diesem Zeitpunkt eingetreten ist, braucht nicht entschieden zu werden, ob die Ansicht der Beklagten zutreffend ist, daß ein Anspruch auf Entschädigung auch deshalb nicht gegeben sei, weil der Kläger schon vor dem 7. Mai 1961 seinen Arbeitsplatz gewechselt habe, eine ursächlich schädigende Einwirkung infolge der beruflichen Beschäftigung nach Inkrafttreten der 6. BKVO beim Kläger somit nicht mehr vorgelegen habe.

In der Praxis (vgl Dok 1961 S. 331 - 332) ist allerdings bezweifelt worden, ob mit der in § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO erwähnten Nr. 26 die BKen "Lärmschwerhörigkeit, Lärmtaubheit" oder die BK "Meniskusschäden bei Bergleuten nach mindestens 3-jähriger regelmäßiger Tätigkeit unter Tage" gemeint sind. Diese BK war unter dieser Nummer vor Inkrafttreten der 6. BKVO im BK-Verzeichnis aufgeführt. Da in § 1 dieser Verordnung indessen die Anlage zur 3. BKVO neu gefaßt worden ist, kann § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO, soweit er sich auf die Nr. 26 des BK-Verzeichnisses bezieht, nur das neue BK-Verzeichnis betreffen (gleicher Ansicht Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 15. Mai 1964, Bd. II S. 490 t; Noeske in BG 1961, 249, 250).

Die Revision meint, in rückwirkende Anwendung der neuen für die Versicherten günstigeren Bestimmung in Nr. 26 des BK-Verzeichnisses auf Erkrankungen, die bereits bei Inkrafttreten der 6. BKVO bestanden haben, könne vom Gesetzgeber nicht ausgeschlossen werden, weil die Bundesregierung nach der seinerzeit maßgeblichen Vorschrift des § 545 RVO nur bestimmte Krankheiten habe als BKen bezeichnen sowie die Art und die Voraussetzungen ihrer Entschädigung habe regeln können. In der Sozialversicherung hat aber - aus versicherungsrechtlichen Erwägungen - schon immer der Grundsatz gegolten, daß für Ansprüche aus Versicherungsfällen vor Inkrafttreten neuen - für die Versicherten gegenüber dem bisherigen Rechtszustand meist günstigeren - Rechts die bis zu diesem Zeitpunkt geltenden Vorschriften maßgebend bleiben, sofern das neue Recht sich nicht ausdrücklich rückwirkende Kraft beilegt (RVA in AN 1924, 114; BSG 15, 46, 49; 16, 177, 178 ff.). Für die gesetzliche UV, die den Schutz bestimmter Personen gegen Arbeitsunfälle und diesen vom Gesetzgeber gleichgestellte Ereignisse vorsieht (§§ 537, 545 RVO in der bis zum Inkrafttreten des UVNG geltenden Fassung, §§ 539, 551 RVO nF, § 3 der 3. BKVO), gilt insoweit nichts anderes (vgl. Art. 4 § 1, § 2 Abs. 1 UVNG). Dies hat zur Folge, daß die 6. BKVO, soweit sie gegenüber dem früheren Rechtszustand für die Versicherten zu Verbesserungen geführt hat, für im Zeitpunkt ihres Inkrafttretens schon bestehende, bisher nicht als BKen bezeichnete Erkrankungen nur unter den vom Gesetzgeber getroffenen Einschränkungen gilt. Die neue BK "Lärmschwerhörigkeit" ist indessen von jeglicher Rückwirkung ausgenommen.

Diese Regelung ist nicht verfassungswidrig. Über diese Frage hat der erkennende Senat in eigener Zuständigkeit zu entscheiden, weil Art. 100 GG nur Gesetze im formellen Sinne betrifft (BverfG 1, 184, 201), die 6. BKVO ihrer Rechtsnatur nach aber eine Rechtsverordnung ist. Der Umstand, daß der Gesetzgeber in § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO die unter Nr. 26 neu bezeichneten BKen völlig, die übrigen in dieser Verordnung enthaltenen Verbesserungen hingegen nur unter Einschränkungen von einer rückwirkenden Anwendung ausgeschlossen hat, verletzt insbesondere den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG nicht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (BVerfG 1, 14, 52; 2, 118, 119; 3, 58, 135; 4, 144, 155) liegt eine Verletzung dieses Grundrechts allein vor, wenn ein vernünftiger, sich aus der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die unterschiedliche gesetzliche Behandlung nicht ersichtlich ist, die betreffende Rechtsnorm also als willkürlich angesehen werden muß. Voraussetzung ist ferner, daß wesentlich Gleiches nicht ungleich behandelt werden darf. Für den Gesetzgeber konnte indessen durchaus Veranlassung bestanden haben, nicht alle Verbesserungen, welche die 6. BKVO mit sich gebracht hat, in gleicher Weise auch für bereits abgeschlossene Tatbestände gelten zu lassen. Die Tatsache, daß es sich um denselben Rechtsbegriff, nämlich um BKen handelt, zwingt den Gesetzgeber noch nicht zu einer gleichen normativen Regelung; maßgeblich ist vielmehr, daß unter diesen Begriff ganz verschiedene Tatbestände fallen, die in der berufsgenossenschaftlichen Praxis unterschiedliche Auswirkungen haben können. So wird der Änderung der früher unter Nr. 35 im BK-Verzeichnis aufgeführten BKen in der Praxis der Versicherungsträger eine erhebliche Bedeutung zukommen. Ihre Fassung ist gegenüber bisher bedeutend erweitert worden. Die Lärmschwerhörigkeit ist weit verbreitet, sie kann nicht nur die Folge beruflicher Einwirkungen sein. Ihre Abgrenzung von der Altersschwerhörigkeit wird nicht unerheblichen praktischen Schwierigkeiten begegnen (Noeske a. a. O., S. 253). Bei Versicherten, deren Erkrankung schon im Zeitpunkt des Inkrafttretens der 6. BKVO bestanden hat, wird es unter Umständen nur schwer möglich sein, den Zusammenhang der BK mit Einwirkungen der versicherten Tätigkeit nachzuweisen. Derartige bei einer nicht allzu kleinen Zahl von Versicherten von vornherein absehbare Beweisschwierigkeiten können angesichts der damit zwangsläufig verbundenen Ungerechtigkeiten innerhalb der Versicherten-Gemeinschaft für den Gesetzgeber hinreichender Anlaß sein, die Rückwirkung einer neuen Bestimmung ganz auszuschließen. Es kommt hinzu, daß gerade in Fällen dieser Art die wirtschaftliche Mehrbelastung, welche die Ausdehnung der Entschädigungspflicht für die Versicherungsträger mit sich bringen wird, zunächst nicht übersehbar ist. Daher bestehen auch im Hinblick auf Art. 20 Abs. 1 GG keine Bedenken, daß der Gesetzgeber den Kreis der Versicherten, denen die Neuregelung zugute kommen soll, von vornherein (möglicherweise auch nur vorläufig, wenn nämlich im Laufe der Zeit entsprechende praktische Erfahrungen gesammelt sind) beschränkt hat (ähnlich Pikave in SGb 1963, 435 ff.). Demgegenüber kann eine rückwirkende Gewährung von Leistungen in gewissen Grenzen bei anderen Erkrankungen sogar geboten sein, so wenn sich auf Grund neuer Erkenntnisse der ärztlichen Wissenschaft nachträglich herausstellt, daß sie doch auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen sind.

Schließlich vermag auch § 551 Abs. 2 RVO nF i. V. m. der Rückwirkungsvorschrift des Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG keine dem Kläger günstige Entscheidung herbeizuführen. Nach jener Vorschrift sollen die Unfallversicherungsträger im Einzelfall unter gewissen Bedingungen eine Krankheit wie eine BK entschädigen, auch wenn sie im BK-Verzeichnis nicht enthalten ist oder die dort genannten Voraussetzungen nicht vorliegen. Nach dem Sinn und Zweck dieser Ausnahmevorschrift sollen etwaige Härten, die sich bei BKen aus dem sogenannten Listensystem ergeben, beseitigt werden (vgl. ferner Bundestagsdrucksache IV/120, 4. W. P., S. 55). § 551 Abs. 2 RVO nF gilt gemäß Art. 4 § 2 Abs. 1 UVNG auch für Versicherungsfälle, die vor dem Wirksamwerden dieses Gesetzes eingetreten sind. Über Umfang und Grenzen dieser Rückwirkungsvorschrift braucht vorliegendenfalls nicht entschieden zu werden. § 551 Abs. 2 RVO nF kann nach seinem Sinngehalt (vgl. das Urteil des erkennenden Senats vom 29. September 1964 - 2 RU 30/64 -), der bei der rückwirkenden Anwendung dieser Vorschrift zu beachten ist, jedenfalls nicht dazu führen, daß der Versicherungsträger diese Vorschrift in Fällen anwendet, in denen keine neuen Erkenntnisse vorliegen, der Gesetzgeber vielmehr eine bestimmte Erkrankung bereits in das BK-Verzeichnis aufgenommen, die Gewährung einer Entschädigung aber durch Ausschluß der Rückwirkung der betreffenden Bestimmung ausdrücklich ausgeschlossen hat. Diese Ansicht wird auch im Schrifttum geteilt (Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., Anm. 11 zu § 551 RVO; Noell-Breitbach, Landwirtschaftliche Unfallversicherung, Anm. 2 e zu § 551 RVO).

Sonach war die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 63

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge