Entscheidungsstichwort (Thema)

Wegeunfall. Weg zum Ort der Tätigkeit. dritter Ort

 

Leitsatz (amtlich)

Zur Abgrenzung des Versicherungsschutzes auf dem Weg zum Ort der Tätigkeit von einem dritten Ort.

 

Orientierungssatz

1. Zur Bedeutung des Entfernungsunterschiedes zwischen dem von einem dritten Ort angetretenen und dem von der Wohnung des Versicherten aus angetretenen Weg zur Arbeitsstätte.

2. Es liegt kein versicherter Wegeunfall vor, wenn ein Arbeitnehmer auf dem Weg zur Haltestelle, an der er seine Familie absetzen wollte und von der er den Weg zu seinem Beschäftigungsbetrieb anzutreten beabsichtigte, verunglückt.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 21.05.1987; Aktenzeichen L 7 U 1116/85)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 14.03.1985; Aktenzeichen S 2 U 988/84)

 

Tatbestand

Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Kläger zu 2) bis 5) wohnte in S. und war bei einer Firma in L. beschäftigt. Am Unfalltag (27. September 1983) war er zur Spätschicht eingeteilt (Arbeitsbeginn: 14.30 Uhr). Am Vormittag dieses Tages fuhr er mit der Klägerin zu 1) und seinem Kind im Pkw nach T., um einen Verwandten im Krankenhaus zu besuchen. Dort hielt er sich längere Zeit auf. Gegen 13.47 Uhr fuhren sie aus Richtung D. in Richtung E. Auf der Kreuzung kam es zu einem Verkehrsunfall, bei dem der Ehemann der Klägerin zu 1) und sein Kind getötet wurden.

Die Beklagte lehnte Entschädigungsansprüche der Hinterbliebenen ab, da Ziel des Weges nicht die Arbeitsstätte des Ehemannes der Klägerin zu 1) gewesen sei (Bescheide vom 24. Februar 1984 und 14. März 1985).

Das Sozialgericht (SG) hat durch Urteil vom 14. März 1985 die Klagen abgewiesen, da der Ehemann der Klägerin zu 1) aus dem privaten Bereich zuzurechnenden Gründen nach T. gefahren sei und der Rückweg das rechtliche Schicksal des Hinweges teile.

Die Berufung der Kläger ist ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 21. Mai 1987). Das Landessozialgericht (LSG) hat ua ausgeführt: Zugunsten der Kläger könne davon ausgegangen werden, daß sich die Familie des Versicherten am Unfalltag nicht nur ganz kurzfristig in T. aufgehalten habe. Entgegen der Auffassung des SG wäre hier der Versicherungsschutz im Zeitpunkt des Unfalles nicht schon deswegen zu verneinen, weil es sich um einen ebenfalls unversicherten Rückweg von einem unversicherten Hinweg gehandelt habe; denn von Hinweg und Rückweg könne überhaupt nur gesprochen werden, wenn der Ausgangspunkt des Hinweges dem Zielpunkt des Rückweges entspreche und im wesentlichen die gleiche Strecke zurückgelegt werde, was hier aber nicht der Fall sei. Nach dem gesamten Ermittlungsergebnis sei auch davon auszugehen, daß der Versicherte beabsichtigte, die von den Klägern angegebene Ausweichstrecke zu benutzen, um so zum Arbeitsplatz zu gelangen. Auf diesem Weg habe aber kein Versicherungsschutz bestanden, weil der zum dritten Ort zurückzulegende Weg um mindestens 26,8 km verlängert und sich deshalb absolut verdreifacht habe.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Kläger haben dieses Rechtsmittel eingelegt. Der Weg des Ehemannes der Klägerin zu 1) von T. zur Arbeitsstätte habe sich nicht wesentlich von dem unterschieden, den er von seiner Wohnung aus zurücklege. Dem Versicherungsschutz stehe auch nicht entgegen, daß der Weg von T. aus dreimal so lang gewesen sei zur Arbeitsstätte wie der von der Wohnung aus. Das Bundessozialgericht (BSG) habe bereits entschieden, daß selbst ein sechsmal so langer Weg dem Versicherungsschutz nicht entgegenstehe. Der übliche Weg von der Wohnung zur Arbeit und zurück biete keinen geeigneten Maßstab, um den inneren Zusammenhang des Weges von einem dritten Ort zur Arbeit oder umgekehrt zutreffend bewerten zu können. Wegstrecken von rund 38 km seien bei den gegenwärtigen Arbeits- und Verkehrsverhältnissen für zahlreiche Arbeitnehmer durchaus üblich, damit sie ihren Arbeitsplatz von ihrer Wohnung aus erreichten.

Die Kläger beantragen, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 14. März 1985 sowie die Bescheide vom 24. Februar 1984 und 14. März 1985 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihnen Hinterbliebenenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung aus Anlaß des Unfalles des K. C. zu bewilligen.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet.

Als Arbeitsunfall gilt auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 der Reichsversicherungsordnung (RVO) genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit (§ 550 Abs 1 RVO).

Das LSG ist nach dem gesamten Ermittlungsergebnis davon ausgegangen, daß der in S. wohnhafte Ehemann der Klägerin zu 1) auf der Fahrt von T. nach L. war, wo sich auch seine Arbeitsstätte befand. Dennoch hat das LSG im Ergebnis zutreffend entschieden, daß der Ehemann der Klägerin zu 1) nicht auf einem Weg nach dem Ort der versicherten Tätigkeit iS des § 550 Abs 1 RVO verunglückt ist.

Der Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO setzt allerdings nicht voraus, daß der Weg zum Ort der Tätigkeit von der Wohnung des Versicherten aus angetreten wird (s ua BSGE 1, 171, 172; 32, 38, 41; BSG Urteile vom 27. August 1987 - 2 RU 70/85 und 2 RU 15/87 -; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 485r mwN). Die Dauer des Aufenthaltes an dem anderen Ort muß aber so erheblich sein, daß der vorangegangene Weg eine selbständige Bedeutung erlangt und nicht nur der Weg von der Wohnung zum Ort der Tätigkeit unterbrochen wird (BSG SozR Nrn 34, 54, 56 zu § 543 RVO aF; BSG Urteile vom 19. Oktober 1982 - 2 RU 7/81 - NJW 1983, 2286, vom 5. August 1987 - 9b RU 28/86 - und vom 27. August 1987 aaO; Brackmann aaO S 485r I). Das ist hier nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG der Fall.

Nach der Rechtsprechung des Senats genügt jedoch zur Begründung des Versicherungsschutzes auch hier nicht allein, daß der Ort der Tätigkeit Ausgangs- oder Endpunkt des Weges ist. § 550 Abs 1 RVO setzt vielmehr einen inneren Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit und der Tätigkeit im Unternehmen voraus, so daß nach dieser Vorschrift nicht schon ohne weiteres Versicherungsschutz besteht, wenn der Weg zum Ort der Tätigkeit führt oder von ihm ausgeht. Ist nicht die eigene Wohnung der andere Endpunkt des nach oder von dem Ort der Tätigkeit angetretenen Weges, wird sich im allgemeinen eher als im Regelfall die Frage nach dem inneren Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit stellen. Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist, ob der Weg zur Arbeitsstätte von einem anderen Ort als der eigenen Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten bestimmt ist, seine versicherte Tätigkeit am Ort der Tätigkeit aufzunehmen. Entgegen der Auffassung des LSG ist der Versicherungsschutz des Ehemannes der Klägerin zu 1) nicht allein schon deshalb zu versagen, weil der Weg von der Wohnung zur Arbeitsstätte 11 km lang war, während die Entfernung zwischen T.  und dem Ort der Tätigkeit dagegen 28 km betrug (s insbesondere die Urteile des Senats vom 27. August 1987 aaO). § 550 Abs 1 RVO legt keine allein durch die Entfernung vom Ort der Tätigkeit bestimmte Grenze für den Versicherungsschutz auf dem Wege nach und von dem Ort der Tätigkeit fest. Entscheidend ist auch insofern, ob ein innerer Zusammenhang zwischen dem Zurücklegen des Weges und der versicherten Tätigkeit besteht. Der innere Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit wurde verneint, wenn der Weg zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung nach der Verkehrsanschauung nicht in einem angemessenen Verhältnis zu dem üblichen Weg des Versicherten nach und von dem Ort der Tätigkeit steht (BSGE 22, 60, 62; Brackmann aaO S 485r II). Diese vom erkennenden Senat bei Wegen, deren Ausgangs- oder Endpunkt sich nicht mit dem Wohnbereich des Beschäftigten deckt, getroffene Einschränkung wird aus dem Erfordernis des inneren Zusammenhanges zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit im Unternehmen abgeleitet. Wie grundsätzlich bei der Beurteilung des Zusammenhanges zwischen der zum Unfall führenden Verrichtung und der versicherten Tätigkeit sind die gesamten Umstände des jeweiligen Einzelfalles maßgebend für die Beurteilung, ob sich der nicht zwischen Arbeitsstätte und Wohnung zurückgelegte Weg unter Berücksichtigung aller Umstände von dem üblichen Weg nach und von der Arbeitsstätte so erheblich unterscheidet, daß er nicht rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Beschäftigten geprägt ist, sich zur Arbeit zu begeben oder von dieser zurückzukehren. Zwar hält sich der Unterschied zwischen den Entfernungen zum Ort der Tätigkeit von der Wohnung des Ehemannes der Klägerin zu 1) einerseits und von dem Krankenhaus in T. andererseits, wie bereits aufgezeigt und worauf auch die Revision zutreffend hinweist, noch in einem Rahmen, der nach der Rechtsprechung des Senats den Versicherungsschutz allein nicht ausschließt (s ua die Urteile vom 27. August 1987 aaO). Ebenso wie aber der Versicherungsschutz auf dem Wege von einem anderen Ort als der Wohnung zum Ort der Tätigkeit nicht allein deshalb verneint werden darf, weil dieser Weg ein Vielfaches länger als der von der Wohnung aus ist, darf der Versicherungsschutz nicht allein deshalb bejaht werden, weil der Entfernungsunterschied sich in anderen Fällen in einem unfallversicherungsrechtlich nicht schädlichen Rahmen gehalten hat. Der Senat mißt auch hier (s Urteile vom 19. Oktober 1982 und 27. August 1987 aaO) der Entfernung die ihr zukommende Bedeutung, aber nicht die allein entscheidende Bedeutung bei. Bei der vielmehr gebotenen Beachtung aller Umstände ist hier - ebenso wie bei Erholungsfahrten in einen anderen Ort (s BSG Urteile vom 30. Juli 1971 - 2 RU 229/68 - und 19. Oktober 1982 - 2 RU 67/81 -; Brackmann aaO S 485s I) - zu berücksichtigen, daß dem Besuch in T., der ausschließlich dem persönlichen, unversicherten Bereich zuzurechnen ist, die ausschlaggebende Bedeutung für das Zurücklegen des Weges zukommt. Das gilt jedenfalls für die hier maßgebende Wegstrecke, auf der sich der Unfall ereignete. Hier war die Fahrt unfallversicherungsrechtlich wesentlich durch die Notwendigkeit geprägt, von dem Endpunkt der Reise nach T. wieder gemeinsam mit der Familie in den näheren Bereich des Ausgangsortes zurückzugelangen. Demgegenüber stand die weitere Absicht des Ehemannes der Klägerin zu 1), in L. die Arbeit aufzunehmen, auf diesem maßgebenden Teil des Weges noch im Hintergrund. Dies zeigt sich auch darin, daß der Ehemann der Klägerin zu 1) mit seiner Familie erst einmal von T. aus zurückfahren wollte und mußte. Dabei machte er es nach dem Vorbringen der Klägerin von der Dauer des Aufenthalts in T. abhängig, ob er vor Arbeitsaufnahme noch seine Wohnung aufsuchen oder seine Familie an einer Haltestelle öffentlicher Verkehrsmittel absetzen und danach von dort aus zum Ort der Tätigkeit fahren werde. Deshalb haben die Vorinstanzen im Ergebnis zu Recht den Versicherungsschutz des Ehemannes der Klägerin zu 1) im Unfallzeitpunkt verneint. Der Hinweis der Revision auf den Schichtdienst des Ehemannes der Klägerin zu 1) vermag kein anderes Ergebnis zu rechtfertigen; denn auch bei einer normalen Tagesschicht hätte der Ehemann der Klägerin zu 1) auf den dann in den Nachmittag verlegten Weg von dem Ort seiner Tätigkeit nach T. auf der entsprechenden Wegstrecke nicht nach § 550 RVO unter Versicherungsschutz gestanden. Dieser Teil der Fahrt wäre vielmehr geprägt gewesen von dem beabsichtigten Besuch in der anderen Stadt.

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1666554

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