Leitsatz (amtlich)

Ein Zuwanderer, der nicht als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling im Sinne des BVFG § 90 Abs 1 in Verbindung mit den BVFG §§ 1-4 (BGBl 1 1953 201) anerkannt ist, erfüllt die Anwartschaft auf versicherungsmäßige Arbeitslosenunterstützung (Alu) nicht durch eine Beschäftigung, die er in der Sowjetzone ausgeübt hat.

 

Normenkette

AVAVG § 95; AVAVG 1927 § 95; BVFG §§ 1-4, 90 Abs. 1

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. Oktober 1955 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I Der Kläger ist am 17. Juli 1953 aus der sowjetischen Zone in die Bundesrepublik eingereist und beantragte am 6. August 1953 im Notaufnahmelager Uelzen Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet. Dieser Antrag wurde durch Beschluß des Aufnahmeausschusses vom 7. August 1953 abgelehnt, die dagegen eingelegte Beschwerde am 12. August 1953 zurückgewiesen. Eine vom Kläger anschließend betriebene Klage bei dem Landesverwaltungsgericht Braunschweig, Kammer Lüneburg, hat er selbst späterhin zurückgezogen.

II Am 12. September 1953 meldete sich der Kläger beim Arbeitsamt Darmstadt arbeitslos und beantragte die Gewährung von Arbeitslosenunterstützung (Alu). Durch Bescheid vom 22. September 1953 wurde dieser Antrag abgelehnt, weil die Zuständigkeit des Arbeitsamts (§ 168 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG -) nicht gegeben sei; bei dem Kläger handele es sich um einen illegalen Zuwanderer. Gegen diesen Bescheid erhob der Kläger keinen Widerspruch. Auf eine Eingabe vom 18. November 1953 wurde ihm dann mit Verfügung vom 1. Dezember 1953 rückwirkend ab 12. September 1953 Arbeitslosenfürsorgeunterstützung (Alfu) gewährt. Nachdem der Aufnahmeausschuß im Notaufnahmelager Uelzen dem Kläger am 4. Januar 1955 die Erlaubnis zum ständigen Aufenthalt im Bundesgebiet im Wege des Ermessens erteilt hatte, gewährte das Arbeitsamt Darmstadt ihm durch Verfügung vom 9. März 1955 Alu für die Dauer von 26 Wochen.

Im Widerspruchsverfahren machte der Kläger geltend, er sei 5 Jahre hindurch ununterbrochen, nämlich vom 1. August 1948 bis 31. Juli 1953, am Landestheater Güstrow als Schauspieler versicherungspflichtig beschäftigt gewesen; mithin stehe ihm Alu für 52 Wochen zu. Die Widerspruchsstelle beim Arbeitsamt Darmstadt wies jedoch diesen Anspruch zurück, weil der Kläger die Anwartschaft für eine über 26 Wochen hinausgehende Bezugsdauer nicht im Bundesgebiet erworben habe.

III Gegen den Widerspruchsbescheid vom 5. April 1955 erhob der Kläger beim Sozialgericht Darmstadt Klage mit dem Antrage, ihm für eine Bezugsdauer von 52 Wochen Alu zu gewähren. Mit Urteil vom 27. Juni 1955 gab das Sozialgericht der Klage mit der Begründung statt, das Gesetz zur Änderung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenfürsorge vom 24. August 1953 stelle nur eine Ergänzung des AVAVG dar, schaffe aber kein neues Recht mit beschränkter Anwendbarkeit. Da in diesem Gesetz keine Bestimmung des Inhalts enthalten sei, daß die im § 99 AVAVG festgelegten Erweiterungszeiten bei den in der sowjetischen Besatzungszone erworbenen Anwartschaften keine Anwendung finden könnten, bestehe kein Grund, dem Kläger die Gewährung der Alu über 26 Wochen hinaus zu verweigern.

IV Auf die Berufung der Beklagten hin hob das Hessische Landessozialgericht in Darmstadt durch Urteil vom 5. Oktober 1955 das erstinstanzliche Urteil auf und wies die Klage ab. In den Urteilsgründen ist u. a. ausgeführt, der Kläger könne keine im Geltungsbereich des AVAVG zurückgelegte versicherungspflichtige Beschäftigung nachweisen. Deshalb sei für ihn auch keine Anwartschaft auf Alu erwachsen. Zwar sei in verschiedenen Ländern der Bundesrepublik den legalen Sowjetzonenflüchtlingen im Verordnungswege ein Recht auf Alu zugestanden worden, sofern die Beschäftigung in der Ostzone versicherungspflichtig war und auch im Bundesgebiet nach dem AVAVG versicherungspflichtig gewesen wäre. Im Land Hessen jedoch bestehe keine derartige Durchführungsverordnung. Aus dem Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz - BVFG -) könne der Kläger den Anspruch auf Alu für 52 Wochen nicht herleiten. Zwar würden nach § 90 Abs. 1 dieses Gesetzes Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge in der Sozial- und Arbeitslosenversicherung den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes und in Berlin (West) gleichgestellt. Der Kläger sei aber nicht als Sowjetzonenflüchtling im Sinne des § 3 BVFG anerkannt und daher entfalle die Anwendung des § 90 Abs. 1 dieses Gesetzes. Revision wurde zugelassen.

V Der Kläger legte gegen das am 10. Januar 1956 zugestellte Urteil mit Schriftsatz vom 6. Februar 1956, beim Bundessozialgericht eingegangen am 7. Februar, Revision ein und beantragte,

unter Aufhebung des Urteils des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. Oktober 1955 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Darmstadt vom 27. Juni 1955 zurückzuweisen.

In der Revisionsbegründung vom 21. Februar 1956, eingegangen am 23. Februar, machte er geltend, die Beklagte habe durch die nachträgliche Zahlung der Alu für 26 Wochen selbst anerkannt, daß die in der sowjetischen Besatzungszone erfüllte Anwartschaft zum Bezuge der Alu auf die Dauer von 26 Wochen berechtige. Alsdann müsse aber auch die Erweiterung der Bezugsdauer auf 52 Wochen gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG Anwendung finden, nachdem unbestritten geblieben sei, daß er 260 Wochen ununterbrochen beim Landestheater Güstrow als Schauspieler in versicherungspflichtiger Beschäftigung gestanden habe. Jedenfalls biete das Gesetz selbst für eine einschränkende Auslegung keine Stütze. Im übrigen verweist der Kläger auf die nach seiner Ansicht zutreffenden Entscheidungsgründe im Urteil des Sozialgerichts Darmstadt.

Die Beklagte beantragte mit Schriftsatz vom 28. März 1956,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sie führte aus, für den Anspruch des Klägers auf Alu für 52 Wochen bestehe keinerlei Rechtsgrundlage. Die Anwendung des § 99 AVAVG setze zwingend den Erwerb einer Anwartschaft nach § 95 AVAVG voraus. Ob eine versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 95 Abs. 1 AVAVG vorliege, richte sich nach § 69 AVAVG, von dem jedoch nur solche Tätigkeiten erfaßt würden, die im Geltungsbereich dieses Gesetzes ausgeübt worden seien. Vorschriften, die den Anwendungsbereich des AVAVG über das Gebiet der Bundesrepublik hinaus erstreckten, bestünden im Land Hessen nicht. Danach habe der Kläger schon die Anwartschaft auf Alu nach § 95 AVAVG nicht erfüllt. Wolle man indessen annehmen, daß sich auf Grund der bisherigen Praxis eine gewohnheitsrechtliche Norm gebildet habe, nach welcher Beschäftigungsverhältnisse in der sowjetischen Besatzungszone eine Anwartschaft auf Alu in der Bundesrepublik zu begründen geeignet seien, so könne ein solches Gewohnheitsrecht nur zu Gunsten legaler Zuwanderer wirksam werden, da es von der Verwaltungspraxis nur auf einen solchen Personenkreis erstreckt worden sei. Auch dann führe aber eine allenfalls anwartschaftsbegründende Tätigkeit in der Sowjetzone keinesfalls zu einem Anspruch auf verlängerte Bezugsdauer gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG. Aus § 90 BVFG erwachse dem Kläger kein Anspruch auf Alu, weil der ihm im Billigkeitswege erteilte Flüchtlingsausweis den ausdrücklichen Vermerk trage, daß er nicht zum Anspruch auf Rechte und Vergünstigungen gemäß § 10 Abs. 1 BVFG berechtige. Eine Vergünstigung im Sinne des § 10 sei aber auch die in § 90 Abs. 1 BVFG vorgesehene Gleichstellung von Sowjetzonenflüchtlingen mit den Bundesdeutschen. Abgesehen davon, daß der Kläger von den Vergünstigungen des BVFG ausgeschlossen sei, ließen sich aber auch aus § 90 BVFG unmittelbar keine Rechte herleiten, weil dieser nicht unmittelbar geltendes Recht schaffe, sondern nur programmatische Bedeutung habe und das in Abs. 3 des § 90 vorgesehene besondere Bundesgesetz noch ausstehe.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Parteien wird auf die Schriftsätze Bezug genommen.

VI Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Sie ist auch frist- und formgerecht eingelegt sowie begründet worden und daher zulässig (§§ 164, 166 SGG). Doch muß ihr der Erfolg versagt bleiben.

Der erkennende Senat hat zwar bereits entschieden, daß durch § 90 Abs. 1 des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge vom 19. Mai 1953 (BGBl. I S. 201) unmittelbar geltendes Recht geschaffen wurde und daß daher seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (5.6.1953) in der Arbeitslosenversicherung Vertriebene und Sowjetzonenflüchtlinge den Berechtigten im Geltungsbereich des Grundgesetzes und in Berlin (West) gleichgestellt sind (vgl. Urteil vom 30.10.1956 - 7 RAr 142/55 - "Sozialrecht" AVAVG § 95 Bl. Ba 2 Nr. 1). Demzufolge gilt bei einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling auch eine Beschäftigung, die in der Sowjetzone ausgeübt worden ist und in Westdeutschland versicherungspflichtig gewesen wäre, als versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 95 AVAVG, und ebenso steht einem anerkannten Sowjetzonenflüchtling die verlängerte Bezugsdauer der Alu gemäß § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG zu.

Der Kläger fällt jedoch nicht unter den vom BVFG erfaßten Personenkreis, weil er weder Vertriebener (§ 1) noch Heimatvertriebener (§ 2) noch Sowjetzonenflüchtling (§ 3) noch einem solchen gleichgestellt (§ 4) ist. Der Kläger besitzt lediglich einen Ausweis des Leiters des Aufnahmeverfahrens im Notaufnahmelager Uelzen vom 4. Januar 1955, mit dem ihm die Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet "im Wege des Ermessens" erteilt wurde, "weil die weitere Versagung eine besondere Härte darstellen würde". Er ist ferner im Besitz eines Ausweises des Magistrats der Stadt Darmstadt, Sozialamt, vom 21. März 1955, der mit dem ausdrücklichen Vermerk versehen ist "Zum Anspruch auf Rechte und Vergünstigungen gemäß § 10 Abs. 1 BVFG nicht berechtigt". Der Kläger kann deshalb die im Bundesvertriebenengesetz vorgesehenen Rechte und Vergünstigungen nicht in Anspruch nehmen (§§ 9 und 10 BVFG).

VII Wie der Vorderrichter zutreffend festgestellt hat, waren vor dem Inkrafttreten des BVFG weder auf dem Gesetzes- oder Verordnungswege noch durch Ausführungsbestimmungen für das Land Hessen Vorschriften erlassen, nach denen - unter Verzicht auf das im AVAVG sonst geltende Territorialitätsprinzip - durch vorangegangene Beschäftigungen in der sowjetischen Besatzungszone die Anwartschaft erfüllt und der Anspruch auf versicherungsmäßige Alu erworben werden konnte. Zwar zahlte die örtliche Dienststelle der Beklagten, nachdem zuvor Alfu gewährt worden war, dem Kläger, als er die Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik am 4. Januar 1955 im Ermessenswege erlangt hatte, auf die Dauer von 26 Wochen Alu. Die Beklagte leistete diese Zahlung aber offenbar lediglich aus der Auffassung heraus, daß sich hierfür in Anlehnung an die in anderen Ländern des Bundesgebiets bestehende Regelung (vgl. Bayer. VO Nr. 146 vom 16.1.1948: Württ.-Bad. VO Nr. 1023 vom 8.9.1948: Erster Durchf. Erlaß zur MRVO Nr. 111 vom 6.10.1947) auch für Hessen ein Gewohnheitsrecht entwickelt habe. Es kann dahingestellt bleiben, ob vor der Verabschiedung des BVFG tatsächlich in Hessen bereits eine gewohnheitsrechtliche Norm des Inhalts im Entstehen war, daß aus der sowjetischen Besatzungszone gekommene Arbeitnehmer ohne Rücksicht darauf, ob sie als Vertriebene oder Flüchtlinge anerkannt sind, Alu bis zu 26 Wochen zustehe. Jedenfalls blieb nach dem Inkrafttreten des BVFG (5.6.1953) als bundeseinheitlicher Regelung für eine solche allenfalls auf landesrechtlicher Ebene erwachsene gewohnheitsrechtliche Übung kein Raum. Der vorliegende Fall aber mußte, da der Antrag des Klägers erst am 12. September 1953 gestellt war, auf Grund des nach dem Inkrafttreten des BVFG geltenden Rechts entschieden werden. Dessen Bestimmungen (s. o. unter VI) schließen jedoch aus, daß einem nicht anerkannten Flüchtling Rechte und Vergünstigungen in der Arbeitslosenversicherung eingeräumt werden, die jenen der legalen Flüchtlinge und Vertriebenen gleichstehen oder gar noch darüber hinausreichen.

Mithin erfüllt ein Zuwanderer, der nicht als Vertriebener oder Sowjetzonenflüchtling im Sinne des § 90 Abs. 1 in Verbindung mit §§ 1 bis 4 BVFG anerkannt ist, die Anwartschaft auf Alu nicht durch eine Beschäftigung, die er in der Sowjetzone ausgeübt hat. Alu steht ihm nicht zu. Damit entfällt zugleich die Möglichkeit, § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG anzuwenden.

VIII Insgesamt entbehren also die Ansprüche des Klägers auf Alu unter der Geltung des AVAVG in der gegenwärtigen Fassung der Rechtsgrundlage. Deshalb mußte seine Revision als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Unberührt von dieser Entscheidung bleibt die Gewährung der Alfu an den Kläger.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324134

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