Leitsatz (redaktionell)

1. Endgültige Lösung von der betrieblichen Tätigkeit, wenn der Betriebsweg durch einen erheblichen Umweg und stundenlangen Aufenthalt aus nicht betriebsbedingten Gründen unterbrochen ist; kein Unfallversicherungsschutz.

2. Der Grundsatz, daß bei Umwegen auf Geschäftsfahrten der Unfallversicherungsschutz erneut zumindest dort beginnt, wo der Umweg beendet ist, findet seine Grenze bei Umwegen, deren Umfang und Zielsetzung eine Lösung vom Betriebe darstellt (Heimfahrt aus Mittelbayern nach Stuttgart über das Oktoberfest).

 

Normenkette

RVO § 550 Fassung: 1963-04-30, § 542 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. November 1959 und des Sozialgerichts Ulm vom 19. November 1957 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger, Landwirt aus Sparwiesen bei Göppingen, unternahm am Sonntag, dem 30. September 1956, mit seinem Personenkraftwagen eine Geschäftsfahrt zum Einkauf von Futter- und Saatkartoffeln für sein landwirtschaftliches Unternehmen. Die Fahrt, an der auch die Landwirte B und H teilnahmen, begann morgens gegen 8 Uhr und führte auf der Autobahn über Ulm-Leipheim und dann weiter auf der Bundesstraße 16 bis in die Gegend südlich der Strecke Neuburg (Donau) - Ingolstadt. Dort besuchte der Kläger Lieferanten in Maxweiler und Karlshuld. Von Karlshuld aus, wo seine Geschäfte gegen 17 Uhr beendet waren, fuhr der Kläger nicht wieder zurück zur Bundesstraße 16, sondern auf die Autobahn Nürnberg-München. Spätestens um 18 Uhr traf er in München ein, wo er zunächst mit seinen Begleitern in einer Gaststätte nahe der Theresienwiese das Abendessen einnahm. Etwa von 21 bis 22 Uhr besuchten sie dann das Oktoberfest. Der Kläger wollte wegen des um diese Zeit in der Münchener Innenstadt herrschenden starken Verkehrs noch nicht die Heimfahrt antreten; deshalb begaben sich die drei Reisegefährten zunächst nochmals in eine Gaststätte und tranken Kaffee. Um 2 Uhr am 1. Oktober 1956 fuhr dann der Kläger ab und legte den Heimweg auf der Autobahn München-Stuttgart bis in die Gegend von Leipheim zurück. Wegen seiner Übermüdung - er hatte den Wagen immer selbst gesteuert - wurde dort eine mehrstündige Ruhepause im Wagen verbracht. Auf der Weiterfahrt geriet der Kläger bei Ulm in dichten Nebel. Nordwestlich von Ulm stoppte er seinen Wagen und wollte aussteigen, weil vor ihm ein anderer Kraftfahrer hielt. In diesem Augenblick - etwa um 6 Uhr - rammte ein hinter dem Kläger fahrender Lastkraftwagen den Wagen des Klägers, der dabei erhebliche Beinverletzungen erlitt. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 4. Juni 1957 den Entschädigungsanspruch des Klägers ab mit der Begründung, wegen des langen privaten Aufenthalts in München könne der Unfall nicht mehr dem landwirtschaftlichen Unternehmen des Klägers zugerechnet werden.

Diesen Bescheid haben der Kläger und die Allgemeine Ortskrankenkasse Göppingen (Klägerin zu 2) mit der Klage angefochten. Ihren gleichlautenden Sachanträgen hat das Sozialgericht (SG) Ulm mit Urteil vom 19. November 1957 stattgegeben, nachdem es den Zeugen H vernommen hatte.

Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat den Zeugen B. vernommen und durch Urteil vom 25. November 1959 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Entgegen der vom SG vertretenen Auffassung komme ein Wegeunfall im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht in Betracht. Vielmehr habe es sich um eine Betriebsfahrt gehandelt, so daß allein die Vorschrift des § 542 RVO maßgebend sei. Der Unfall des Klägers sei als Arbeitsunfall im Sinne dieser Vorschrift anzusehen. Der Aufenthalt in München habe lediglich eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes bewirkt, welche im Unfallzeitpunkt schon beendet gewesen sei; dagegen sei eine endgültige Lösung von der betrieblichen Tätigkeit nicht eingetreten. Bei einer Betriebsfahrt sei - im Unterschied zu den Fällen des § 543 RVO - eine endgültige Lösung vom Unternehmen verhältnismäßig selten anzunehmen. Der Zeitraum von der Abfahrt aus Karlshuld um 17 Uhr bis zum Unfall am folgenden Morgen um 6 Uhr sei nicht so lang, um eine solche Annahme zu rechtfertigen.

Der Umweg über München, der eine vorübergehende Unterbrechung des Versicherungsschutzes bedingt habe, falle nicht ins Gewicht, denn der Kläger sei nicht auf diesem Umweg, sondern an einer Stelle verunglückt, an die er auch ohne Umweg gekommen wäre. Im übrigen sei aber die Fahrt über München auch nicht durch völlig betriebsfremde Umstände veranlaßt worden. Vielmehr habe der Kläger die schlechten Straßenverhältnisse, die er auf der Hinfahrt über Neuburg angetroffen habe, vermeiden wollen und deshalb die zwar erheblich weitere, aber erfahrungsgemäß bequemer und schneller zu befahrende Autobahnstrecke über München gewählt. In München selbst habe die Zeit des Abendessens bis gegen 21 Uhr als erforderliche Ruhepause noch mit der betrieblichen Tätigkeit zusammengehangen. Völlig betriebsfremd hätten sich der Kläger und seine Begleiter nur während der Zeit von 21 Uhr bis zur Abfahrt um 2 Uhr betätigt. Dieser Aufenthalt von höchstens fünf Stunden habe unter den gegebenen Umständen eine endgültige Lösung des Zusammenhangs mit der betrieblichen Tätigkeit nicht herbeigeführt, zumal da noch zu berücksichtigen sei, daß der stadtunkundige Kläger vernünftigerweise bis zum Abflauen des um 22 Uhr besonders starken Stadtverkehrs warten mußte. Auch die während der späteren Rückfahrt eingelegten Pausen hätten nicht eigenwirtschaftlichen Zwecken, sondern dem Ausruhen des - zum Teil durch betriebsbedingte Umstände - übermüdeten Klägers gedient. Schließlich sei auch nicht außer acht zu lassen, daß die Betriebsfahrt an einem - an sich zur Erholung bestimmten - Sonntag stattgefunden und der Kläger nach Beendigung seiner betrieblichen Aufgaben nichts zu versäumen gehabt habe. Der Versicherungsschutz sei auch nicht etwa wegen einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit des Klägers oder unter dem Gesichtspunkt einer selbstgeschaffenen Gefahr entfallen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 4. Januar 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 28. Januar 1960 Revision eingelegt und sie - nach Fristverlängerung um einen weiteren Monat (§ 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - am 4. April 1960 wie folgt begründet: Im Zeitpunkt des Unfalls sei für den Kläger eine endgültige Lösung von der versicherten Tätigkeit bereits eingetreten, weil er in privatem Interesse einen erheblichen Umweg über München genommen und der private, nicht lediglich der notwendigen Erholung dienende Aufenthalt in München über sieben Stunden gedauert habe. Dies habe das LSG verkannt. Ferner rügt die Revision unzureichende Erforschung des Sachverhalts hinsichtlich der Beschaffenheit der Bundesstraße 16 und zur Frage des beim Kläger anzunehmenden Blutalkoholgehalts.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung der Urteile des LSG und des SG die Klage gegen den Bescheid vom 4. Juni 1957 abzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und tritt den Verfahrensrügen der Beklagten entgegen.

Die Klägerin zu 2) beantragt gleichfalls Zurückweisung der Revision. Sie macht u. a. geltend, der Versicherungsschutz wäre auch erhalten geblieben, wenn der Kläger, nachdem er am 30. September seit dem frühen Morgen unterwegs und den ganzen Tag über stark beansprucht gewesen sei, in München übernachtet und erst am 1. Oktober die Heimreise angetreten hätte.

II

Die Revision ist statthaft durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.

Zutreffend ist das LSG davon ausgegangen, daß die Geschäftsfahrt des Klägers nicht nach § 543 RVO in der bis zum 30. 6.63 geltenden Fassung, sondern nach § 542 RVO aF zu beurteilen ist. Dem LSG ist auch darin beizupflichten, daß der auf § 542 RVO aF beruhende Versicherungsschutz im allgemeinen durch "Unterbrechung" oder "Lösung" des betrieblichen Zusammenhangs weniger leicht verlorengeht, als es bei den Wegen nach und von der Arbeitsstätte (§ 543 RVO aF der Fall sein kann (vgl. BSG 8, 48, 52). Die Erwägungen, mit denen das LSG den hier vorliegenden Sachverhalt beurteilt hat, geben jedoch auch bei Anwendung des für Dienstreisen angemessenen großzügigeren Maßstabs zu durchgreifenden Bedenken Anlaß.

Das LSG hat angenommen, der Versicherungsschutz habe jedenfalls im Unfallzeitpunkt wieder bestanden, möge auch der Umweg über München und der Aufenthalt des Klägers daselbst eine vorübergehende Unterbrechung der versicherten Geschäftsfahrt bewirkt haben. Diese Annahme wird den tatsächlichen Feststellungen nicht gerecht; diese sprechen nach Auffassung des erkennenden Senats vielmehr dafür, daß der Kläger sich im Unfallzeitpunkt bereits endgültig von der versicherten Tätigkeit gelöst hatte. Dabei kann durchaus mit dem LSG dem Kläger zugebilligt werden, daß für seinen Heimweg nicht ausschließlich wieder die Bundesstraße 16 über Donauwörth in Betracht kam, sondern daß es ihm freistand, wegen der schnelleren und bequemeren Befahrbarkeit die nächsterreichbare Autobahnstrecke zu benutzen. Insofern bedarf es keiner Auseinandersetzung mit dem Revisionsvorbringen, das LSG hätte über die Beschaffenheit der Bundesstraße 16 nähere Einzelheiten ermitteln müssen. Hierauf kam es nicht an, zumal da die Beklagte selbst in ihrer Berufungsschrift eingeräumt hatte, daß die Bundesstraße nicht so bequeme Straßenverhältnisse wie die Autobahn aufweise. Das LSG hat jedoch nicht genügend beachtet, daß sich dem Kläger, als er gegen 17 Uhr in Karlshuld seine geschäftlichen Angelegenheiten beendete, nicht allein die Weiterfahrt in östlicher Richtung zur Autobahn Nürnberg-München anbot, sondern daß er den von ihm angegebenen Zweck - Erreichen der heimwärtsführenden Autobahnstrecke München-Ulm - auch dadurch verwirklichen könnte, daß er südwestlich über Schrobenhausen, Aiching fuhr, um dann bei Dasing in der Nähe von Augsburg auf die genannte Autobahn zu gelangen. Ein Blick auf die Straßenkarte läßt jedenfalls erhebliche Bedenken gegen die Annahme des LSG aufkommen, einem Geschäftsreisenden, der mit seinem Kraftwagen von Karlshuld aus wieder in Richtung Ulm zurückzufahren habe und hierbei nach Möglichkeit Autobahnstrecken benutzen wolle, bleibe in dieser Situation nur der weit nach Süden ausholende Umweg über München. Es ist auch nicht ersichtlich, daß der Kläger etwa nur in München Gelegenheit zur alsbald erforderlichen Verpflegung und Erholung finden konnte.

Gerade in der Innenstadt von München traf der Kläger nun aber auf die vom LSG im einzelnen angeführten Verhältnisse, die seine Weiterfahrt ganz erheblich verzögert und so dazu beigetragen haben, daß er seinen Wohnort nicht, wie es normalerweise zu erwarten gewesen wäre, noch am Abend des 30. September erreichen konnte, sondern erst am folgenden Morgen. Unter diesen Umständen ist - auf jeden Fall von der Beendigung des Abendessens an gerechnet - in dem mehrstündigen Aufenthalt in München nicht nur eine vorübergehende Unterbrechung, sondern eine endgültige Lösung des Zusammenhangs mit der Betriebstätigkeit zu erblicken. Die Heimfahrt nach Sparwiesen war in den Morgenstunden des 1. Oktober durch die Begleitumstände, die den vorhergehenden Abend kennzeichneten - nicht betriebsbedingtes Abbiegen nach München, stundenlang verzögerte Abfahrt von dort, Übermüdung des Klägers, die wiederum zu langen Ruhepausen nötigte -, derart in ihrem Wesen verändert, daß sie nach der Verkehrsanschauung nicht mehr als Rückkehr von der Geschäftsfahrt in den Kreis Neuburg, sondern als Rückkehr von einem privaten Ausflug nach München anzusehen ist. Die Klägerin zu 2) übersieht bei ihrem Hinweis auf die dem Kläger offenstehende Möglichkeit, statt sofortiger Heimreise zunächst auswärts zu übernachten, daß eine betriebsbedingte Notwendigkeit hierzu nicht von der in München entstandenen Lage aus zu beurteilen wäre, sondern von den tatsächlichen Gegebenheiten, wie sie bei Beendigung der Geschäftstätigkeit in Karlshuld bestanden haben.

Hiernach mußte der Versicherungsschutz für den Kläger als erloschen angesehen werden, ungeachtet der Tatsache, daß sich der Unfall erst an einer Stelle ereignet hat, die sich bereits wieder auf dem üblichen Heimweg befand. Der Bescheid der Beklagten vom 4. Juni 1957 ist somit zu Recht ergangen, die hiergegen erhobene Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2380372

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