Leitsatz (amtlich)

Eine Unterbrechung der versicherungspflichtigen Beschäftigung im Sinne des AVAVG § 99 Abs 1 S 3 aF durch Streik ist zu verneinen, wenn besondere Umstände erweisen, daß die betrieblichen Verbindungen zwischen den Sozialpartnern vom Streik unbeschadet bestehen geblieben sind; etwa wenn im Einzelfall die Weisungsbefugnis des Arbeitgebers zwar gemindert, nicht aber beseitigt und die Arbeitsabsage des Arbeitnehmers nicht nur zeitlich begrenzt, sondern auch sachlich eingeschränkt war.

 

Normenkette

AVAVG § 99 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1953-08-24

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. März 1956 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Der Kläger war seit 1940 bis zum 27. Dezember 1952 als Facharbeiter bei der K-Fabrik F (Bayerischer Wald) beschäftigt. Danach war er längere Zeit arbeitsunfähig erkrankt. Auf spätere Arbeitslosmeldung hin gewährte ihm das Arbeitsamt Arbeitslosenunterstützung (Alu) für 156 Tage. Seinen Antrag, ihm wegen der langfristigen Beschäftigungszeiten eine längere Unterstützungsdauer zu bewilligen, lehnte es mit Bescheid vom 1. Februar 1954 ab, weil er "das Beschäftigungsverhältnis, das die Anwartschaft ausgelöst hat, in der Zeit vom 18. September 1952 bis 20. September 1952 durch Streik unterbrochen" habe.

Der Kläger hatte - wie die Mehrheit der Belegschaft - am Mittwoch, dem 17. September 1952, um 13 Uhr die Arbeit im Betrieb eingestellt. Anlaß zu diesem Verhalten war, daß der Betriebsratsvorsitzende fristlos entlassen worden war, weil er zum Lohnstreik auffordernde Flugblätter verteilt hatte, obwohl die Tarifpartner in Lohnverhandlungen standen und übereingekommen waren, während dieser Zeit von Kampfmaßnahmen abzusehen. Noch an demselben Tage hatte der Arbeitgeber die Arbeitnehmer durch Aushänge an den Fabriktoren aufgefordert, die Arbeit am 19. September zur gewohnten Stunde wiederaufzunehmen; anderenfalls gelte das Arbeitsverhältnis mit sofortiger Wirkung als aufgelöst.

Auch in anderen Glasfabriken des Bezirks wurde gleichzeitig gestreikt. Nach vorausgegangenen Besprechungen und Verhandlungen, deren Beteiligte nicht näher bezeichnet sind, beschloß am Freitag, dem 19. September, eine Versammlung der Streikenden, über die Fortsetzung des Streiks am Samstag, dem 20. September, abzustimmen. An diesem Tage entschied sich die Belegschaft des Betriebs für die Beendigung des Ausstandes. Am Montag, dem 22. September, wurde die Arbeit mit Billigung des Arbeitgebers wiederaufgenommen. Bei der Krankenkasse war der Kläger, wie offenbar die anderen Arbeitnehmer auch, nicht abgemeldet worden. Die Gewerkschaft hatte den Streik für legal erklärt und den Streikenden für zwei Tage eine sogenannte "Notlageunterstützung" gewährt.

II. Der Widerspruch des Klägers gegen den Bescheid der Beklagten vom 1. Februar 1954 wurde durch Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1954 zurückgewiesen. Seine Klage hiergegen wurde durch Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Februar 1955 abgewiesen. Das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis sei durch seine Teilnahme an dem gegen den Arbeitgeber gerichteten Proteststreik unterbrochen gewesen. Unmaßgeblich bleibe, ob die Unterbrechung längere Zeit oder wie vorliegend nur einige Tage gedauert habe. Die Bereitschaft der Arbeitnehmer zur tatsächlichen Arbeitsleistung und die Verfügungsmacht des Arbeitgebers seien jedenfalls mit Streikbeginn erloschen.

Auf die Berufung des Klägers hin hob das Bayerische Landessozialgericht durch Urteil vom 23. März 1956 das Urteil des Sozialgerichts Landshut auf und änderte den Bescheid vom 1. Februar 1954 und den Widerspruchsbescheid vom 4. Mai 1954 dahin ab, daß dem Kläger die Alu auf die Dauer von 52 Wochen zu gewähren sei. In Anlehnung an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.), das bei der Frage, ob ein versicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis durch Fernbleiben von der Arbeit unterbrochen wird, immer auf die Umstände des einzelnen Falles abgestellt und dabei stets angestrebt habe, diesen Zeitpunkt nicht zu eng zu begrenzen, um dem Versicherten den Versicherungsschutz für die Zeit einer solchen Unterbrechung möglichst lange zu erhalten, sei der Senat hier zu der Auffassung gelangt, daß das Arbeitsverhältnis des Klägers durch dessen Teilnahme am Streik nicht in einem Grade gelitten habe, der zur Unterbrechung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses führte. Es habe sich nämlich um einen spontan ausgelösten Sympathie- und Proteststreik gehandelt, der sich nur mittelbar gegen den Arbeitgeber richtete, da er mit der Forderung besserer Arbeitsbedingungen nicht verbunden gewesen sei und die anderweit schwebenden Lohnverhandlungen nicht beeinträchtigte. Die Angelegenheit sei sogleich zum Gegenstand von Verhandlungen mit dem Erfolg gemacht worden, daß sie binnen drei Tagen bereinigt wurde. Aus der Ankündigung des Arbeitgebers, daß das Arbeitsverhältnis der streikenden Arbeitnehmer bei Nichtwiederaufnahme der Arbeit am Freitag, dem 19. September 1952, als mit sofortiger Wirkung gelöst gelte, könne der Arbeitsvertrag mit dem Kläger nicht bereits als aufgehoben angesehen werden, weil noch zuvor Verhandlungen wegen der Wiederaufnahme der Arbeit eingeleitet worden wären. Eine ernsthafte Störung der tatsächlichen Beziehungen zwischen Kläger und Arbeitgeber sei umso weniger anzunehmen, als ersterer ein alter Stammarbeiter des Unternehmens und zuletzt im Betrieb von 1940 bis 1952 tätig gewesen sei. Insbesondere aber müsse zugunsten des Klägers berücksichtigt werden, daß die Teilnahme an jenem kurzen Streik sein Verhältnis zum Versicherungsträger nicht berührt habe, weil die Beiträge zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung ohne Unterbrechung abgeführt wurden und er seitens des Arbeitgebers nicht abgemeldet worden sei.

Revision wurde zugelassen.

III. Die Beklagte legte gegen das am 15. Juni 1956 zugestellte Urteil am 29. Juni 1956 Revision ein und beantragte, das angefochtene Urteil aufzuheben sowie die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Landshut vom 24. Februar 1955 zurückzuweisen. Sie begründete die Revision am 3. August 1956 und machte geltend, das Berufungsgericht habe die Voraussetzungen für die Gewährung einer verlängerten Bezugsdauer der Alu nach § 99 Abs. 1 Satz 3 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung - AVAVG - (a.F.), insbesondere den Begriff der ununterbrochenen Beschäftigung, verkannt. Grundsätzlich sei bereits durch das Urteil des Bundessozialgerichts (BSG.) vom 30. August 1955 entschieden, daß das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis durch einen Streik unterbrochen werde, wenn dessen Dauer zu Beginn nicht absehbar sei. Offen geblieben sei nur die Frage, ob ein von vornherein zeitlich übersehbarer Streik, z.B. ein kurzfristiger Sympathiestreik, ebenfalls zu einer Unterbrechung führe. Im vorliegenden Fall handelte es sich indessen nicht um einen Sympathie- oder Demonstrationsstreik, sondern um einen echten wirtschaftlichen Streik, mit dem eine betriebliche Maßnahme, nämlich die Wiedereinstellung des entlassenen Betriebsrats durch den Betriebsinhaber, erzwungen werden sollte; die Kampfmaßnahme habe sich also unmittelbar gegen den Arbeitgeber gerichtet. Unerheblich bleibe, daß sich dieser Streik dann nur über drei Tage erstreckte; denn es komme nicht auf die objektive Dauer des Streiks, sondern auf den Willen der Streikenden an, die Arbeit bis zur Erreichung des Streikzieles nicht wiederaufzunehmen, sich mithin auf nicht voraussehbare Zeit der Verfügungsmacht des Arbeitgebers zu entziehen. Außer der Unterbrechung durch die Streikbeteiligung des Klägers vom 17. bis zum 20. September 1952 sei dessen Beschäftigungsverhältnis aber auch durch die im Wege des Aushangs bekanntgemachte fristlose Kündigung beendet worden, nachdem er seine Arbeit zum 19. September 1952 nicht wiederaufgenommen habe. Rechtlich ohne Bedeutung bleibe, daß der Kläger seitens des Arbeitgebers förmlich nicht von der Betriebskrankenkasse abgemeldet gewesen sei.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen. Seiner Meinung nach handelte es sich nicht um einen wirtschaftlichen, sondern um einen echten Demonstrationsstreik. Unabhängig davon könne aber allein dessen Dauer für die Beurteilung maßgebend sein, ob hier die versicherungspflichtige Beschäftigung unterbrochen worden sei. Mit dem Berufungsgericht müsse eine Unterbrechung durch die drei Streiktage verneint werden, weil die Vertreter der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in der Zwischenzeit miteinander verhandelt hätten und in Verbindung geblieben seien. Hierdurch wäre auch die Ankündigung der Betriebsleitung über die fristlose Entlassung nichtarbeitsbereiter Arbeitnehmer hinfällig geworden. Ferner seien vom Arbeitgeber die Beiträge zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung ohne Unterbrechung abgeführt und von der Betriebskrankenkasse entgegengenommen worden. Letztere habe dadurch für die Beklagte anerkannt, daß das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis des Klägers ununterbrochen fortbestand. Im übrigen habe sich aber auch bereits ein Gewohnheitsrecht, zumindestens eine Verkehrsanschauung, nach dem Erlaß des Präsidenten der Beklagten vom 26. Mai 1954 dahingehend entwickelt, daß bei kurzfristigem Streik bis zu sieben Tagen die Verfügungsmacht des Arbeitgebers fortdauere. Diese Auffassung allein entspreche zudem dem Schutzgedanken des Sozialversicherungsrechtes.

Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten wird auf deren Schriftsätze Bezug genommen.

IV. Die Revision, die vom Landessozialgericht (LSG.) nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen wurde, ist statthaft. Sie ist form- und fristgerecht eingelegt sowie begründet worden (§ 164 SGG) und deshalb zulässig.

Bei einer zulässigen Revision ist vor der sachlich-rechtlichen Würdigung des Streites von Amts wegen zu prüfen, ob die allgemeinen Prozeßvoraussetzungen, soweit sie unverzichtbar sind, die besonderen Voraussetzungen des vorausgegangenen Berufungsverfahrens sowie die Voraussetzungen für eine entscheidende Tätigkeit des Revisionsgerichts erfüllt sind (BSG. 2 S. 222 ff.; 3 S. 124 ff.; 4 S.70ff.und 281 ff.). Zu den Prozeßvoraussetzungen des Berufungsverfahrens gehört die Zulässigkeit der Berufung. Diese haben die Vorderrichter zu Recht bejaht (§ 143 SGG); denn der streitige Anspruch auf Alu nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG in der Fassung des Ges. vom 24. August 1953 (BGBl. I S. 1022) betrifft einen einheitlichen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als dreizehn Wochen (vgl. BSG. 1 S. 129). Demzufolge ist das Rechtsmittel nicht nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen.

V. Die Revision ist auch begründet.

Dem Kläger war versicherungsmäßige Alu auf die Dauer von 156 Tagen (= 26 Wochen) bewilligt worden; das entsprach der höchsten Normalbezugsdauer gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 AVAVG (a.F.). Für den darüber hinaus erhobenen Anspruch auf Zahlung für die erweiterte Unterstützungsdauer nach § 99 Abs. 1 Satz 3 a.a.O. ist zwischen den Beteiligten streitig, ob die besondere gesetzliche Voraussetzung "ununterbrochener versicherungspflichtiger Beschäftigung" vorliegend erfüllt ist. Bejahendenfalls könnte eine Gesamtbeschäftigung von mehr als 260 Wochen zugrundegelegt werden, und der Kläger hätte dann - wenn auch die sonstigen Voraussetzungen zutreffen - einen Rechtsanspruch auf Alu für 52 Wochen.

Der erkennende Senat hat sich bereits in mehreren Entscheidungen mit der Anwendung und Auslegung des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) bei Streik befaßt. Er hat unter eingehender Heranziehung von Schrifttum und Rechtsprechung zunächst in seinen Urteilen vom 30. August 1955 (BSG. 1 S. 115 ff.) und vom 27. Januar 1956 (BSG. 2 S. 171 ff.) festgestellt, daß das sozialversicherungsrechtliche Beschäftigungsverhältnis sich nicht mit dem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis deckt und daß die versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne von Satz 3 a.a.O. durch Teilnahme an einem Streik jedenfalls dann unterbrochen wird, wenn dessen Dauer nicht absehbar ist. Ausgangspunkt für diese Rechtsprechung war die von der Rechtslehre geteilte und auch schon lange zuvor in der Judikatur des RVA. ständig vertretene Erkenntnis, daß Begriff und Inhalt der "versicherungspflichtigen Beschäftigung" auf zwei Grundelemente tatsächlicher Art abstellen, nämlich, daß von Seiten des Arbeitnehmers die Arbeitsbereitschaft, beim Arbeitgeber die entsprechende Weisungsbefugnis (Verfügungsmacht) jeweils vorhanden ist. An diesen Grundsätzen seiner Rechtsprechung hat der erkennende Senat jetzt eben wieder in den ausführlichen Entscheidungsgründen zu dem gleichfalls am 26. November 1959 verkündeten Urteil in der Revisionssache M. (7 RAr 38/56) festgehalten, auf die insoweit Bezug genommen wird. Er hat dort - unter Ablehnung sowohl der von D. in seinem Gutachten vom 15. Februar 1956 entwickelten theoretischen Konstruktion eines "ruhenden Beschäftigungsverhältnisses" wie auch von dessen aus dem Beschluß des Großen Senats des Bundesarbeitsgerichts vom 28. Januar 1955 gezogenen Folgerungen - ausdrücklich festgestellt, daß durch Teilnahme an einem kurzfristigen Streik ebenfalls in der Regel die versicherungspflichtige Beschäftigung im Sinne des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (in der bis zum 31. März 1957 geltenden Fassung) unterbrochen, nicht nur suspendiert wird.

VI. Eine Unterbrechung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses ist nur dann zu verneinen, wenn Umstände besonderer Art erweisen, daß dessen kennzeichnende Merkmale, Arbeitsbereitschaft und Weisungsbefugnis, die beide unabdingbar sind, wirklich im Einzelfall fortbestanden haben. Da die "versicherungspflichtige Beschäftigung" ein auf Tatsachen gegründetes Rechtsverhältnis darstellt, kommen hierbei auch nur feststellbare und festgestellte Fakten in Betracht. Das LSG. hat diesbezüglich seine Entscheidung jedoch lediglich auf Vermutungen und Wahrscheinlichkeitserwägungen sowie auf daraus abgeleitete Unterstellungen gestützt.

Das vom Vorderrichter zunächst herangezogene Motiv des Streiks ist nicht geeignet, als Beweis gegen eine Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses zu dienen. Gemeinsames Charakteristikum der verschiedenen Streikformen ist regelmäßig, daß die Arbeitnehmer dem Arbeitsauftrag des Arbeitgebers nicht nachkommen, ihre Arbeitsleistung versagen oder zurückhalten. Zweck und Ziel dieser Kampfmaßnahme treten im allgemeinen dahinter zurück; im vorliegenden Falle richtete sie sich allerdings unmittelbar gegen den Arbeitgeber, um ihn durch die Arbeitsniederlegung zur Wiedereinstellung des entlassenen Betriebsratsvorsitzenden zu veranlassen. Nach den Erfahrungen des Arbeitslebens war daher - solange es an gegenteiligen Feststellungen mangelt - davon auszugehen, daß sich bis zur Erreichung dieses Zieles die Arbeitnehmer bewußt und gewollt der Weisungsbefugnis des Arbeitgebers entzogen.

Auch die kurzfristige Dauer des Streiks läßt für sich allein keine andere Beurteilung der Sachlage zu. Die Behauptung des Klägers, es habe sich nach Herausgabe des Erlasses des Präsidenten der Beklagten vom 26. Mai 1954 (Nr. 185/54) bereits ein Gewohnheitsrecht des Inhalts entwickelt, daß bei Streik bis zu sieben Tagen die Verfügungsmacht des Arbeitgebers als fortbestehend angesehen werden müsse, ist unzutreffend. Für die Entstehung eines solchen Gewohnheitsrechtes fehlt hier schon das Erfordernis der "langdauernden Übung". Eine entsprechende "allgemeine Rechtsüberzeugung" konnte zudem aus jenem Erlaß um deswillen nicht erwachsen, weil es sich lediglich um eine innerdienstliche Verlautbarung der Beklagten für ihren Verwaltungsbereich handelte, die überdies ausdrücklich unter dem Vorbehalt späterer Entscheidung im Rechtswege ergangen war. Ihr konnte also nicht einmal eine allgemeine "Verkehrsanschauung" entnommen werden. Was den vom LSG. in diesem Zusammenhang zitierten Gedanken des "Versicherungsschutzes" anbelangt, so hat das RVA. - was vom Vorderrichter übersehen wurde - in seiner Rechtsprechung bezeichnenderweise stets vorausgesetzt oder gefordert, daß auch bei zeitweiser Nichtleistung von Arbeit jedenfalls die Verfügungsmacht des Arbeitgebers über die Arbeitskraft des Arbeitnehmers und die Arbeitsbereitschaft des Arbeitnehmers grundsätzlich fortbestehen müßten, wenn sie auch - je nach Lage des Falles - eingeschränkt oder gehemmt seien. Ihr Fortbestand ist aber beim Streik verneint worden (vgl. RVA. Grunds. Entsch. Nr. 2799 u. Nr. 3102).

Wenn das Berufungsgericht seine Entscheidung darauf stützen wollte, daß im vorliegenden Fall besondere Umstände die Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses ausschließen, dann hätte es feststellen müssen, inwieweit hier die betrieblichen Verbindungen (inneren Beziehungen) zwischen den Sozialpartnern des Unternehmens vom Streik unbeschadet bestehen geblieben sind. Hierfür hätten Art und Umfang der behaupteten Fühlungnahme sowie Gegenstand und Inhalt der Verhandlungen zwischen den betrieblichen Partnern bei Streikbeginn wie während der Streiktage näher aufgeklärt, und es hätte überdies ermittelt werden müssen, ob der Kläger daran in einem solchen Grad beteiligt war, daß er sich jedenfalls nicht grundsätzlich oder sachlich uneingeschränkt der Weisungsbefugnis seines Arbeitgebers entzog. Es ist durchaus denkbar, daß im Hinblick auf die verhältnismäßig geringe Zeitdauer jenes Streiks weitere Tatsachen bestätigen, daß die Verfügungsmöglichkeit des Arbeitgebers nur in der einen oder anderen Richtung gemindert, nicht aber gänzlich beseitigt war. Jedoch ist einzig der Umstand, daß der Streik "kurzfristig" verlief, wie oben dargelegt, nicht ausreichend. Wesentlicher und entscheidender Kernpunkt bleibt immer, daß im betrieblichen Organismus die wechselseitige Bindung der beiden Partner nicht vollkommen weggefallen ist.

Ein allgemeingültiger Erfahrungssatz des Inhalts, daß sich langfristig Beschäftigte oder Stammarbeiter von der allgemeinen Arbeitsniederlegung auszuschließen pflegen oder daß im Streikfalle ihre tatsächlichen Beziehungen zum Arbeitgeber nicht ernsthaft gestört werden, ist nicht anzuerkennen. Auch hier wären für den Fall des Klägers zusätzlich besondere Feststellungen vom LSG. zu treffen gewesen. Daß andererseits der Arbeitgeber von der angekündigten Auflösung des Arbeitsverhältnisses (fristlose Kündigung) keinen Gebrauch machte, hat keine zwingenden Auswirkungen auf die Tatsachenlage beim Beschäftigungsverhältnis; denn beide sind - wie oben dargelegt - nicht identisch (vgl. Abschn. V). Ferner geht der Hinweis des LSG. auf § 317 der Reichsversicherungsordnung (RVO) fehl. Dieser stellt nach Wortlaut und Inhalt lediglich eine Ordnungsvorschrift dar, durch die der Arbeitgeber verpflichtet wird, jeden von ihm Beschäftigten bei der Krankenkasse binnen drei Tagen nach Beginn und Ende der Beschäftigung zu melden. Auch Änderungen des Beschäftigungsverhältnisses, welche die Versicherungspflicht berühren, hat er binnen drei Tagen zu melden. Diese Meldung darf ausnahmsweise (Abs. 2 des § 317 RVO) dann unterbleiben, "wenn die Arbeit für kürzere Zeit als eine Woche unterbrochen wird und die Beiträge fortgezahlt werden". Jene Bestimmungen dienen der Durchführung der Krankenversicherung. Als Ordnungsvorschrift hat § 317 RVO aber keinen materiell-rechtlichen Inhalt; er enthält insbesondere nichts darüber, wann eine Beendigung des versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses tatsächlich eintritt oder eingetreten ist. Zutreffend hat deshalb auch schon das RVA. entschieden, daß An- und Abmeldung nicht rechtsbegründend wirken (vgl. EuM. Bd. 8 S. 72). Ebensowenig kann schließlich, worauf der Kläger zuletzt abstellte, der bloßen Entgegennahme laufender Beiträge durch die Betriebskrankenkasse die rechtliche Bedeutung eines "Anerkenntnisses" in Bezug auf ein Tatsachenverhältnis, wie die versicherungspflichtige Beschäftigung, zukommen; vom Vorderrichter selbst war dieses Argument auch nicht herangezogen worden.

VII. Insgesamt rechtfertigen die Erwägungen und Unterstellungen des Berufungsgerichts bisher nicht den Anspruch des Klägers auf Gewährung von Alu für die erweiterte Unterstützungsdauer nach § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.).

Die tatsächlichen Feststellungen im Urteil des LSG. sind lückenhaft; es hat der Pflicht zur vollständigen Erforschung des Sachverhalts (§ 103 SGG) nicht genügt, aber auch die Grenzen seines Rechts, über das Gesamtergebnis des Verfahrens nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG), überschritten.

Da der Tatbestand nicht hinreichend geklärt ist, konnte der erkennende Senat in der Streitsache selbst nicht entscheiden, sondern mußte sie unter Aufhebung des angefochtenen Urteils zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückverweisen (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).

Bei der künftigen Entscheidung wird das LSG. sämtliche Voraussetzungen für eine Anwendung des § 99 Abs. 1 Satz 3 AVAVG (a.F.) zu überprüfen und dabei auch die Unterstützungsakten des Arbeitsamts zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen haben. Bislang war für den Tatbestand u.a. nicht festgestellt, wann sich der Kläger arbeitslos gemeldet hat, wann und wie lange er arbeitsunfähig erkrankt war sowie welcher Zeitraum zwischen der Wiederherstellung seiner Arbeitsfähigkeit und der Arbeitslosmeldung liegt. Weiterhin ist noch festzustellen, ob der Kläger eine Rente wegen Invalidität oder Berufsunfähigkeit bezieht, nachdem er offenbar einen Rentenantrag gestellt hatte.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 86

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