Entscheidungsstichwort (Thema)

Ausfallzeit beim Zusammentreffen von Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit

 

Leitsatz (amtlich)

Ist ein Versicherter arbeitsunfähig und zugleich erwerbsunfähig, so liegt jedenfalls dann eine Unterbrechung (RVO § 1259 Abs 1 Nr 1) einer Beschäftigung oder Tätigkeit - nicht dagegen ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben - vor, wenn von Anfang an die begründete Aussicht bestand, daß die Erwerbsunfähigkeit in absehbarer Zeit behoben sein werde und die spätere Entwicklung diese Prognose bestätigt.

 

Normenkette

RVO § 1259 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 24. September 1974 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob die Zeit der Arbeitsunfähigkeit eines Versicherten, während der zugleich Erwerbsunfähigkeit - ohne Rentenbezug - bestand, als Ausfallzeit im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen ist.

Der im Jahre 1940 geborene Kläger leidet an einem angeborenen Herzfehler. Er nahm im August 1957 eine Beschäftigung als Stanzer auf. Dieses Beschäftigungsverhältnis wurde Ende Oktober 1957 gelöst, der Kläger nunmehr wegen seines Herzleidens als arbeitsunfähig angesehen. Für die Zeit vom August bis Oktober 1957 waren für ihn Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung entrichtet worden.

Im Jahre 1962 unterzog sich der Kläger einer - schon längere Zeit vorher geplanten - Herzoperation; der Herzfehler galt nämlich von Anfang an als operabel. Er konnte im März 1963 seine Tätigkeit als Stanzer ohne zeitliche Einschränkung wieder aufnehmen. In diesem Beruf war er bis Ende August 1972 versicherungspflichtig beschäftigt.

Durch Bescheid der Beklagten vom 27. Dezember 1972 wurde dem Kläger Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt. Die Zeit vom August bis Oktober 1957 wurde ebenso wie die von März 1963 bis August 1972 als Beitragszeit der Rentenberechnung zugrunde gelegt. Die dazwischenliegende Zeit der Arbeitsunfähigkeit fand dagegen keine Berücksichtigung.

Die Klage, mit der der Kläger die Anrechnung dieser Zeit als Ausfallzeit begehrt, hatte in erster Instanz keinen Erfolg (Urteil vom 15. Januar 1974). Das Landessozialgericht (LSG) hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger eine höhere Rente unter Berücksichtigung einer Ausfallzeit von November 1957 bis Februar 1963 zu gewähren (Urteil vom 24. September 1974).

In den Gründen seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger sei während dieser Zeit infolge Krankheit arbeitsunfähig gewesen. Die Arbeitsunfähigkeit habe die versicherungspflichtige Beschäftigung des Klägers unterbrochen. Die Zeit der Arbeitsunfähigkeit sei, da auch die übrigen Voraussetzungen erfüllt seien, Ausfallzeit im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO. An dieser Beurteilung werde dadurch, daß zugleich Erwerbsunfähigkeit bestanden habe, nichts geändert, zumal der Kläger keine Rente bezogen habe.

Mit der Revision rügt die Beklagte, das Berufungsgericht habe § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO unrichtig ausgelegt. Beim zeitlichen Zusammenfallen von Arbeitsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit müsse davon ausgegangen werden, daß der Versicherte - infolge der Erwerbsunfähigkeit - aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. In einem solchen Fall handele es sich nicht um die Unterbrechung eines Beschäftigungsverhältnisses.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 24. September 1974 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Die Revision hat keinen Erfolg. Das LSG hat zu Recht dahin entschieden, daß dem Kläger die genannte Zeitspanne als Ausfallzeit angerechnet werden muß. Nach § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO i. d. F. des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 sind - beim Vorliegen weiterer Voraussetzungen - Ausfallzeiten u. a. solche Zeiten, in denen eine versicherungspflichtige Beschäftigung durch eine infolge Krankheit bedingte Arbeitsunfähigkeit unterbrochen worden ist. In den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils ist im einzelnen dargelegt, daß die Voraussetzungen des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO erfüllt sind. Dem tritt die Beklagte ausschließlich - andere Angriffspunkte sind auch nicht ersichtlich - mit dem Hinweis entgegen, daß der Kläger nicht nur arbeitsunfähig, sondern auch erwerbsunfähig gewesen sei. Sie meint, ein Versicherter könne von dem Zeitpunkt an, zu dem Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden sei, nicht zugleich arbeitsunfähig im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO sein.

Der Senat hält diese Auffassung für durchaus erwägenswert. Man könnte in der Tat daran denken, den Eintritt der Erwerbsunfähigkeit als Indiz dafür anzusehen, daß der Versicherte endgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei. Das BSG hat sich diesen Gedanken bisher jedoch nicht zu eigen gemacht. In früheren Entscheidungen, die sich mit ähnlich liegenden Fällen befassen, ist vielmehr davon ausgegangen worden, daß Erwerbsunfähigkeit die - eine Ausfallzeit begründende - Arbeitsunfähigkeit nicht grundsätzlich ausschließe. Zur Begründung dieser Auffassung ist insbesondere auf § 1254 Abs. 2 Satz 2 RVO und damit auf § 1253 Abs. 2 Sätze 3 - 5 RVO hingewiesen worden. Aus diesen Vorschriften ergebe sich, daß auch nach dem Eintritt der Erwerbsunfähigkeit Ausfallzeiten zurückgelegt werden könnten (vgl. hierzu insbesondere BSG 28, 68 = SozR Nr. 20 zu § 1259 RVO; SozR Nr. 36 zu § 1259 RVO; Urteil vom 13.3.1975 - 12 RJ 346/74 -; ebenso im Grundsatz wohl auch SozR Nr. 55 zu § 1259 RVO). Die Frage, ob an dieser Rechtsprechung uneingeschränkt festzuhalten ist, bedarf hier keiner Entscheidung. Ein Abweichen könnte für solche Fälle erwogen werden, in denen sich die Erwerbsunfähigkeit von Anfang an als auf Dauer gerichtet darstellt. Der Auffassung der Beklagten ist jedenfalls dann nicht zu folgen, wenn es sich - wie hier - bei der Erwerbsunfähigkeit um einen vorübergehenden Zustand handelt und zudem eine Rente nicht gezahlt wird. Unter diesen Voraussetzungen kann der Eintritt der Erwerbsunfähigkeit nicht - jedenfalls nicht ohne weiteres - als Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gewertet werden, die Zeit der Erwerbsunfähigkeit kann sich vielmehr als Unterbrechung einer Beschäftigungszeit (vgl. § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO) darstellen. In Fällen dieser Art kann die Entscheidung also davon abhängen, ob in bezug auf das Ende der Erwerbsunfähigkeit eine vorausschauende oder aber eine rückblickende Betrachtungsweise angezeigt ist. Die bisherige Rechtsprechung des BSG bekennt sich überwiegend zu der rückschauenden Betrachtungsweise (vgl. BSG 28, 68; SozR Nr. 36 zu § 1259 RVO; Urteil vom 13.3.1975 - 12 RJ 346/74 -). Damit ist allerdings die in SozR Nr. 55 zu § 1259 RVO veröffentlichte Entscheidung des BSG nicht ganz in Übereinstimmung zu bringen. Dort ist für den Fall der Erwerbsunfähigkeit mit Rentenbezug ausgesprochen, daß der Versicherte damit aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sei, eine Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO also nicht angenommen werden könne. Die Anrechnung einer Ausfallzeit soll hiernach wohl auch dann nicht in Betracht kommen, wenn die Erwerbsunfähigkeit später wieder beseitigt wird und der Versicherte ein neues Beschäftigungsverhältnis eingeht.

Für den vorliegenden Fall bedarf es keiner Entscheidung darüber, welcher Auffassung der Vorzug zu geben ist. Die Erwerbsunfähigkeit des Klägers galt von Anfang an als vorübergehend. Es war sehr wahrscheinlich, daß eine Operation, der der Kläger sich auch unterziehen wollte, das Herzleiden günstig beeinflussen würde. Das Ergebnis der Operation hat diese Prognose bestätigt, der Kläger konnte seiner beruflichen Tätigkeit wieder nachgehen. Die zeitlich mit der Arbeitsunfähigkeit zusammenfallende Erwerbsunfähigkeit des Klägers ist deshalb, sowohl voraus- als auch rückschauend, nicht als Ausscheiden aus dem Erwerbsleben, sondern als Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses zu werten.

Der Senat hat sich in diesem Zusammenhang auch mit der Frage befaßt, ob die relativ lange Dauer der Arbeitsunfähigkeit - von November 1957 bis März 1963 - geeignet sein könnte, eine Unterbrechung im Sinne des § 1259 Abs. 1 Nr. 1 RVO auszuschließen. Er hat dies verneint, ohne damit grundsätzlich die Möglichkeit auszuschließen, daß eine lange Zeit der "Unterbrechung" einer Beendigung der Erwerbstätigkeit gleichgestellt werden kann. Dies mag jedoch auf sich beruhen. In dem zu entscheidenden Fall war es so, daß der Kläger lange Zeit auf die Durchführung der - sehr schwierigen - Herzoperation warten mußte. Weder hatte die Art der Erkrankung auf die Dauer der Arbeitsunfähigkeit einen wesentlichen Einfluß, noch konnte er selbst auf den Termin der Operation hinwirken. Der Zeitpunkt der Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit des Klägers hing vielmehr entscheidend von der Bereitschaft der Klinik sowie der Ärzte zur Durchführung einer solchen Operation ab. Unter diesen Umständen hält es der Senat für gerechtfertigt, auch bei einer Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit von mehreren Jahren eine Unterbrechung des Beschäftigungsverhältnisses anzunehmen.

Hiernach muß die Revision der Beklagten zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1650848

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