Leitsatz (redaktionell)

Der Entschädigungsanspruch für eine Lärmschädigung als Berufskrankheit nach 3. BKVO Anl 1 Nr 26 Fassung: 1961-04-28 ist nur begründet, wenn der Versicherungsfall nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO (1961-05-07) eingetreten ist.

 

Normenkette

BKVO 6 § 4 Abs. 2 S. 1 Fassung: 1961-04-28; BKVO 6 Anl 1 Nr. 26 Fassung: 1961-04-28; BKVO 3 Anl 1 Nr. 26 Fassung: 1961-04-28

 

Tenor

Das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. März 1966 wird aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1909 geborene Kläger ist seit seinem 14. Lebensjahr als Fabrikweber tätig. Er leidet an Schwerhörigkeit und ist der Ansicht, daß es sich dabei um einen durch seine Berufsarbeit verursachten Lärmschaden handelt.

Ein im November 1957 gestellter Antrag des Klägers auf Entschädigung wegen des Gehörleidens wurde auf Grund ärztlicher Begutachtung durch Bescheid der Beklagten vom 16. April 1958 abgelehnt, weil die Voraussetzungen der Nr. 35 der Anlage zur Fünften Berufskrankheiten-Verordnung - 5.BKVO - (durch Lärm verursachte Taubheit oder an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit) nicht gegeben seien.

Im Dezember 1961 erneuerte der Kläger seinen Antrag auf Rentengewährung wegen seiner Schwerhörigkeit, weil diese inzwischen durch Nr. 26 der Anlage zu der am 7. Mai 1961 in Kraft getretenen 6. BKVO eine Entschädigungsansprüche begründende Berufskrankheit geworden sei. Der Kläger berief sich auf eine ohrenfachärztliche Bescheinigung des Dr. ... vom 12. Dezember 1961, nach der auf dem rechten Ohr eine hochgradige zunehmende und als Folge der Webertätigkeit zu deutende Innenohrschwerhörigkeit bestehe. Derselbe Arzt erstattete im Jahre 1962 die Anzeige über eine Berufskrankheit (BK). Der Staatliche Gewerbearzt bestätigte das Vorliegen dieser BK, meinte aber, daß die Schwerhörigkeit schon im Jahre 1958 in dem gleichen Maße vorhanden gewesen sei. Eine Auskunft der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) ergab, daß der Kläger seit dem Jahre 1957 in ständiger ärztlicher Behandlung wegen später Folgen einer im Kindesalter durchgemachten Radikaloperation im linken Mittelohr (Vereiterung) stand.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 17. Oktober 1963 den Entschädigungsanspruch mit der Begründung ab, der Versicherungsfall sei bereits vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten und werde nicht von der Rückwirkungsklausel des § 4 Abs. 2 der 6. BKVO erfaßt.

Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Klage hiergegen durch Urteil vom 4. Juni 1964 abgewiesen. Es ist der Ansicht, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 v.H. bedingende Lärmschwerhörigkeit des Klägers werde von der Rückwirkungssperre des § 4 Abs. 2 der 6. BKVO erfaßt, könne also keine Entschädigungsansprüche begründen; denn der Kläger habe wegen seines Gehörleidens schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO, nämlich im Jahre 1959, ärztlich behandelt werden müssen.

Mit der Berufung hat der Kläger geltend gemacht, es widerspreche den Grundsätzen der Verfassung, daß für die BK im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO die Rückwirkung ausgeschlossen worden sei. Im übrigen habe sich das Gehörleiden auch seit dem Inkrafttreten der 6. BKVO ständig verschlimmert. Hierfür hat sich der Kläger auf eine Bescheinigung des Dr. O. vom 16. März 1965 berufen. Danach bestehe auf dem rechten Ohr eine hochgradige Innenohrschwerhörigkeit, welche das Hören der Umgangssprache nur noch auf 50 cm Entfernung ermögliche; medikamentöse Behandlung verspreche keinen Erfolg, wohl aber sei die Benutzung eines Hörgerätes geboten, mit dem eine Verständigungsmöglichkeit auf 3 m Entfernung erzielt werden könne. Aus einer weiteren am 19. Februar 1966 ausgestellten Bescheinigung dieses Arztes geht hervor, daß der Kläger seit einem Jahr ein Hörgerät auf dem rechten Ohr trage.

Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 4. März 1966 die Beklagte "für verpflichtet erklärt, dem Kläger wegen Lärmschwerhörigkeit als BK nach Nr. 26 der Anlage zur 3. BKVO in der Fassung des § 1 der 6. BKVO vom 7. Mai 1961 an die gesetzlichen Leistungen zu gewähren". Zur Begründung ist u.a. ausgeführt: Der Kläger habe sich durch seine Berufsarbeit eine Lärmschädigung auf beiden Ohren zugezogen. Diese Gehörschädigung wäre nach Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO zu entschädigen, wenn der Versicherungsfall nach der Verkündung der 6. BKVO, also seit dem 7. Mai 1961, eingetreten wäre. Es sei festgestellt, daß am rechten Ohr des Klägers bereits im Januar 1958 eine mittelgradige lärmbedingte Innenohrschwerhörigkeit bestanden habe; am linken Ohr, das mindestens seit 1957 praktisch taub sei, bestehe eine kombinierte Gehörschädigung mit überwiegender lärmbedingter Innenohrkomponente. Auf die in den nicht lärmbedingten Folgen einer Radikaloperation des linken Mittelohrs bestehende Gehörschädigung entfiele nach fachärztlichem Urteil erfahrungsgemäß nur eine MdE von O bis 10 v.H. Die im ganzen auf 30 v.H. geschätzte Gehörschädigung habe schon bei der Untersuchung des Klägers im Jahre 1958 bestanden; seitdem habe sich die Schwerhörigkeit bis Mitte 1962 nicht meßbar verschlimmert. Es sei anzunehmen, daß die Lärmeinwirkung das Gehör weit überwiegend geschädigt habe und auf sie anteilig eine MdE von mindestens 20 v.H. entfalle.

Nach der in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30. Oktober 1964 (BSG 22, 63) und im Schrifttum vertretene Auffassung verstoße es nicht gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes, daß in § 4 Abs. 2 der 6. BKVO die Rückwirkung für den erweiterten Versicherungsschutz in Nr. 26 der Anlage zu dieser BKVO ausgenommen sei. Da dieser Versicherungsschutz auch nicht aus § 551 Abs. 2 RVO hergeleitet werden könne, sei er für die "Lärmschwerhörigkeit" nur gegeben, wenn der Versicherungsfall nach dem 6. Mai 1961 eingetreten sei. Es müsse daher geprüft werden, wann die Lärmschwerhörigkeit des Klägers als Krankheit im Sinne der Krankenversicherung (§ 3 Abs. 2 der 3./4. BKVO) begonnen habe, das heiße, wann Heilbehandlungsbedürftigkeit wegen der Lärmschwerhörigkeit notwendig geworden sei. Die Heilbehandlungsbedürftigkeit liege vor, wenn die Versorgung mit einem Hörgerät notwendig sei. Die ärztliche Behandlung des Klägers Ende 1957 und Anfang 1958 habe zwar nicht wegen seiner Lärmschwerhörigkeit, sondern wegen der Mittelohrentzündung stattgefunden. Er habe dabei aber erfahren, daß er an einer nicht behandlungsfähigen Schwerhörigkeit leide. Obwohl diese Krankheit ihrer Art nach nur mit der Anschaffung eines Hörgerätes hätte behandelt werden können, sei es für den Kläger wegen der zu stellenden Diagnose doch notwendig gewesen, den Ohrenarzt aufzusuchen. Darin liege zwar bereits eine ärztliche Behandlung im Sinne des § 3 Abs. 2 der 3./4. BKVO; aber nach diesem Zeitpunkt sei der Kläger bis zum Inkrafttreten der 6. BKVO nicht behandlungsbedürftig gewesen. Der Versicherungsfall, der nur in der Notwendigkeit der Hörgerätbeschaffung habe bestehen können, sei auf Grund der lärmschädigenden Weiterbeschäftigung des Klägers im Jahre 1965 als neuer Versicherungsfall eingetreten. Bis dahin sei die Schwerhörigkeit meßbar fortgeschritten und habe schließlich die Anschaffung eines Hörgerätes objektiv notwendig gemacht. Wegen der verschlimmerten berufsbedingten Schwerhörigkeit sei der Kläger somit erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO behandlungsbedürftig geworden, so daß vom 7. Mai 1961 an die Leistungen in der gesetzlichen Höhe zu gewähren seien.

Der Entschädigungsanspruch des Klägers sei aber auch begründet, wenn der Versicherungsfall schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten wäre. Die vom BSG bisher vertretene Auffassung, es verstoße nicht gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), daß in § 4 Abs. 2 der 6. BKVO die neu als BK bezeichnete Krankheit "Lärmschwerhörigkeit" von jeglicher Rückwirkung ausgenommen sei (BSG 22, 63), befriedige nicht. Zunächst könne § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO schon dahin verstanden werden, daß die für die neuen in die Berufskrankheitenliste aufgenommenen Leiden auf den 1. Januar 1952 begrenzte Rückwirkung gerade nicht für die Lärmtaubheit und Lärmschwerhörigkeit im Sinne der Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO gelten dürfe; für diese Leiden sei überhaupt keine Begrenzung der Rückwirkung bestimmt worden. Auf jeden Fall könne aber eine verfassungskonforme Auslegung des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO nur dahin führen, daß die Gruppe der Lärmschwerhörigen, welcher der Kläger angehöre, nicht von der Rückwirkungssperre betroffen werde. Der Umstand, daß die Lärmschwerhörigkeit praktisch nicht behandlungsbedürftig sei, rechtfertige es nicht, für sie im Gegensatz zu den anderen neu aufgenommene Leiden die Rückwirkung auszuschließen. Schwierigkeiten, welche sich bei der Prüfung, ob eine nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO als BK geltend gemachte Innenohrschwerhörigkeit auf beruflicher Lärmeinwirkung beruhe oder eine Altersschwerhörigkeit darstelle, seien nicht größer, als sie bei der Feststellung eines beruflichen Bronchialasthmas aufträten, für das die Rückwirkung nicht ausgeschlossen worden sei. Es finde sich auch kein vernünftiger Grund für eine unterschiedliche Rückwirkungsbehandlung.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Beklagten am 25. April 1966 zugestellt worden. Sie hat gegen das Urteil am 11. Mai 1966 Revision eingelegt und diese am 18. Mai 1966 begründet. Sie bringt u.a. vor: Das Berufungsurteil stehe im Widerspruch zu der in BSG 22, 63 veröffentlichten Entscheidung. In dieser Entscheidung sei zu Recht ausgeführt, daß durch den § 4 Abs. 2 die in Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO unter Versicherungsschutz gestellte Lärmschwerhörigkeit von der Rückwirkung ausdrücklich ausgenommen worden sei und daß auch § 551 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) in Fällen der vorliegenden Art nicht helfen könne. Es komme somit auf den Zeitpunkt an, in dem der Versicherungsfall im Sinne des § 3 Abs. 2 der 3./4. BKVO eingetreten sei. Im vorliegenden Fall sei die Versorgung mit dem Hörgerät nicht erst im Jahre 1965 notwendig geworden. Dieses Hilfsmittel habe der Kläger vielmehr schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO gebraucht. Der Versicherungsfall sei daher zu dieser Zeit bereits eingetreten gewesen und somit nicht geeignet, Entschädigungsansprüche für den Kläger zu begründen.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil dahin zu ändern, daß die der Beklagten auferlegte Verpflichtung zur Leistungsgewährung frühestens erst vom Ablauf des April 1965 an bestehe.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er tritt zunächst der Auffassung des LSG bei, daß der Rückwirkungsausschluß für Nr. 26 der 6. BKVO nicht Rechtens sei, und beruft sich insoweit unter Bezugnahme auf seine Ausführungen in der gleichzeitig anhängig gewesenen Sache 2 RU 14/66 auf eine Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofes vom 17. Mai 1966, der zu der Frage der Rückwirkung bei Krankheiten, welche sich Beamte durch ihre dienstlichen Tätigkeiten zuziehen, im Grundsatz einen anderen Standpunkt als das BSG einnehme. Sodann meint der Kläger weiter, seinem Klaganspruch stehe aber auch ein Ausschluß der Rückwirkung nicht entgegen. Er führt hierzu im wesentlichen aus: Das versicherte Wagnis hinsichtlich der bloßen Lärmschwerhörigkeit könne erst für die Zeit nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO in Erscheinung treten. Demzufolge könne auch der Versicherungsfall erst nach diesem Zeitpunkt eintreten, da erst dann die Voraussetzungen für eine Entschädigungspflicht gegeben seien. Bei der Lärmschwerhörigkeit handele es sich lediglich um ein Leiden, nicht aber um eine Krankheit, da die Schwerhörigkeit einer Heilbehandlung nicht zugänglich sei. Deshalb werde von den Schwerhörigen der Arzt nicht infolge einer Behandlungsbedürftigkeit, sondern zu dem Zweck aufgesucht, den Grad der Schwerhörigkeit wegen der eventuellen Beschaffung eines Hörgeräts zu erfahren. Werde indessen in der Notwendigkeit, durch die Benutzung eines Hörgeräts die Hörfähigkeit zu bessern, eine Behandlungsbedürftigkeit im Sinne der Krankenversicherung gesehen, so habe im vor liegenden Fall diese Behandlungsbedürftigkeit nicht schon vorgelegen, als der Kläger Ende 1957, Anfang 1958 den Ohrenfacharzt wegen seiner Lärmschwerhörigkeit befragt habe. Der anspruchsbegründende Versicherungsfall sei vielmehr erst eingetreten, als der Kläger im März 1965 mit einem Hörgerät versorgt worden sei.

II

Die Revision ist zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen war.

Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen (§ 163 SGG) leidet der Kläger an einer berufsbedingten Lärmschwerhörigkeit, die seine Erwerbsfähigkeit um mindestens 20 v.H. beeinträchtigt und in diesem Grade spätestens seit dem Jahre 1958 besteht. Damit ist jedoch, wie auch das LSG nicht verkannt hat, eine Entschädigungsansprüche begründende BK nicht ohne weiteres gegeben. Nach Nr. 35 der Anlage zur 5. BKVO liegt eine BK nicht vor, da die Lärmschwerhörigkeit des Klägers zu keiner Zeit einen an Taubheit grenzenden Grad erreicht hat. Ob die beim Kläger nach wie vor bestehende bloße Lärmschwerhörigkeit unter den auf Grund der Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO erweiterten Versicherungsschutz fällt, kann entgegen der Auffassung des LSG auf Grund der bisher getroffenen tatsächlichen Feststellungen noch nicht abschließend entschieden werden.

Nach § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO ist die in Nr. 26 der Anlage zu dieser VO getroffene Neuregelung des Versicherungsschutzes für Lärmschwerhörigkeit und Lärmtaubheit von der Rückwirkung ausgeschlossen worden, die für die sonstigen, in der angeführten Anlage eingeführten Erweiterungen des Versicherungsschutzes bestimmt ist. Der Kläger ist der Meinung, daß diese Vorschrift der Entstehung des geltend gemachten und aus Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO hergeleiteten Entschädigungsanspruchs nicht entgegenstehe, weil der Versicherungsfall der Lärmschwerhörigkeit nicht bereits vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten sein könne, so daß der Ausschluß der Rückwirkung für diese Berufskrankheit keine Rolle spiele. Dem ist nicht zuzustimmen. Die Meinung des Klägers trifft zwar insofern zu, als der Versicherungsfall das Ereignis ist, dessen Eintritt den Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung begründet, wenn die dafür erforderlichen sonstigen gesetzlichen Voraussetzungen vorliegen. Der Kläger verkennt jedoch, daß sich der Gesetz-, bzw. Verordnungsgeber bei der Verwendung des Wortes "Versicherungsfall" in Übergangsvorschriften nicht streng an diesen Begriff hält, sich vielmehr einer terminologisch ungenauen Ausdrucksweise bedient, indem er das Eintreten der Umstände, welche nach neuem Recht einen Anspruch begründen, auch als "Versicherungsfall" bezeichnet, wenn diese Umstände vor dem - gegebenenfalls rückwirkenden - Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten sind und demzufolge keinen Anspruch begründen. Wird der Eintritt des Versicherungsfalles für maßgebend erklärt, entspricht es dem Sprachgebrauch der Übergangsvorschriften allgemein, daß der Eintritt des Versicherungsfalles in dem dargelegten Sinne zu verstehen ist (vgl. hierzu GE des Bayer. LVAmts Nr. 14 vom 30. September 1949 und Entscheidung desselben Gerichts vom 19. Januar 1950, Bayer. Amtsbl. 1949, 146 und 1950, 95). Dies trifft auch auf die Fassung des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO zu. Nach ihr kann also die Lärmschwerhörigkeit als "Versicherungsfall" in Betracht kommen, obwohl sie noch keinen Entschädigungsanspruch zu begründen vermag. Träfe die gegenteilige Ansicht des Klägers zu, hätte die Übergangsregelung des § 4 Abs. 1 Satz 1 der 6. BKVO keinen Sinn und wäre bedeutungslos.

Die Entscheidung über den Klaganspruch hängt somit zunächst davon ab, ob der Ausschluß einer schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO bestehenden Lärmschwerhörigkeit von der Rückwirkung verfassungswidrig ist. Diese Frage, die in dem Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1964 bereits verneint worden ist (BSG 22, 63), muß aus Anlaß der Entscheidung des vorliegenden Streitfalls erneut geprüft werden. Daran ändert auch nichts, daß - wie der Kläger vorgetragen hat - die Verfassungsbeschwerde gegen das angeführte Urteil keinen Erfolg gehabt hat. Der erkennende Senat hält entgegen der Ansicht des Klägers und den Ausführungen des angefochtenen Berufungsurteils an seiner bisherigen Rechtsauffassung zur Frage der Verfassungsmäßigkeit des Rückwirkungsausschlusses fest. Die Bundesregierung war auf Grund der für den Erlaß der 6. BKVO maßgebenden gesetzlichen Ermächtigung (§ 545 RVO aF) nicht nur berechtigt, bestimmte Krankheiten als "BKen" zu bezeichnen, sondern auch zu bestimmen, inwieweit die durch die neu eingeführten Verbesserungen des Versicherungsschutzes auch für schon vor dem Inkrafttreten des neuen Rechts eingetretene Versicherungsfälle gelten sollen. Hierbei ist dem Verordnungsgeber ebenso wie dem Gesetzgeber ein weiter Ermessensspielraum eingeräumt (vgl. BVerfGE 8, 71, 80; 10, 89, 102; 11, 105, 115; BVerwGE 10, 224, 225). Nach der ständigen Rechtsprechung liegt eine Verletzung des sich aus Art. 3 Abs. 1 GG ergebenden Grundrechts der gesetzlichen Gleichbehandlung allein vor, wenn ein vernünftiger, sich aus der Sache ergebender oder sonstwie einleuchtender Grund für die unterschiedliche gesetzliche Behandlung nicht ersichtlich ist, die in Betracht kommende Rechtsnorm also als willkürlich angesehen werden muß (BSG 22, 63, 65, 66 mit den dort angeführten Nachweisungen). Dies ist, wie in dem Urteil des erkennenden Senats vom 30. Oktober 1964 dargelegt ist, bei dem Ausschluß der Rückwirkung in § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO nicht der Fall. Die Ausführungen, mit denen das LSG diesem Rechtsstandpunkt entgegentritt, zwingen nicht zu einer anderen Beurteilung. Es ist nicht zu prüfen, ob die vom Verordnungsgeber getroffene Regelung zweckmäßig oder notwendig war (vgl. BVerfGE 10, 89, 102).

Die vom Kläger unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung von Versicherten bei Berufskrankheiten und von Beamten bei Dienstkrankheiten für erforderlich gehaltene Überprüfung des Rückwirkungsausschlusses auf seine Verfassungsmäßigkeit ist anläßlich der Entscheidung eines insoweit gleichliegenden Rechtsstreits - 2 RU 14/66 - vom 21. September 1967 vorgenommen worden. Sie hat zu dem Ergebnis geführt, daß bei der Eigenständigkeit der beamtenrechtlichen Besoldungs-, Ruhegehalts- und Fürsorgeregelung gegenüber dem Entschädigungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung für den Gesetzgeber keine Verpflichtung bestand, das Unfallversicherungsrecht in Fragen der Rückwirkung von Anspruchsverbesserungen der beamtenrechtlichen Regelung anzupassen. Auf die Begründung jenes zur Veröffentlichung vorgesehenen Urteils wird im einzelnen Bezug genommen.

Der Entschädigungsanspruch für die Lärmschwerhörigkeit ist hiernach also nur begründet, wenn der Beginn der Krankheit im Sinne der Krankenversicherung oder der Beginn der durch diese Krankheit bedingten Erwerbsunfähigkeit im Sinne der Unfallversicherung nach dem 6. Mai 1961 liegt (§ 3 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 der 3./6. BKVO = § 551 Abs. 3 RVO). Wie in der Entscheidung des erkennenden Senats vom 28. April 1967 (BSG 26, 230) unter Berufung auf Rechtsprechung und Schrifttum ausgesprochen ist, bestimmt sich der Unfallzeitpunkt als maßgebendes Kriterium des Versicherungsfalles nach einem dieser beiden Daten, und zwar dem jeweils für den Versicherten günstigeren Geschehen. Dabei kann "günstiger" für den Versicherten nicht schematisch der frühestmögliche Zeitpunkt, sondern je nach Lage des Einzelfalles auch der spätestmögliche Zeitpunkt sein, nämlich wenn sich erst hierdurch ein Leistungsanspruch begründen läßt. Im vorliegenden Streitfall ist es für den Kläger günstiger, wenn wenigstens eine der beiden Alternativen des Versicherungsfalles erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO eingetreten ist. Denn sonst wäre auf Grund des § 4 Abs. 2 Satz 1 der 6. BKVO ein Entschädigungsanspruch überhaupt nicht entstanden.

Von dieser Rechtslage ist auch das LSG ausgegangen und hat, da eine auf die Lärmschwerhörigkeit zurückzuführende MdE von mindestens 20 v.H. bereits seit dem Jahre 1958 besteht und deswegen nicht geeignet ist, den für den Entschädigungsanspruch des Klägers erforderlichen Versicherungsfall zu begründen, zu Recht geprüft, ob die Beeinträchtigung der Hörfähigkeit des Klägers als Krankheit im Sinne der Krankenversicherung erst nach dem Inkrafttreten der 6. BKVO begonnen hat. Es hat diese Frage jedoch mit einer Begründung bejaht, welche der rechtlichen Nachprüfung nicht standhält. Zwar hat das LSG den Begriff der Krankheit im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 der 3. BKVO nicht verkannt und die BK "Lärmschwerhörigkeit" zutreffend als eine Krankheit im Sinne dieser Bestimmung nur unter der Voraussetzung angesehen, daß sie die Notwendigkeit einer Heilbehandlung oder die Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1.-6. Aufl., Bd. II S. 383). Behandlungsbedürftigkeit im Sinne der Heilbehandlung - krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit scheidet im vorliegenden Falle aus, und eine andere Behandlungsmaßnahme als die Versorgung mit einem Hörgerät konnte, wie sich aus dem angefochtenen Urteil ergibt, nicht in Betracht kommen - besteht, wie in dem Urteil vom 28. April 1967 dargelegt ist, nur, wenn sie nach objektiven Maßstäben geboten ist. Die bloße Vorstellung eines Schwerhörigen, er habe ein Hörgerät nötig, ist daher nicht geeignet, den Eintritt des Versicherungsfalles zu begründen. Dies hat das LSG nach Ansicht des erkennenden Senats jedoch nicht ausreichend beachtet. Es hat eine bereits spätestens im Jahre 1958 bestehende Notwendigkeit der Benutzung eines Hörgerätes mit der Begründung verneint, der Kläger sei Ende 1957, Anfang 1958 wegen Mittelohrentzündung fachärztlich behandelt worden, habe aber damals ärztliche Behandlung nicht wegen der Lärmschwerhörigkeit in Anspruch genommen. Diese Feststellung des LSG legt die Annahme nahe, daß es bei der Beurteilung des Beginns der Lärmschwerhörigkeit im Sinne des § 3 Abs. 2 Satz 1 der 3. BKVO entscheidend auf die dem Begriff der Behandlungsbedürftigkeit innewohnende subjektive Komponente abgestellt hat. Auf Grund des Untersuchungsberichtes der Universitätsklinik für HNO-Krankheiten vom 12. Februar 1958 über die Hörprüfung, die ergeben hatte, daß der Kläger nach Tubendurchblasung Umgangssprache rechts 3 m weit, links nicht hörte, höhere Töne der Flüstersprache rechts in 10 cm, tiefe Töne in 50 cm Entfernung wahrnahm, hätte das LSG der Frage nachgehen müssen, ob bei dieser Beeinträchtigung der Hörfähigkeit damals schon ein Hörgerät notwendig gewesen wäre. Somit fehlt es an ausreichenden tatsächlichen Feststellungen dafür, ob vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO beim Kläger Behandlungsbedürftigkeit im Sinne der Krankenversicherung vorgelegen hat. Der Umstand, daß der Kläger trotz Lärmgefährdung weitergearbeitet hat und mit einem Hörgerät erst im Jahre 1965 versorgt worden ist, schließt es nicht von vornherein aus, daß er schon im Jahre 1958 ein Hörgerät hätte tragen müssen. Wenn das der Fall ist, liegt der Beginn der BK "Lärmschwerhörigkeit" des Klägers in dieser Zeit. Bei der Art der Lärmschwerhörigkeit, die ein sich langsam weiterentwickelndes Gebrechen ist, hätte die BK sodann ununterbrochen fortbestanden, so daß die Versorgung mit dem Hörgerät im Jahre 1965 nicht etwa einen neuen Versicherungsfall darstellte (vgl. Brackmann aaO Bd. II S. 490 t). Die vorhandene BK wäre durch eine infolge gefährdender Weiterbeschäftigung in dem Lärmbetrieb verursachte Verschlimmerung der Schwerhörigkeit des Klägers lediglich in ihren Folgen berührt worden, und allein der Behebung dieser Folgen hätte das Tragen des Hörgerätes seit dem Jahre 1965 gedient. Dabei wäre es unerheblich, ob seit dieser Zeit ein stärkeres Hörgerät erforderlich gewesen wäre, als der Kläger bei dem im Jahre 1958 bestehenden Zustand gebraucht hätte. Bei diesem Sachverhalt kommt es hinsichtlich der Prüfung, ob der Versicherungsfall während des zeitlichen Geltungsbereiches der Nr. 26 der Anlage zur 6. BKVO eingetreten ist, daher darauf an, ob der Kläger schon vor dem Inkrafttreten der 6. BKVO ein Hörgerät brauchte.

Da hiernach die 6. BKVO unzutreffend angewendet worden ist, mußte das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Das Revisionsgericht konnte nicht in der Sache abschließend entscheiden, da es ihm verwehrt ist, die fehlenden tatsächlichen Feststellungen selbst zu treffen. Der Rechtsstreit mußte daher an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2365105

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