Leitsatz (redaktionell)

1. Zur Frage des Versicherungsschutzes für die Nahrungsaufnahme während einer mehrstündigen Heimfahrt von der Arbeitsstätte zur Familienwohnung.

2. Zu unterscheiden sind Unfälle auf dem Wege zur Einnahme einer Mahlzeit und Unfälle, die sich beim Aufenthalt im Lokal oder beim Essen selbst ereignen. In den letztgenannten Fällen kommt ein Versicherungsschutz grundsätzlich nicht in Betracht.

 

Normenkette

RVO § 543 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1942-03-09

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 27. August 1963 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Kläger zu 1) sind die Hinterbliebenen des bei dem Tiefbauunternehmen B in Cloppenburg beschäftigt gewesenen Hilfsschachtmeisters Hermann A (A.), der am 24. März 1961 im Alter von 52 Jahren verstorben ist. A., der in Sedelsberg Krs. Cloppenburg wohnte, war damals auf einer Baustelle in Herzfeld bei Soest eingesetzt. Die dort tätigen Arbeitskräfte der Firma B wurden mit einem betriebseigenen Autobus jeden Montag früh von ihren Wohnorten zur Baustelle gebracht und freitags nach dem Schichtschluß um 17. Uhr wieder nach Hause gefahren. Die Entfernung von der Arbeitsstätte zur Familienwohnung des A. betrug etwa 200 km. Am 24. März 1961 legte der Busfahrer in Alfhausen kurz vor Bersenbrück die übliche halbstündige Pause ein, in der die etwa 40 Fahrtteilnehmer eine Gaststätte zur Einnahme des Abendessens aufsuchten. Darunter befand sich auch A., der sich ein Kotelett und eine Flasche Coca-Cola bringen ließ. Bei Verzehren des Koteletts geriet ihm ein Knochensplitter in den Hals, und A. lief nach Luft ringend aus der Gaststätte. Er wurde mit einem Kraftwagen zum Krankenhaus in Quakenbrück gefahren. Bei der Ankunft daselbst um 19.55 Uhr wurde der inzwischen eingetretene Erstickungstod festgestellt. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 13. Juni 1961 die Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen mit der Begründung ab, die Einnahme von Mahlzeiten sei eine eigenwirtschaftliche Tätigkeit, wenn der Versicherte sich die Nahrungsmittel selbst besorgt habe.

Das Sozialgericht Oldenburg hat die hiergegen erhobenen Klagen der Hinterbliebenen (Kläger zu 1) und der Allgemeinen Ortskrankenkassen Cloppenburg (Klägerin zu 2) durch Urteil vom 9. November 1961 zurückgewiesen.

Gegen dieses Urteil haben die Kläger zu 1) Berufung eingelegt. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat in der mündlichen Verhandlung am 27. August 1963 den Busfahrer und drei Kollegen des A., die zur Zeit des Unfalls in der Gaststätte anwesend waren, als Zeugen vernommen. Es hat die Berufung mit folgender Begründung zurückgewiesen: A. habe sich zwar am Unfalltag auf einem Heimweg von der Arbeitsstätte befunden und sei auf diesem Weg nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF versichert gewesen. Das zum Tode führende Ereignis sei jedoch nicht während der Zurücklegung des Weges, sondern während des Gaststättenaufenthalts in Alfhausen eingetreten. Ob dieser Aufenthalt noch mit betrieblichen Belangen rechtlich wesentlich zusammengehangen oder den inneren Zusammenhang zwischen versicherter Tätigkeit und Heimweg unterbrochen habe, könne dahingestellt bleiben, denn beim Essen des Koteletts habe A. nicht unter Versicherungsschutz gestanden. Diese Tätigkeit sei als eigenwirtschaftlich zu betrachten, weil die Nahrungsaufnahme grundsätzlich der rein persönlichen Sphäre des Beschäftigten zuzurechnen sei. Zwar werde in der Rechtsprechung für alle mit der Nahrungsaufnahme verbundenen Tätigkeiten der Versicherungsschutz bejaht, wenn die Nahrungsaufnahme für die Erhaltung der Arbeitskraft erforderlich sei. Hier liege diese Voraussetzung jedoch nicht vor, weil die Nahrungsaufnahme des A. überhaupt nicht der Erhaltung seiner Arbeitskraft habe dienen können. Denn er habe weder am gleichen Tag noch am darauffolgenden Samstag und Sonntag eine betriebliche Tätigkeit verrichten müssen; zur Erhaltung seiner Arbeitskraft für den Wiederbeginn der Betriebstätigkeit am folgenden Montag sei das Abendessen am Freitag nicht zwingend geboten gewesen. Die Nahrungsaufnahme hänge immer nur dann rechtlich wesentlich mit der versicherten Tätigkeit zusammen, wenn sie für die noch am gleichen oder am darauffolgenden Tag zu verrichtende Arbeit unumgänglich sei. Aus diesem Grund sei das Abendessen in Alfhausen auch nicht dem Essen in einer Werkskantine gleichzusetzen, zumal da das Bundessozialgericht (BSG) die Frage, ob die Teilnahme an einer Gemeinschaftsverpflegung grundsätzlich mit der versicherten Tätigkeit wesentlich zusammenhänge, offengelassen habe (BSG 12, 247, SozR RVO Nr. 52 zu § 542 aF). Schließlich habe die Beweisaufnahme ergeben, daß A. beim Verzehr des Koteletts sich nicht aus betrieblichen Gründen besonders beeilt habe. Der Busfahrer, der als Letzter die Gaststätte betreten habe, sei im Augenblick des Unfalls selbst noch beim Essen gewesen und habe nicht auf beschleunigte Abfahrt gedrängt. Auch die anderen Zeugen hätten bekundet, niemals sei jemand gezwungen worden, sich übermäßig zu beeilen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 23. September 1963 zugestellte Urteil haben die Kläger zu 1) am 9. Oktober 1963 Revision eingelegt und sie zugleich wie folgt begründet: Die Nahrungsaufnahme sei zwar grundsätzlich dem privaten Bereich, die Zurücklegung des Weges zur Familienwohnung jedoch zunächst der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnen. Es sei nach den Regeln des wesentlichen Zusammenhangs zu beurteilen, welcher Ursachenreihe hier der Vorrang zukomme. Wäre dem A. der gleiche Unfall vor Antritt der Heimreise zugestoßen, so bestände kein Zweifel, daß er sich für eine betriebsbedingte Tätigkeit habe stärken wollen. Es könne aber nicht entscheidend darauf ankommen, ob A. zu Beginn einer fünfstündigen Heimreise oder aber nach einer zweistündigen Busfahrt Essen zu sich genommen habe, um seine Wohnung nach dreistündiger Weiterfahrt zu erreichen. In beiden Fällen sei die Nahrungsaufnahme darauf gerichtet gewesen, die Unbilden der Fahrt in einigermaßen gekräftigtem Zustand zu überwinden. Das Verschlucken des Knochens sei also der letzten Phase der Busheimfahrt und damit der betrieblichen Tätigkeit zuzurechnen. Die Kläger zu 1) beantragen,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zur Zahlung der Hinterbliebenenentschädigung an die Kläger zu 1) zu verurteilen.

Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und hebt hervor, daß A. den fünfstündigen Heimweg als Insasse des Autobusses, also in aller Bequemlichkeit, zurückgelegt habe.

Die Klägerin zu 2) hat erklärt, von einer Stellungnahme absehen zu wollen.

II

Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg, da die Vorinstanzen mit Recht entschieden haben, daß der tödliche Unfall des A. nicht als Arbeitsunfall anerkannt werden kann.

Während der Heimfahrt zur Familienwohnung am 24. März 1961 stand A. unter dem Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 2 RVO aF. Das zum Tode führende Verschlucken des Kotelettknochens geschah indessen nicht bei der Zurücklegung dieses unfallversicherten Weges, sondern während der Fahrtpause, die zur Einnahme des Abendessens eingeschoben worden war. Hierbei bestand kein Versicherungsschutz. Die versicherungsrechtliche Beurteilung derartiger Tatbestände hat zu unterscheiden zwischen Unfällen auf dem Wege zur Einnahme einer Mahlzeit (vgl. SozR RVO Nr. 52 zu § 542 aF; Nr. 26 zu § 543 aF) und Unfällen, die sich beim Aufenthalt im Lokal bzw. beim Essen selbst ereignen. In den letztgenannten Fällen kommt ein Versicherungsschutz grundsätzlich nicht in Betracht. Zwar hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 30. Juni 1961 (SozR RVO Nr. 40 zu § 542 aF) den Versicherungsschutz bejaht, wenn ein Kraftfahrer eine Betriebsfahrt unterbricht, um etwas zu essen, und die Nahrungsaufnahme wesentlich der Erhaltung seiner Fahrfähigkeit dient. Die besonderen Merkmale, die den damaligen Fall kennzeichnen, fehlen jedoch bei dem hier zu entscheidenden Sachverhalt: A. verrichtete während der Busfahrt keine Betriebstätigkeit, insbesondere war er nicht der Autobusfahrer, der ein Abendessen für die Erhaltung seiner Fahrfähigkeit wahrscheinlich dringend benötigte. Auch im übrigen diente für A. und seine nach Hause beförderten Kollegen die Einnahme der Mahlzeit in Alfhausen nicht der betriebsnotwendigen Erhaltung der Arbeitskraft; denn sie hatten in diesem Zeitpunkt das arbeitsfreie Wochenende vor sich, an den folgenden beiden Tagen waren also keine Betriebstätigkeiten zu verrichten.

Die Revision irrt mit ihrer Darlegung, es wäre zweifelsfrei als Arbeitsunfall anzusehen, wenn A. den Knochen schon vor Antritt des Heimwegs in einem Lokal an der Arbeitsstätte verschluckt hätte. Ein solcher vor Fahrtbeginn eingeschobener Lokalaufenthalt würde allerdings nicht zu Lösung des Zusammenhangs geführt, wohl aber dessen Unterbrechung bewirkt haben (vgl. Bayer. LVAmt, Breithaupt 1952, 148). Gegen das Revisionsvorbringen spricht ferner folgende Erwägung: Wenn es den Autobusinsassen freistand, statt des Lokalbesuchs in Alfhausen - etwa aus Ersparnisgründen - sich mit Reiseproviant zu verpflegen, so müßte vom Standpunkt der Revision aus eine Verletzung des A. z. B. beim Öffnen einer aus Herzfeld mitgenommenen Konservenbüchse als Arbeitsunfall anerkannt werden; dies wäre aber nicht zu rechtfertigen (vgl. Bayer. LVAmt, Breithaupt 1950, 649).

Außergewöhnliche Begleitumstände, die den Versicherungsschutz bei der Abendmahlzeit ausnahmsweise begründen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere hat das LSG auf Grund der Beweisaufnahme festgestellt, daß A. sein Kotelett ohne Hast verzehren konnte; diese Feststellung ist von der Revision nicht angegriffen worden; sie läßt erkennen, daß irgendwelche betriebsbezogenen Einwirkungen beim Zustandekommen des Unfalls nicht beteiligt gewesen sind. Der Unfall des A. war mithin kein Arbeitsunfall.

Die Revision ist hiernach zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374847

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