Leitsatz (amtlich)

Zur Frage der Hilflosigkeit eines Beschädigten, der beide Unterschenkel, davon einen durch Schädigungsfolgen, verloren hat.

 

Leitsatz (redaktionell)

Verwaltungsvorschriften haben weder die Wirkung eines Rechtssatzes noch stellen sie eine authentische Interpretation des Gesetzes dar; sie sind deshalb für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift nur insoweit von Bedeutung, als die in den Verwaltungsvorschriften dargelegte Rechtsauffassung im Gesetz selbst ihren Ausdruck findet. Das gilt auch dann, wenn eine diesen Anforderungen nicht entsprechende Verwaltungsvorschrift seit Jahren angewendet worden ist.

 

Orientierungssatz

1. Da die Verwaltung ebenso wie die Rechtsprechung nach GG Art 20 Abs 3 an Gesetz und Recht gebunden ist, gilt auch für Leistungen der Kriegsopferversorgung der Vorbehalt des Gesetzes, dh sie bedürfen einer rechtsatzmäßigen Grundlage, sie dürfen nur auf Grund und im Rahmen eines Gesetzes - im materiell-rechtlichen Sinne - gewährt werden (vgl Bogs in Verhandlungen des 43. Deutschen Juristentages, Bd 2 G 24 ff, 30, 62, Leitsatz Nr 10).

2. Eine ständige, durch das Gesetz nicht gedeckte und deshalb rechtswidrige Verwaltungsübung würde auch nicht über den Gleichheitssatz (GG Art 3 Abs 1) zu einem Anspruch auf eine entsprechende Leistung führen können; es gibt keinen Gleichheitsgrundsatz auf Fehlerwiederholung.

3. Gewohnheitsrecht entsteht durch eine stetige langdauernde Übung, die durch Rechtsüberzeugung getragen wird (vergleiche BSG 1959-12-04 3 RJ 201/56 = BSGE 11, 126). Die Tatsache einer mehrjährigen Verwaltungsübung allein ist nicht ausreichend, wenn in ihr nicht auch der Rechtsgeltungswille der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt (vergleiche BSG 1956-07-12 5 RKn 31/55 = BSGE 3, 171; BSG 1959-11-26 7 RAr 75/56 = BSGE 11, 90; BSG 1963-08-29 3 RK 12/63 = BSGE 20, 18; BSG 1965-11-25 9 RV 370/63 = SozR Nr 3 zu § 291 BGB).

 

Normenkette

BVG § 35 Fassung: 1960-06-27; GG Art. 20 Abs. 3, Art. 3 Abs. 1

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerinnen wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 15. November 1963 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Die Klägerinnen sind als Ehefrau und Geschwister die Rechtsnachfolgerinnen des 1962 verstorbenen W R (R.). 1943 mußte R. infolge Erfrierung des Fußes der rechte Unterschenkel an der Grenze zwischen oberem und mittlerem Drittel abgenommen werden. Der Körperschaden wurde in Bescheiden von 1945 und 1950 anerkannt. Der Umanerkennungsbescheid vom 14. Dezember 1951 stellte als Schädigungsfolge nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) Verlust des rechten Unterschenkels mit verwachsener Narbenbildung und Bewegungsbehinderung im rechten Knie- und Hüftgelenk fest und gewährte Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 50 v. H. 1954 mußte auch der linke Unterschenkel über der Mitte abgesetzt werden. R. beantragte im Februar 1954 wegen Verlustes dieses Gliedes Neufeststellung der Rente. Der Antrag wurde abgelehnt, weil der Verlust des linken Unterschenkels auf ein schädigungsunabhängiges Leiden ( Bürger'sche Krankheit) zurückzuführen sei. Auf die Zusage des Beklagten, daß geprüft werden solle, ob der Antrag von Februar 1954 die Gewährung einer Pflegezulage rechtfertige, wurde die Klage zurückgenommen. Mit Bescheid vom 29. August 1957 lehnte das Versorgungsamt (VersorgA) auch die Pflegezulage ab, weil der Verlust des linken Unterschenkels nicht als Schädigungsfolge anerkannt sei. In dem auf Widerspruch erlassenen Bescheid vom 10. Oktober 1957 ist ausgeführt, es sei zwar nicht erforderlich, daß die Hilflosigkeit ausschließlich auf eine Schädigung zurückzuführen sei, jedoch müsse die Folge der Schädigung die letzte, die Hilflosigkeit auslösende Ursache sein. Durch Urteil vom 19. Februar 1959 wies das Sozialgericht (SG) die Klage ab. Im Berufungsverfahren bezog sich der Beklagte auf das Gutachten der Chirurgischen Universitäts-Klinik und Poliklinik B vom 18. Januar 1956, das im Verfahren 3 KV 752/54 eingeholt worden war. R. ist während des Berufungsverfahrens verstorben, das Verfahren wurde von den Klägerinnen fortgesetzt. Durch Urteil vom 15. November 1963 wies das Landessozialgericht (LSG) die Berufung zurück und ließ die Revision zu. Maßgebend dafür, ob Hilflosigkeit vorliege, sei allein, ob das DB-Leiden den Zustand der Hilflosigkeit im Sinne der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm wesentlich verursacht habe. Durch den Verlust beider Unterschenkel sei R. nicht hilflos im Sinne des § 35 BVG geworden. Da die wesentlichen medizinischen Befunde bekannt seien, andererseits die Beurteilung der Hilflosigkeit vom Gericht auf Grund der allgemeinen Lebenserfahrung vorzunehmen sei, habe es der Einholung eines ärztlichen Sachverständigen-Gutachtens nicht bedurft. Die Stumpfverhältnisse an beiden Unterschenkeln seien so gewesen, daß R. Prothesen tragen und sich mit ihrer Hilfe fortbewegen konnte. Die Hilflosigkeit sei auch nur damit begründet worden, daß R. beim An- und Ausziehen der Prothesen fremde Hilfe gebraucht habe. Es sei nicht ersichtlich, zu welchen weiteren Verrichtungen er diese Hilfe nach Anlegen der Prothesen im Ablaufe des täglichen Lebens hätte in Anspruch nehmen müssen. Er habe sich selbst an- und auskleiden, selbst waschen, ohne Hilfeleistung die Notdurft verrichten, allein die Mahlzeiten einnehmen, kleinere Spaziergänge machen und sich ohne Hilfe auch im Straßenverkehr zurechtfinden können. Die Pflegezulage habe dem Beschädigten auch nicht nach der Verwaltungsvorschrift (VV) Nr. 8 zu § 35 BVG zugestanden, nach der Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen im allgemeinen Pflegezulage nach Stufe I zuzubilligen sei. Die Gerichte seien an Verwaltungsvorschriften zur Durchführung des Gesetzes auch dann nicht gebunden, wenn durch sie das Gesetz zu Unrecht ausgeweitet werde. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes - GG -) liege nicht vor. Der Beklagte habe dargetan, er sehe sich nach der Verwaltungsvorschrift nur dann zur Gewährung von Pflegezulage an Doppel-Unterschenkelamputierte für verpflichtet an, wenn der Beschädigte beide Unterschenkel durch Kriegseinwirkung verloren habe. Außerdem lasse die Formulierung "im allgemeinen" auch Ausnahmen von der Regel zu.

Mit der Revision rügen die Klägerinnen Verletzung des § 35 BVG und des Art. 3 Abs. 1 GG. Trotz der allgemeiner gefaßten VV Nr. 8 zu § 35 verfahre die Versorgungsverwaltung ständig gemäß den Rundschreiben des Bundesministers für Arbeit (BMA) vom 3. August und 18. Oktober 1953, nach denen beim Verlust beider Unterschenkel ohne Einschränkung Anspruch auf Pflegezulage bestehe. Mit dem 10. Senat des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 3, 217) sei davon auszugehen, daß die Verwaltungsbehörden auf Grund der VV ermächtigt und verpflichtet seien, ohne Prüfung des Einzelfalles bei doppeltem Gliedverlust Hilflosigkeit anzunehmen und die Pflegezulage zu gewähren. Dadurch, daß die Versorgungsverwaltung in ständiger Übung so verfahre, trage sie nur dem verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebot Rechnung. Wenn eine über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehende Verwaltungsübung keine Verbindlichkeit begründen könne (BSG 7, 78), sei zu prüfen, ob nicht ein Gewohnheitsrecht entstanden sei. R. sei, obgleich er als Schädigungsfolge nur ein Bein verloren habe, Doppel-Unterschenkelamputierter im Sinne der VV Nr. 8 zu § 35 BVG.

Die Klägerinnen beantragen,

das angefochtene Urteil und das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 19. Februar 1959 sowie die Bescheide des Beklagten vom 29. August 1957 und 10. Oktober 1957 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerinnen Pflegezulage nach Stufe I vom 1. Februar 1954 bis zum Tode des R. zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Die Pflegezulage, die im allgemeinen auf Grund ständiger Verwaltungsübung einheitlich ab 1. August 1953 von Amts wegen gewährt worden sei, habe sich ausschließlich auf die sogenannten "echten BVG-Unterschenkelamputierten" bezogen, d. h. die Beschädigten, die beide Unterschenkel durch Kriegseinwirkungen verloren hatten. Es sei weder Gewohnheitsrecht entstanden noch der Gleichheitssatz des Art. 3 GG verletzt.

Die durch Zulassung statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und daher zulässig. Sie ist auch sachlich im Sinne der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet.

Das LSG ist zu dem Ergebnis gekommen, daß der die Pflegezulage ablehnende Bescheid vom 29. August 1957 rechtmäßig ist. Es hat die Einholung eines ärztlichen Gutachtens nicht für erforderlich gehalten, da die wesentlichen medizinischen Befunde bekannt seien. Nach seiner auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützten Überzeugung habe R. als Doppel-Unterschenkelamputierter für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens nicht in erheblichem Umfange fremder Hilfe bedurft. Er sei zwar zum Anlegen und Ablegen der Prothesen auf fremde Hilfe angewiesen gewesen, habe sich aber - wie dies erfahrungsgemäß sämtliche Unterschenkelamputierten könnten - mit den Prothesen fortbewegen und die regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen ohne fremde Hilfe ausführen können. Die Revision hat die tatsächlichen Feststellungen des LSG, die der Anwendung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG in der Fassung des Ersten Neuordnungsgesetzes (1. NOG) vom 27. Juni 1960 (BGBl I 453) zugrunde liegen, nicht angegriffen; sie sind deshalb für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG). Das bedeutet allerdings noch nicht, daß das LSG diesen Rechtsbegriff auch zutreffend angewendet hat.

Das LSG hat nicht verkannt, daß es nach der im Versorgungsrecht geltenden Kausalitätsnorm nicht darauf ankommt, ob die Schädigungsfolge zeitlich die letzte, die Hilflosigkeit "auslösende" Ursache gewesen ist (BSG 13, 40, 41). Auch nach seiner Auffassung stand der Anerkennung der Hilflosigkeit nicht entgegen, daß der schädigungsunabhängige Verlust des linken Unterschenkels nach dem als Schädigungsfolge anerkannten Verlust des rechten Unterschenkels eingetreten ist. Das LSG hat ferner mit Recht die Ansicht der Klägerinnen zurückgewiesen, der Beklagte habe durch Versagung der Pflegezulage gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen. Die Revision glaubt aus der ständigen Übung der Versorgungsbehörden und der hierzu erlassenen VV Nr. 8 zu § 35 BVG in der Fassung vom 14. August 1961 (BAnz Nr. 161 vom 23. August 1961) sowie den Rundschreiben des BMA vom 3. August 1953 und 18. Oktober 1953 (BVBl 1953 S. 121 Nr. 68 Ziff. 6 i und S. 172 Nr. 109) einen Rechtsanspruch aller Beschädigten, die beide Unterschenkel verloren haben und bei denen der Verlust mindestens eines Unterschenkels Schädigungsfolge ist, auf die Pflegezulage herleiten zu können. Ein lediglich auf die Verwaltungsvorschriften, nicht auf die gesetzlichen Voraussetzungen der Hilflosigkeit gestützter Anspruch auf Pflegezulage ist jedoch abzulehnen. In der VV Nr. 8 zu § 35 BVG von 1961 - dieselbe Fassung kehrt in den Verwaltungsvorschriften vom 23. Januar 1965 (BAnz Nr. 19 vom 29. Januar 1965) wieder - ist bestimmt, daß bei Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörungen im allgemeinen eine Pflegezulage nach Stufe I angemessen ist, ohne Rücksicht darauf, ob es sich um paarige oder nichtpaarige Gliedverluste (Oberarm, Unterarm, ganze Hand, Oberschenkel, Unterschenkel, ganzer Fuß) handelt. Diese Vorschrift stellt eine alle Fälle des Verlustes mehrerer Glieder betreffende Richtlinie dar. Sie hat nicht den Sinn, daß die Prüfung der Voraussetzungen der Hilflosigkeit durch das Vorliegen des mehrfachen Gliedverlustes in jedem einzelnen Fall ersetzt werde. Es kommt darin vielmehr zum Ausdruck, daß in solchen Fällen nur "im allgemeinen" die Pflegezulage der Stufe I als angemessen angesehen wird. Damit ist zugleich eine besondere Prüfung der Hilflosigkeit bzw. der Stufe der Pflegezulage empfohlen, sofern der Einzelfall hierzu Anlaß gibt (vgl. auch BSG 15, 13 und Wilke, BVG, 2. Aufl. § 35 VII). Auch dem Urteil des BSG in BSG 3, 217, 223 ist nicht zu entnehmen, daß der Anspruch auf Pflegezulage aus den Verwaltungsvorschriften nicht aus der Hilflosigkeit abgeleitet werden kann. Soweit solche Zweifel bestehen könnten, wären sie im übrigen durch die Ausführungen desselben Senats in BSG 7, 78 beseitigt. Aber auch dann, wenn die VV Nr. 8 zu § 35 so zu verstehen wäre, daß sie unabhängig von der gesetzlichen Voraussetzung der Hilflosigkeit und in Erweiterung des in § 35 BVG verwendeten Begriffs die Pflegezulage zubilligen wollte, könnte der Anspruch auf Pflegezulage damit nicht begründet werden. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob die VV nicht überhaupt nur die Fälle betrifft, in denen die mehrfachen Gliedverluste in vollem Umfang Schädigungsfolgen darstellen. Denn die Verwaltungsvorschriften zum BVG sind, soweit sie als Vorschriften zur Durchführung (nicht zur Ausfüllung) dieses Gesetzes ergangen sind, für die Versorgungsverwaltung bestimmte Interpretationsvorschriften, denen - mindestens grundsätzlich - nur zu entnehmen ist, wie nach Meinung der Verwaltung das Gesetz auszulegen ist (vgl. BSG 8, 133). Soweit sie über die gesetzlichen Vorschriften hinausgehen sollten, wären sie, weil ihnen keine normative Bedeutung zukommt, für die Gerichte nicht verbindlich (BSG 6, 252; 8, 140; 10, 112; 11, 191; Bogs in Verhandl. des 43. Dt. Juristentages Bd. II G 29 und G 62, 63 Leitsatz Nr. 11). Die Verwaltungsvorschriften können zwar auch für die Auslegung des Gesetzes insofern von Bedeutung sein, als sie unter Umständen Rückschlüsse darauf zulassen, welche Tragweite das Gesetz haben sollte. Die in ihnen vertretene Auffassung muß aber im Gesetz erkennbaren Ausdruck gefunden haben und sich im Rahmen des noch "möglichen" Wortlauts, äußerstenfalls des Wortsinnes und des Sinnzusammenhangs des Gesetzes halten (BSG 8, 140). Das gleiche gilt in verstärktem Maße für bloße Rundschreiben des Ministeriums. Wenn in den u. a. an die obersten Arbeitsbehörden der Länder gerichteten Rundschreiben des BMA vom 3. August und 18. Oktober 1953, die nur die Doppel-Unterschenkelamputierten betreffen, hervorgehoben ist, daß "doppelunterschenkelamputierte Beschädigte .... nunmehr ohne Einschränkung Anspruch auf Pflegezulage" haben (aaO S. 122) und daß "der BMA es im Interesse einer gleichmäßigen Durchführung der Versorgung für angezeigt halte, die Pflegezulage (§ 35 BVG) diesen Beschädigten vom 1. August 1953 an von Amts wegen zu gewähren (aaO S. 172), so läßt sich daraus ebenfalls ein Rechtsanspruch auf Pflegezulage bei Verlust beider Unterschenkel nicht herleiten. Eine ständige, durch das Gesetz nicht gedeckte und deshalb rechtswidrige Verwaltungsübung würde auch nicht über den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zu einem Anspruch auf eine entsprechende Leistung führen können. Es gibt keinen Gleichheitsgrundsatz auf Fehlerwiederholung (BSG 7, 78; Ipsen in Neumann-Nipperdey-Scheuner, Die Grundrechte, Zweiter Band, S. 148; Menger, VerwArch 1960 S. 72 und Note 36; BVerwG Urt. vom 26. Mai 1955, NJW 1955 S. 1452, 1453; VGH Kassel, Urt. vom 29. November 1962 in DVBl 1963 S. 443, 445 mit weiteren Nachweisen; vgl. auch Bogs, aaO G 29 - mit Einschränkungen im Bereich der Interpretation unbestimmter Rechtsbegriffe -).

Verwaltungsvorschriften kann allerdings auch die Bedeutung zukommen, daß durch sie ein Spielraum zulässigerweise ausgefüllt wird, nämlich da, wo das Gesetz einen solchen gelassen hat (vgl. BSG 7, 78). Die gesetzliche Ermächtigung zu Ermessensleistungen läßt einen der Ausfüllung zugänglichen und bedürftigen Raum entstehen, der der gerichtlichen Nachprüfung entzogen ist; die Gerichte haben nur die Einhaltung der rechtlichen Grenzen des Ermessens nachzuprüfen (vgl. Bogs aaO G 30). Da die Verwaltung ebenso wie die Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG an Gesetz und Recht gebunden ist, gilt auch für Leistungen der Kriegsopferversorgung der Vorbehalt des Gesetzes, d. h. sie bedürfen einer rechtsatzmäßigen Grundlage, sie dürfen nur auf Grund und im Rahmen eines Gesetzes - im materiell-rechtlichen Sinne - gewährt werden (Bogs aaO G 24 ff, 30, 62, Leitsatz Nr. 10). Im Bereich der Leistungsverwaltung kann sich aber auch außerhalb der Ermessensleistungen durch Verwendung eines unbestimmten (allgemeinen) Rechtsbegriffs die Notwendigkeit ergeben, der Verwaltung einen Ermessensspielraum einzuräumen, den ihr das Gesetz beläßt, damit sie bestimmten Anforderungen des Verwaltungshandelns gerecht werden kann. Es darf aber ein Beurteilungsspielraum nicht in einen Rechtsbegriff hineininterpretiert werden, sofern nicht eindeutige Anhaltspunkte vorliegen, aus denen ein solcher Wille des Gesetzgebers entnommen werden kann, der bei unbestimmten Rechtsbegriffen die volle richterliche Nachprüfung bejaht (vgl. Jesch AöR 1957, S. 249, 242; vgl. auch BVerfG 6, 42, 43; a. A. Bogs aaO G 29). Die Vermutung spricht gegen einen Spielraum, sein Bestehen bedarf einer besonderen und eingehenden Begründung (Bachof, JZ 1955, 100, derselbe - etwas vorsichtiger in JZ 1966 S. 442 f unter Nr. 273 und S. 441 Nr. 269). Auch das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat im wesentlichen nur in einigen Bereichen einen der gerichtlichen Kontrolle beschränkt unterworfenen behördlichen Beurteilungsspielraum anerkannt: so bei Prüfungsentscheidungen und bei Beurteilungen der Dienstvorgesetzten zur Bewährung ihrer Beamten (vgl. Kellner NJW 1966 S. 859 und die in Note 35 angegebene Rechtsprechung). In anderen Bereichen wurde die volle gerichtliche Überprüfbarkeit für eine ganze Reihe unbestimmter Rechtsbegriffe bejaht und damit klargestellt, daß das BVerwG auch in Grenzfällen einen Beurteilungsspielraum nicht schlechthin als Wesenseigentümlichkeit von (Typen-) Begriffen ansieht (Kellner aaO S. 859, insbesondere Note 37, vgl. auch Bachof JZ 1966, S. 442 Nr. 271). Außerhalb der genannten besonderen Bereiche mag dem Gesetz die Einräumung einer Beurteilungsermächtigung, d. h. des Rechts, verbindliche Qualifizierungen vorzunehmen, entnommen werden können, wenn ein Planungsermessen für das Verwaltungshandeln der Behörde unentbehrlich ist (vgl. Kellner aaO S. 863 und Jesch AöR 1957, S. 241). Ein solcher Fall ist auf dem Gebiet der Kriegsopferversorgung bei Pflichtleistungen aber kaum denkbar. Mit einer Einordnung des Begriffs der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG - in der vor dem Inkrafttreten des 1. NOG geltenden Fassung - in die unbestimmten Rechtsbegriffe ist somit noch nichts für die Frage gewonnen, ob der Versorgungsverwaltung auch ein der gerichtlichen Kontrolle nicht zugänglicher Beurteilungsspielraum eingeräumt worden ist. Eine solche Annahme ist nach Auffassung des Senats schon deshalb abzulehnen, weil der in das BVG übernommene Begriff der Hilflosigkeit bereits in § 31 des Reichsversorgungsgesetzes enthalten war und eine bestimmte Auslegung durch die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts gefunden hatte (vgl. hierzu auch BSG 20,237), die das BSG übernommen hat (BSG 8, 98 f). Dieser Begriff ist im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversorgungsgerichts und des BSG in § 35 BVG idF des 1. NOG ohne Änderung seines Inhalts so konkretisiert worden, daß der Verwaltung kein Beurteilungsspielraum mehr verbleibt, vielmehr das Vorliegen seiner Voraussetzungen in vollem Umfange der Überprüfung durch die Gerichte zugänglich ist. In den Ausführungsbestimmungen Nr. 5 Satz 3 zu § 31 des Reichsversorgungsgesetzes war im übrigen hervorgehoben, daß der einfache Verlust beider Unterschenkel im allgemeinen nicht die Gewährung einer Pflegezulage rechtfertige, es sei denn, daß der Zustand der Hüft- und Kniegelenke eine schwere Bewegungsbeschränkung bedinge (Handbuch der Reichsversorgung Bd. I zu § 31 RVG). Wenn sich seitdem auch die Anschauungen darüber gewandelt haben, welche Hilfe den Kriegsbeschädigten zu gewähren ist und was ihnen unter den heutigen Lebensverhältnissen zugemutet werden kann, so könnten doch Bedenken bestehen, ob sie sich noch im Rahmen des Gesetzes halten, soweit sie bei Verlust beider Unterschenkel in jedem Fall die Hilflosigkeit als gegeben ansehen (vgl. auch BSG 15, 13). Unter dieser Voraussetzung läßt sich der Anspruch auf Pflegezulage daher unter Berufung auf den Gleichheitssatz weder auf diese Rundschreiben noch auf die Verwaltungsvorschriften stützen.

Der Anspruch ist auch nicht, wie die Revision meint, mit der Entstehung eines Gewohnheitsrechts zu begründen. Dieses entsteht durch eine stetige langdauernde Übung, die durch Rechtsüberzeugung getragen wird (BSG 11, 128). Die Tatsache einer mehrjährigen Verwaltungsübung allein ist nicht ausreichend, wenn in ihr nicht auch der Rechtsgeltungswille der Gemeinschaft zum Ausdruck kommt (BSG 3, 171; vgl. auch BSG 11, 90; 20, 18 sowie BSG in SozR Nr. 3 zu § 291 BGB, Aa 3). Auf eine ständige Verwaltungsübung als Ausdruck allgemeiner Rechtsüberzeugung könnte die Gewährung der Pflegezulage im vorliegenden Falle schon deshalb nicht gestützt werden, weil noch die VV Nr. 8 i. V. m. Nr. 1 (2) zu § 35 BVG idF vom 3. September 1958 (BAnz Nr. 176) diese Leistung von der Voraussetzung abhängig machte, daß die Folge der Schädigung die letzte, die Hilflosigkeit auslösende Ursache war. Erst in den Verwaltungsvorschriften vom 14. August 1961 (BAnz Nr. 161 v. 23. August 1961) ist diese Einschränkung - offenbar unter dem Einfluß des Urteils des BSG vom 25. August 1960 (BSG 13, 40) - weggefallen. R. hat gerade umgekehrt erst das rechte Bein als Schädigungsfolge und dann - schädigungsunabhängig - das linke Bein verloren. Deshalb konnte er den Anspruch auf die Pflegezulage auch nicht unter Hinweis auf die zur Zeit des Erlasses des angefochtenen Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 1957 geltende VV Nr. 8 zu § 35 BVG begründen. Daß die in dieser Vorschrift vertretene Rechtsauffassung unzutreffend war, ist ohne Bedeutung; denn für die Frage, in welchem Umfang sich auf Grund einer bestimmten Verwaltungsübung eine allgemeine Rechtsüberzeugung gebildet habe, kommt es auf die Tragweite dieser Verwaltungsübung und der sie begründenden Verwaltungsvorschrift an. Dasselbe gilt auch für die Rundschreiben vom 3. August 1953 und 18. Oktober 1953; denn schon im Jahre 1953 enthielt die VV Nr. 1 Abs. 2 zu § 35 BVG die genannte Einschränkung (VV vom 31. August 1953 - BAnz Nr. 170).

Für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreits bedarf es jedoch nicht der Prüfung, ob und inwieweit der VV zu § 35 BVG und den Rundschreiben des BMA vom 3. August 1953 und 18. Oktober 1953 eine mit § 35 BVG nicht voll vereinbare Rechtsauffassung zugrunde liegt.

Das angefochtene Urteil war schon deshalb aufzuheben, weil es von einer unzutreffenden Auslegung des Rechtsbegriffs der Hilflosigkeit ausgeht oder mindestens die Möglichkeit nahelegt, daß dieser Rechtsbegriff verkannt worden ist.

Das LSG hat ausgeführt, daß nach Anlegen der Prothesen erfahrungsgemäß sämtliche Unterschenkelamputierte die dort näher bezeichneten täglichen Verrichtungen ohne fremde Hilfe ausführen könnten. Es hat aus der Begründung der Hilflosigkeit durch die Klägerinnen, R. habe beim An- und Ablegen der Prothesen fremde Hilfe gebraucht, ohne Einholung eines ärztlichen Gutachtens die Folgerung gezogen, es sei nicht ersichtlich, zu welchen weiteren Verrichtungen R. fremder Hilfe bedurft habe. Diese tatsächlichen Feststellungen reichten zur Verneinung der Hilflosigkeit nicht aus. Sie sind von der in diesem Umfang sicher nicht zutreffenden rechtlichen Auffassung beeinflußt, daß Beschädigten, die beide Unterschenkel verloren haben, grundsätzlich keine Pflegezulage zugebilligt werden könnte, weil sie nicht hilflos seien. Eine solche summarische Feststellung bedeutet eine dem Gesetz nicht entsprechende Einengung der in § 35 BVG vorausgesetzten Hilflosigkeit. Ob eine solche besteht, kann nur auf Grund sorgfältiger Prüfung des gesamten individuellen Leidenszustandes unter Abwägung aller Umstände festgestellt werden. Dabei kommt der medizinischen Beurteilung keineswegs eine untergeordnete Bedeutung zu, denn sie ergibt erst den Befund, aus dem sich Art und Umfang der Behinderung näher abgrenzen lassen. Der Zustand der Hilflosigkeit ist zwar keine rein medizinische Frage, sondern eine Tatfrage, die in jedem einzelnen Fall unabhängig von der medizinischen Auffassung geprüft werden muß (BSG 8, 99), bei der aber die auf Grund der medizinischen Beurteilung sich ergebenden Funktionsbehinderungen nicht außer acht gelassen werden dürfen. Das LSG hat die Akten des SG Koblenz - 3 KV 752/54 -, in denen das Gutachten der Chirurgischen Universitäts-Klinik und Poliklinik Bonn vom 18. Januar 1956 enthalten war, nicht beigezogen. Dieses Gutachten, das die Frage der Hilflosigkeit nicht behandelt, aber die am rechten und linken Stumpf bestehenden Verhältnisse genauer angibt, war auszugsweise in dem Schriftsatz des Beklagten vom 16. März 1962 mitgeteilt worden. Das LSG ist in den Gründen des Urteils auf diese Ausführungen nicht eingegangen. Es hat auch den in den Verwaltungsakten enthaltenen Befund vom 29. Februar 1952 nicht berücksichtigt, in dem festgestellt wurde, daß die Narbenverhältnisse am rechten Stumpf ungünstig und die Verwachsungsbeschwerden am Stumpfende einen schlechten Gang mit dem Körperersatzstück bedingen. Auf Grund der schlechten Narbenverhältnisse und der unzureichenden Überpolsterung des Unterschenkelstumpfes sowie einer Bewegungsbehinderung im rechten Knie- und Hüftgelenk sei eine MdE von 50 v. H. gerechtfertigt. Diese MdE lag schon dem Bescheid vom 14. Dezember 1951 zugrunde und wurde später nicht herabgesetzt. Das Gutachten vom 18. Januar 1956 führt im einzelnen aus, daß am linken Bein der Knochen des Schienbeins etwas vorsteht bei stark atrophierter Muskulatur am Stumpf; auch die Muskulatur des linken Oberschenkels zeige eine deutliche Verminderung gegenüber normal. Am rechten Bein stellt dieser Gutachter eine Narbe über der Spitze des Unterschenkelstumpfes fest, die teilweise verwachsen ist. Die Narbe sei an der Spitze auch augenblicklich etwas gereizt und zeige ein geringes Ekzem. Die Muskulatur am rechten Bein weise auch eine deutliche Minderung sowohl am Stumpf als auch am Oberschenkel auf. Am rechten Kniegelenk bestehe eine geringe Behinderung der völligen Streckung von 15 Grad. Auch die volle Beugefähigkeit sei nicht erhalten. Das LSG hätte eine Entscheidung über die Frage der Hilflosigkeit nicht ohne eine den medizinischen Befunden entsprechende Würdigung des Gesamt-Leidenszustandes treffen dürfen, insbesondere auch nicht ohne Erörterung der als Schädigungsfolge anerkannten verwachsenen Narbenbildung und Bewegungsbehinderung im rechten Knie- und Hüftgelenk, zumal die Beschwerden erheblich über die in den Rundschreiben des BMA vom 3. August 1953 und 18. Oktober 1953 vorausgesetzten hinausgingen. Da das LSG keine ausreichenden Feststellungen getroffen hat, um die Hilflosigkeit des R. ausschließen zu können und das BSG die erforderlichen Feststellungen nicht selbst treffen kann, war die Sache unter Aufhebung des angefochtenen Urteils an das LSG zurückzuverweisen.

Vor erneuter Entscheidung wird das LSG noch Zeugen hören und anschließend ein fachärztliches Gutachten (eines Chirurgen oder möglichst eines Orthopäden) über die bis zum Tode des R. im Jahre 1962 bestandenen Beschwerden und ihre funktionellen Auswirkungen für die Frage der Hilflosigkeit einholen müssen. Es wird zu prüfen haben, ob R., wenngleich er sich regelmäßig auf der Straße ohne fremde Hilfe fortbewegen konnte, bei Glätte und Nässe einer Begleitung bedurfte, ob etwa das Treppensteigen ohne fremde Hilfe mit besonderen Anstrengungen verbunden war, ob er auch zur Vermeidung von Wundscheuern oder Entzündung der Stümpfe in regelmäßiger Wiederkehr - etwa täglich für Stunden - die Prothesen ablegen mußte und dann auf die Pflege durch seine Angehörigen angewiesen war (vgl. RVG 6, Nr. 10 S. 47). Es wird weiter zu beachten haben, daß Beschädigte, die beide Unterschenkel verloren haben, im Vergleich zu anderen Körperbeschädigten in ungewöhnlichem Maße einer dauernden körperlichen und psychischen Belastung ausgesetzt sind, daß ihnen, weil sie darauf angewiesen sind, sich der Prothesen so gut es geht zu bedienen, auch in der Regel ganz besondere ständige Bemühungen abverlangt werden, um den Verlust ihrer Glieder durch besondere Energie bei der Ausführung der täglichen Verrichtungen ausgleichen zu können. Es ist nicht der Sinn des § 35 BVG, die Beschädigten auf sich selbst zu verweisen, weil es ihnen schließlich durch besondere Geschicklichkeit und Selbstüberwindung gelungen sein mag, sich der Prothesen so zu bedienen, daß nicht jede Gehbewegung durch eine Hilfsperson unterstützt werden muß. Soweit die Stumpfverhältnisse schlecht sind oder andere über den Verlust der Unterschenkel hinausgehende Beschwerden entstehen, gilt dies im besonderen Maße. Es handelt sich bei dieser Auslegung der Hilflosigkeit um eine Folgerung, die der Senat in dem Urteil vom 25. November 1965 (BSG in SozR Nr. 17 zu § 35 BVG) im Anschluß an die Rechtsprechung des BSG zu § 30 BVG (BSG 13, 20) im wesentlichen bereits ausgesprochen hat, daß nämlich die Pflegezulage auch dann gewährt werden kann, wenn dem Beschädigten die Verrichtungen des täglichen Lebens zwar möglich sind, er aber hierbei eine außergewöhnliche Energie aufwenden und unzumutbare Anstrengungen machen muß, um diese unter großen Schmerzen auszuführen. Diese Grundsätze lassen sich auch auf den Fall übertragen, daß der Beschädigte ohne, fremde Hilfe in Anspruch zu nehmen, sich der Prothesen nur mit großer dauernder Willensanstrengung und unter Gefährdung seiner Gesundheit bedienen kann, z. B. das Risiko auf sich nehmen muß, wegen der nicht in Anspruch genommenen Hilfe zu stürzen. Soweit die VV Nr. 8 zu § 35 BVG und die Rundschreiben des BMA vom 3. August 1953 und 18. Oktober 1953 auch solche Umstände berücksichtigt wissen wollen, stehen sie jedenfalls nicht im Widerspruch zu § 35 BVG. Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2347523

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