Leitsatz (amtlich)

1. In der Arbeitslosenversicherung ist die Gleichstellung von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen mit den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes und in Berlin (West) durch BVFG § 90 Abs 1 (BGBl 1 1953, 201) unmittelbar geltendes Recht.

2. Bei einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling gilt als versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des AVAVG 1927 § 95 auch eine Beschäftigung, die in der Sowjetzone ausgeübt worden ist und in Westdeutschland versicherungspflichtig gewesen wäre.

3. Einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling steht die verlängerte Bezugsdauer der Arbeitslosenunterstützung gemäß AVAVG 1927 § 99 Abs 1 S 3 zu.

 

Normenkette

AVAVG § 95; AVAVG 1927 § 95; AVAVG § 99 Abs. 1 S. 3; BVFG § 90 Abs. 1

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. September 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Die Gebühr für die Berufstätigkeit des Rechtsanwalts Dr. W, Hamburg, vor dem Bundessozialgericht wird auf 100.- DM festgesetzt.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Die Klägerin ist am 23. Mai 1953 aus der Sowjetzone Deutschlands in die Bundesrepublik geflohen, hier im Notaufnahmeverfahren als politischer Flüchtling laut Ausweis vom 13. Juni 1953 anerkannt und nach Hamburg eingewiesen worden. Am 22. Juni 1953 hat sie sich beim Arbeitsamt Hamburg arbeitslos gemeldet und Arbeitslosenunterstützung (Alu) beantragt. Auf Grund von Versicherungsausweisen und Verträgen hat sie nachgewiesen, daß sie in der Sowjetzone als Schauspielerin tätig war, und zwar

1.) vom 16. August 1948 bis zum 15. August 1949 beim Landestheater Borna,

2.) vom 15. August 1949 bis zum 12. März 1950 beim Stadttheater Meißen,

3.) vom 15. März 1950 bis zum 12. Juni 1950 beim Stadttheater Senftenberg,

4.) vom 13. Juni 1950 bis zum 27. August 1950 beim Stadttheater Meißen,

5.) vom 1. September 1950 bis zum 31. Juli 1951 beim Stadttheater Senftenberg,

6.) vom 15. August 1951 bis zum 31. Dezember 1951 beim Stadttheater Görlitz,

7.) vom 1. Januar 1952 bis zum 14. August 1952 beim Stadttheater Görlitz,

8.) vom 1. September 1952 bis zum 23. Mai 1953 beim Stadttheater Bautzen.

Das Arbeitsamt Hamburg hat ihr die Alu für 156 Unterstützungstage (26 Wochen) bewilligt.

Auf Grund der Änderung des § 99 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) durch § 1 des Gesetzes zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022) beantragte die Klägerin am 12. Dezember 1953, ihr die Alu über 26 Wochen hinaus zu gewähren. Mit Verfügung vom 30. Dezember 1953 wurde dieser Antrag vom Arbeitsamt abgelehnt, da das Beschäftigungsverhältnis nicht zusammenhängend gewesen sei. Der Einspruch hiergegen wurde von der Widerspruchsstelle des Arbeitsamts unter dem 13. Februar 1954 mit der gleichen Begründung zurückgewiesen.

II. Auf ihre Klage hin hob das Sozialgericht Hamburg mit Urteil vom 14. April 1955 die Bescheide des Arbeitsamts und der Widerspruchsstelle auf und verurteilte die Beklagte, der Klägerin im Anschluß an die bereits für 26 Wochen gewährte Alu diese für weitere 19 Wochen zu zahlen. Der Begriff "ununterbrochene versicherungspflichtige Beschäftigung" im § 99 Abs. 1 Satz 3 müsse dahin ausgelegt werden, daß die Arbeitszeit nicht durch echte Arbeitslosigkeit unterbrochen werden dürfe. Als arbeitslos habe die Klägerin aber nicht angesehen werden können, da sie jeweils schon während der laufenden Spielzeit den Vertrag für die neue abgeschlossen habe. Sie könne also auch nicht als engagementslos bezeichnet werden. Es komme im übrigen nicht darauf an, ob zwischen den einzelnen Beschäftigungsverhältnissen Lücken von einem oder mehreren Tagen oder einigen Wochen lägen.

Auf die Berufung der Beklagten hob das Landessozialgericht Hamburg mit Urteil vom 29. September 1955 das Urteil des Sozialgerichts Hamburg auf und wies die Klage ab. Es verwarf die Einwände der Beklagten, § 99 gelte für Sowjetzonenflüchtlinge überhaupt nicht und Nr. 2 des Ersten Durchführungserlasses zur Militärregierungs-Verordnung (MRVO) Nr. 111 beschränke die Anwendung der Alu-Bestimmungen für diesen Personenkreis nur auf den § 95 AVAVG. Vielmehr sei durch diese Vorschrift für die Sowjetzonenflüchtlinge das sonst geltende Territorialitätsprinzip in der Arbeitslosenversicherung aufgehoben worden, d. h. die Flüchtlinge sollten in der britischen Zone der Bundesrepublik versicherungsmäßige Ansprüche auch haben, obgleich die Versicherungsbeiträge nicht einer Dienststelle der Bundesrepublik zugeflossen seien. Wenn in dieser Vorschrift nur § 95 erwähnt werde, sei gleichwohl § 99 auf diese Flüchtlinge anwendbar, da sich nur daraus die Bezugsdauer der Alu ergebe. § 99 sei die notwendige Ergänzung zu § 95. Durch § 90 des Bundesvertriebenengesetzes sei dies nur nochmals bestätigt worden. Dagegen könne die Klägerin Alu nicht über 26 Wochen hinaus erhalten, da ihre Beschäftigung wiederholt unterbrochen gewesen sei.

Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung zugelassen worden.

III. Gegen das dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin am 10. Oktober 1955 zugestellte Urteil hat dieser mit Schriftsatz vom 7. November 1955 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 9. November - Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 29. September 1955 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin im Anschluß an die bereits gewährten 26 Wochen Alu für weitere 19 Wochen zu zahlen. Nach Verlängerung der Begründungsfrist gemäß § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hat er die Revision mit Schriftsatz vom 9. Januar 1956 - beim Bundessozialgericht eingegangen am 10. Januar - damit begründet, der 7. Senat des Bundessozialgerichts habe in seinem Urteil 7 RAr 7/54 vom 30. August 1955 die Vorschrift des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG als eine Belohnung für die Arbeitslosen bezeichnet, die überhaupt nicht oder bedeutend weniger als andere die Versicherungsleistungen in Anspruch genommen hätten. Nach der Praxis der Beklagten würden aber Bühnenangehörige, die bei Beendigung ihres Beschäftigungsverhältnisses bereits die vertragliche Verpflichtung für ein neues eingegangen seien, nicht als arbeitslos im Sinne des § 87 a Abs. 2 AVAVG behandelt, sofern dazwischen nicht ein Zwischenraum von mehr als einem Monat liege. In solchen Fällen dürfe man deshalb noch von einem "nahtlosen" Zusammenhang sprechen.

Die Beklagte hat mit Schriftsatz vom 11. Februar 1956 beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen. Sie hält es für zweifelhaft, ob Personen, die außerhalb der Bundesrepublik tätig waren, überhaupt einen Anspruch auf Alu geltend machen können. Die Versicherungspflicht einer Beschäftigung richte sich nach § 69 AVAVG. Diese umfasse aber nur Tätigkeiten, die im Geltungsbereich des AVAVG ausgeübt worden seien. Eine solche Tätigkeit könne die Klägerin nicht nachweisen, da das AVAVG in der Sowjetzone nicht gelte. Die Bundesanstalt habe zwar bisher in Übereinstimmung mit dem Bundesminister für Arbeit auf Grund des Ersten Durchführungserlasses zur MRVO Nr. 111, der bayerischen Verordnung Nr. 146 und der württembergbadischen Verordnung Nr. 1023 die Ansicht vertreten, daß legalen Sowjetzonenflüchtlingen Alu dann zustehe, wenn die Beschäftigung in der Sowjetzone versicherungspflichtig war und auch im Geltungsbereich des AVAVG versicherungspflichtig gewesen wäre. Nachdem aber der 7. Senat des Bundessozialgerichts in seinem Urteil 7 RAr 12/55 vom 17. Juni 1955 diesen Bestimmungen lediglich den Charakter von Verwaltungserlassen zugestanden habe, sei zu prüfen, ob eine andere Rechtsgrundlage gegeben sei. Nach Auffassung der Beklagten hat sich insoweit eine entsprechende gewohnheitsrechtliche Norm gebildet, als es sich um die Gewährung der Alu bis zu 26 Wochen handelt. Die Frage, ob eine Tätigkeit in der Sowjetzone von 104 Wochen und mehr zum Bezuge der Alu nach § 99 Abs. 1 Satz 3 berechtigte, habe der Bundesminister für Arbeit aber verneint. Im übrigen könne die Klägerin Alu für mehr als 26 Wochen schon deshalb nicht erhalten, weil ihre Tätigkeit mehrfach Unterbrechungen aufweise.

Klägerin und Beklagte haben mit Schriftsätzen vom 29. März und 14. Mai 1956 erwidert. Im einzelnen wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

IV. Die Revision ist zulässig, konnte aber keinen Erfolg haben.

Zwar kann der Auffassung der Beklagten, daß die Klägerin als Sowjetzonenflüchtling überhaupt keinen Rechtsanspruch auf Alu in der Bundesrepublik habe, nicht zugestimmt werden.

Als der Klägerin durch Verfügung des Arbeitsamts Hamburg vom 27. Juli 1953 die Alu für 156 Tage gewährt wurde, war seit dem 5. Juni 1953 das Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG -) vom 19. Mai 1953 (BGBl. I S. 201) in Kraft. Nach dessen § 90 Abs. 1 werden Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge in der Sozialversicherung und Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes (GG) und in Berlin (West) gleichgestellt. Abs. 2 befaßt sich dann gesondert mit der Sozialversicherung. Abs. 3 besagt "Das Nähere regelt ein Bundesgesetz". Eine solche nähere Regelung ist zur Sozialversicherung in dem Fremdrenten- und Auslandsrentengesetz vom 7. August 1953 (BGBl. I S. 848) ergangen. Es fragt sich, ob Abs. 3 sich auch auf den Abs. 1 bezieht bzw. ob Abs. 1 auch ohne "nähere" Regelung bereits als geltendes Recht anzusehen ist.

Letzteres ist zu bejahen. Dafür spricht schon der Wortlaut des Abs. 1. Dort werden Sowjetzonenflüchtlinge den Berechtigten im Geltungsbereich des GG und in Berlin (West) gleichgestellt. Eine solche positive Vorschrift stellt nicht nur eine programmatische Erklärung dar; denn in diesem Falle hätte es "sollen ... gleichgestellt werden" oder ähnlich heißen müssen. Sie gilt vielmehr unmittelbar (ebenso Leitreiter , Bundesvertriebenengesetz, Erläuterung zu § 90 Abs. 1). Durch das im § 90 Abs. 3 vorgesehene Bundesgesetz könnte dazu zwar Näheres geregelt werden, die Gleichstellung als solche ist aber bereits durch Abs. 1 statuiert.

Darüber hinaus kann bezweifelt werden, ob der Abs. 3 sich überhaupt auf die Arbeitslosenversicherung bezieht oder ob nicht ein gesetzestechnisches Versehen vorliegt und Abs. 3 als letzter Satz des Abs. 2 gedacht war. Das könnte einmal daraus entnommen werden, daß der Gesetzgeber nach mehr als drei Jahren seit dem Inkrafttreten des BVFG ein solches Regelungsgesetz noch nicht erlassen hat, obwohl der nach vielen Tausenden zählende Flüchtlingsstrom dies gebieterisch verlangt hätte. Aber auch die Entstehungsgeschichte des § 90 BVFG weist in diese Richtung. In der Begründung zu dem damaligen § 65 der Regierungsvorlage (vgl. Bundestagsdrucksache Nr. 2872, 1. Wahlperiode) war nur auf die Leistungen und Anwartschaften auf dem Gebiete der Sozialversicherung verwiesen worden, zu der im eigentlichen Sinne die Arbeitslosenversicherung nicht zu rechnen ist. Die Begründung schloß mit dem Satz: "Die Durchführung im einzelnen ist einer besonderen bundesgesetzlichen Regelung vorbehalten". In dem schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Heimatvertriebene vom 11. Februar 1953 - Drucksache Nr. 4080 - zu § 89, der im Ausschuß endgültig den Wortlaut des jetzigen § 90 BVFG erhalten hatte, heißt es: "Mit Rücksicht darauf, daß der Entwurf der in Abs. 2 vorgesehenen bundesgesetzlichen Regelung bereits festgestellt ist (Entwurf eines Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes), hat der Ausschuß davon abgesehen, weitere Einzelheiten im Bundesvertriebenengesetz zu regeln". Für den Bereich der Sozialversicherung sollte nach der Begründung zum Entwurf des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes aber eine einheitliche Regelung für alle Fälle geschaffen werden, "in denen durch die Trennung der gesamtstaatlichen deutschen Sozialversicherung infolge der seit 1945 eingetretenen völker-und staatsrechtlichen Verhältnisse die Versicherten und Anspruchsberechtigten Einbußen in ihren Sozialversicherungsrechten erlitten haben" (Bundestagsdrucksache Nr. 4201, S. 14, 1. Wahlperiode). Insoweit gibt § 90 Abs. 2 BVFG den Rahmen. Zutreffend weisen demgegenüber Weber-Bode-Ehrenforth in ihrem Kommentar zum BVFG in Anm. 2 zu § 90 darauf hin, daß die Vorschriften des AVAVG ausreichen, um dem Grundsatz der Gleichstellung in der Praxis Rechnung zu tragen.

Die beklagte Bundesanstalt hält zwar ein Regelungsgesetz schon deshalb für erforderlich, weil die Frage der Aufbringung der Mittel nicht wie in den §§ 13 ff. des Fremdrenten- und Auslandsrentengesetzes geklärt sei. Jedoch kann dieser Einwand nicht durchgreifen. Denn ohne Rücksicht auf die Frage, ob eine solche Regelung notwendig ist, könnte dadurch an dem im Abs. 1 des § 90 statuierten Grundsatze der Gleichstellung nichts geändert werden.

Im übrigen erachtet die Bundesregierung selbst es offensichtlich auch jetzt noch nicht für erforderlich, daß für die Arbeitslosenversicherung ein Regelungsgesetz erlassen wird. Dies ergibt sich aus dem Entwurf der Großen Novelle zum AVAVG. Dort ist als § 95 a vorgesehen:

"Als versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 95 gilt auch eine Beschäftigung Deutscher im Gebiet des Deutschen Reichs nach dem Stand vom 31. Dezember 1937, aber außerhalb des Geltungsbereichs dieses Gesetzes, wenn und soweit sie nach dem in diesem Gebiet geltenden Recht der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlag und auch bei einer Ausübung im Geltungsbereich dieses Gesetzes der Arbeitslosenversicherungspflicht unterlegen hätte."

In der Begründung hierzu wird u. a. gesagt: "Durch den § 95 a des Entwurfs wird der Vorschrift des § 90 Abs. 1 des Bundesvertriebenengesetzes vom 19. Mai 1953 (BGBl. I S. 201) entsprochen". Der Abs. 3 des § 90 BVFG wird dagegen nicht erwähnt. § 95 a stellt, wenn er Gesetz wird, keine "nähere Regelung" zu § 90 BVFG dar, sondern er verändert die durch das BVFG geschaffene Rechtslage, indem er Beschäftigungen in der Sowjetzone solchen in der Bundesrepublik nicht nur dann gleichstellt, wenn sie von Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlingen im Sinne der §§ 1 bis 4 BVFG ausgeübt sind, sondern allgemein. Ob schließlich die Auffassung der Bundesanstalt zutrifft, daß sich - ausgehend von den oben erwähnten zonen- und landesrechtlichen Vorschriften (vgl. dazu Urteil des erkennenden Senats vom 12.7.1955, BSG. 1 S. 144) - ein Gewohnheitsrecht entwickelt habe, wonach Sowjetzonenflüchtlingen Alu bis zu 26 Wochen zustehe, kann hier dahingestellt bleiben. Denn wenn auch Gewohnheitsrecht dem gesetzten Recht gleichzustellen ist, so wird es jedenfalls durch eine bundeseinheitliche Regelung wie die des § 90 BVFG abgelöst (vgl. hierzu auch Art. 74 Nr. 6 und 12 GG). Der vorliegende Fall war aber auf Grund des nach dem Inkrafttreten des BVFG geltenden Rechts zu entscheiden.

Die Klägerin ist als Sowjetzonenflüchtling im Sinne des BVFG anerkannt. Sie hat innerhalb der Rahmenfrist des § 95 Abs. 2 und 3 AVAVG mehr als 52 Wochen Beschäftigung nachgewiesen, die im Geltungsbereich der MRVO Nr. 111 versicherungspflichtig gewesen wäre. Die Beschäftigung unterlag auch - es kann dahingestellt bleiben, ob es dieser Voraussetzung nach dem zur Zeit geltenden Recht ebenfalls bedurfte - auf Grund der Verordnung über die Pflichtversicherung gegen Arbeitslosigkeit in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands vom 28. Januar 1947 (Arbeit und Sozialfürsorge 1947 S. 103) dort der Versicherungspflicht. Das Arbeitsamt hat der Klägerin daher gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 AVAVG die Alu für 26 Wochen zu Recht gewährt.

V. Die Klägerin begehrt die Alu aber nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG in der Fassung des am 1. August 1953 in Kraft getretenen Änderungsgesetzes vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022) für 45 Wochen, da ihre versicherungspflichtige Beschäftigungszeit mehr als 208 Wochen gedauert habe.

Die Beklagte bestreitet die Berechtigung auch dazu und stützt sich dabei auf Erlasse des Bundesministers für Arbeit vom 21. Juli und 16. Oktober 1954, nach denen den Sowjetzonenflüchtlingen die Alu nur für 26 Wochen gewährt werden solle. Hierauf näher einzugehen, erübrigt sich jedoch. Nachdem der Senat festgestellt hat, daß die Gleichstellung der Vertriebenen und Sowjetzonenflüchtlinge mit den Berechtigten im Geltungsbereich des GG und in Berlin (West) im § 90 Abs. 1 BVFG geltendes Recht ist, muß auf die anerkannten Sowjetzonenflüchtlinge § 99 AVAVG im vollen Umfange angewandt werden. Anderenfalls würde ein Verstoß gegen Art. 3 GG vorliegen.

Daß sich seit dem Inkrafttreten des BVFG etwa ein neues Gewohnheitsrecht - und zwar hier gegen die gesetzliche Regelung des § 90 BVFG - hätte bilden können, ist auszuschließen.

Der Entwurf der Großen Novelle zum AVAVG sieht allerdings in § 99 Abs. 2 eine Schlechterstellung der anerkannten Sowjetzonenflüchtlinge vor; denn danach soll das Arbeitslosengeld über 26 Wochen hinaus nur bei "versicherungs- und beitragspflichtiger Beschäftigung im Geltungsbereich dieses Gesetzes" gewährt werden. Doch ist dies eine Angelegenheit des Gesetzgebers, mit der hier sich auseinanderzusetzen der Senat keine Veranlassung hatte.

VII. Voraussetzung für eine Gewährung der Alu über 26 Wochen hinaus ist aber, daß die versicherungspflichtige Beschäftigung ununterbrochen verlaufen ist. Mit dem Begriff "ununterbrochen" hat sich der erkennende Senat in dem erwähnten Urteil vom 30. August 1955 (BSG. 1 S. 126 unter Nr. VII) eingehend befaßt.

Die Beschäftigungen der Klägerin waren mehrfach unterbrochen, und zwar am 13./14. März 1950 (2 Tage), vom 28. bis 31. August 1950 (4 Tage), vom 1. bis 14. August 1951 (14 Tage) und vom 15. bis 31. August 1952 (17 Tage). Ob diese Unterbrechungen verschuldet waren oder nicht, ist unbeachtlich. Daß die Pausen im Schauspielerberuf und in den verschiedenen Spielzeiten der Theater begründet, also berufsüblich sind ändert nichts daran, daß durch sie der "nahtlose" Zusammenhang zwischen den einzelnen Beschäftigungsverhältnissen gelöst ist. Die Klägerin meint, in dem Urteil scheine insofern eine gewisse Bruchstelle zu sein, als es eine Unterbrechung für unschädlich erkläre, wenn "betriebsüblich" der Sonnabend (Samstag) arbeitsfrei sei; es sei aber nicht erkennbar, welcher Unterschied zwischen einer "betriebsüblichen Unterbrechung" und der "betriebsüblichen Pause" bestehe. Eine solche "Bruchstelle" besteht jedoch nicht. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß das Urteil nicht von " betriebsüblichen Pausen" spricht - das wären Unterbrechungen der laufenden Arbeitszeit durch Pausen -, sondern von " berufsüblichen Pausen". Es würde jedoch dem Sinn des § 99 Abs. 1 Satz 3 widersprechen, das Risiko für die verschiedenartigen und verschieden langen Pausen in den einzelnen Berufen auf die Arbeitslosenversicherung abzuwälzen. In dem Urteil ist bereits dargelegt, daß bei den Bühnenangehörigen Pausen bis zu drei Monaten und noch länger entstehen können. Das gleiche gilt für witterungsabhängige Berufe wie für die Bauwirtschaft und die Industrie der Steine und Erden. Ist dagegen betriebsüblich der Sonnabend (Samstag) arbeitsfrei, so ist die Rechtslage eine andere; denn hier endet das Beschäftigungsverhältnis mit dem Ende der Arbeitswoche, und das neue beginnt mit deren Anfang. Ob es zutrifft, daß die Dienststellen der Bundesanstalt bei Unterbrechungen von weniger als einem Monat Arbeitslosigkeit nicht annehmen, ist eine Frage, die hier nicht zu behandeln ist. Mit dem Begriff der Arbeitslosigkeit hat sich der erkennende Senat in seinem Urteil vom 21. März 1956 (BSG. 2 S. 67) ausführlich auseinandergesetzt.

VIII. Die Klägerin hat ihr Beschäftigungsverhältnis beim Stadttheater Görlitz am 14. August 1952 beendet und das neue beim Stadttheater Bautzen am 1. September 1952 begonnen, also nach einer Pause von 17 Tagen. Ein solcher Zwischenraum unterbricht den Zusammenhang. Die Alu konnte deshalb nicht auf Grund des § 99 Abs. 1 Satz 3, sondern nur nach Satz 2 berechnet werden. Eine Bewilligung über 26 Wochen hinaus war nicht zulässig.

Die Revision der Klägerin mußte deshalb zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).

Die Entscheidung über die Kosten und Gebühren beruht auf den §§ 193, 196 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324115

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