Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz auf der Fahrt von dem Ort der Tätigkeit nach einem anderen Grenzpunkt als die Wohnung

 

Orientierungssatz

1. Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist, ob der Weg von der Arbeitsstätte zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten geprägt wird, von der versicherten Tätigkeit am Ort der Tätigkeit zurückzukehren (vgl BSG 1964-10-30 2 RU 157/63 = BSGE 22, 60). Daran fehlt es, wenn für die Wahl eines anderen Zielpunktes persönliche Gründe bestimmend sind, aus denen zu folgern ist, daß die voraufgegangene versicherte Tätigkeit und der durch sie bestimmte Ausgangspunkt für die Zurücklegung des Weges als unwesentlich in den Hintergrund treten.

2. Das Bedürfnis des Versicherten auf Erholung und Erfrischung nach einer Arbeitswoche begründet auch im Hinblick auf seine Wechselschicht keinen Unfallversicherungsschutz für die Fahrt zu einem etwa 100 km von der Arbeitsstätte entfernten Campingplatz.

 

Normenkette

RVO § 550 Abs 1 Fassung: 1974-04-01

 

Verfahrensgang

SG Hamburg (Entscheidung vom 24.10.1980; Aktenzeichen 24 U 342/80)

SG Hamburg (Entscheidung vom 24.10.1980; Aktenzeichen 24 U 520/79)

LSG Hamburg (Entscheidung vom 11.08.1980; Aktenzeichen 1 UBf 7/81)

 

Tatbestand

Der Ehemann der Klägerin, H.-J. D. (D.) war als Kranführer in einem Seehafenbetrieb in H.-W. beschäftigt. Am 29. Juni 1979 (Freitag) erlitt er gegen 20.15 Uhr auf der Fahrt mit seinem Motorrad in Ha. bei K. einen tödlichen Unfall. Nach Beendigung seiner Schicht um 19.30 Uhr war er nicht zu seiner in etwa 8 km entfernten Familienwohnung in H.-H., sondern in entgegengesetzter Richtung nach Norden über die Bundesautobahn bis zur Abfahrt B. B. und von dort auf der Bundesstraße 206 in Richtung P. S. gefahren. Er wollte dort auf einem von ihm gemieteten Campingplatz in seinem Wohnwagen das Wochenende verbringen. Die Klägerin war mit dem Sohn A. bereits am Nachmittag des Unfalltages im Pkw zum Campingplatz gefahren.

Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 11. Oktober 1979 eine Hinterbliebenenentschädigung ab; der Ehemann der Klägerin habe sich nicht auf einem mit seiner versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg vom Ort der Tätigkeit befunden (§ 550 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung -RVO-); die Ausnutzung der Freizeit zu Erholungszwecken oder zu anderen der Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit dienenden Maßnahmen sei eine persönliche Angelegenheit des Arbeitnehmers, die grundsätzlich dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Oktober 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 11. August 1981) und zur Begründung ua ausgeführt: Der Ehemann der Klägerin habe am Unfalltag nach Beendigung seiner Schicht direkt von der Arbeitsstelle nach seinem Campingplatz fahren wollen, um dort das Wochenende wie sonst auch mit seiner Familie zu verbringen. Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO habe auf diesem Weg nicht bestanden, weil der Weg bei einer Entfernung von mehr als 100 km nach Länge und Dauer außer Verhältnis zu dem 8 km langen üblichen Weg nach seiner Wohnung gelegen habe. Darüber hinaus entfalle der Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit, weil die Fahrt wie bei einer von der Arbeitsstätte aus angetretenen Urlaubsreise ihr Gepräge nicht durch das Vorhaben, von der Arbeit zurückzufahren erhalten habe, sondern sich aus persönlich bestimmten Gründen in den Wochenendurlaub zu begeben. Zwei getrennte Teilbereiche des häuslichen Wirkungskreises, bei denen nach der Rechtsprechung jeder für sich Grenzpunkt des Weges nach oder von dem Ort der Tätigkeit sein könnten, lägen hier nicht vor, da nicht einer der Teilbereiche den anderen in seiner Benutzungsmöglichkeit ergänzt habe. Auch aus § 550 Abs 3 RVO lasse sich hier ein Versicherungsschutz nicht herleiten. Ständige Familienwohnung iS dieser Vorschrift sei die Wohnung der Eheleute in H.-H. gewesen, in der sie polizeilich gemeldet gewesen seien und mit Ausnahme des fünfwöchigen Jahresurlaubs des Ehemannes sowie während der Wochenenden und der Feiertage in der Zeit von April bis Mitte Oktober das ganze Jahr über gelebt hätten. Unterhalte eine Familie zwei vollständige eingerichtete Wohnungen und halte sie sich abwechselnd in beiden Wohnungen auf, sei grundsätzlich nur die dem Ort der Tätigkeit nächstgelegene Wohnung als Familienwohnung iS des § 550 Abs 3 RVO anzusehen, selbst wenn die andere Wohnung zeitweise während der Wochenendaufenthalte und in der Urlaubszeit den Mittelpunkt der Lebensverhältnisse bilde.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht die Klägerin ua geltend: Die Familienwohnung sei zur Unfallzeit auf den Campingplatz verlegt gewesen. Die Wohnung in H. hätte für den Versicherten nur noch die Funktion einer Schlafstätte gehabt. Er hätte dort keine Nahrungsmittel vorgefunden und sich am Unfalltag auch keine mehr beschaffen können. Insofern liege ein Fall des geteilten Lebensbereichs (s. ua BSGE 19, 257) vor. Die wesentlich längere Wegstrecke zum Campingplatz stehe dem Versicherungsschutz nicht entgegen. Als Wechselschichtarbeiter habe der Ehemann der Klägerin ein gegenüber anderen Arbeitern gesteigertes Ruhe- und Erholungsbedürfnis gehabt, das ihm nicht in seiner Wohnung, sondern nur auf dem landschaftlich wunderschön gelegenen Campingplatz habe zuteil werden können. Das Unternehmen, dem die Wechselschichtarbeit zugute komme, müsse für das erhöhte Risiko aufkommen, das sich durch die längere Wegstrecke zur Erreichung der notwendigen Erholung ergebe.

Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts Hamburg sowie den Bescheid vom 11. Oktober 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin aus Anlaß des tödlichen Unfalls des Versicherten am 29. Juni 1979 Hinterbliebenenrente zu leisten.

Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Der Klägerin steht gegen die Beklagte eine Witwenrente aus der gesetzlichen Unfallversicherung (s § 589 Abs 1 Nr 3 RVO) nicht zu, weil ihr Ehemann bei seinem tödlichen Unfall nicht nach § 550 Abs 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden hat.

Als Arbeitsunfall gilt nach § 550 Abs 1 RVO auch ein Unfall auf einem mit einer der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten Tätigkeiten zusammenhängenden Weg nach und von dem Ort der Tätigkeit. Nach den mit der Revision nicht angegriffenen und deshalb für das Bundessozialgericht (BSG) bindenden tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (§ 163 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) fuhr der Ehemann der Klägerin am Unfalltag (Freitag abend) nach Beendigung seiner Schicht von seiner Arbeitsstätte aus mit dem Kraftrad nicht zu der etwa 8 km entfernten Wohnung, sondern in entgegengesetzter Richtung, um in seinem Wohnwagen auf einem Campingplatz am P. S. , etwa 100 km von seiner Arbeitsstätte entfernt, wie sonst auch das Wochenende mit seiner Familie zu verbringen. Ausgangspunkt der am Unfalltag unternommenen Fahrt war somit zwar der in § 550 Abs 1 RVO genannte Ort der Tätigkeit. Es fehlt jedoch, wie das LSG zu Recht entschieden hat, an dem nach dieser Vorschrift erforderlichen Zusammenhang der Zurücklegung des Weges mit der voraufgegangenen versicherten Tätigkeit.

Obwohl in § 550 Abs 1 RVO allein der Ort der Tätigkeit als Ausgangspunkt des Rückweges oder als Endpunkt des Hinweges festgelegt ist und infolgedessen der Rückweg von der Arbeitsstätte nicht in der Wohnung enden oder der Hinweg von dort aus angetreten werden muß (s u.a. BSGE 1, 171, 172; 22, 60, 61; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 9. Aufl, S 4850; Gitter in SGB - Sozialversicherung - Gesamtkommentar, § 550 Anm 3 Buchst c), genügt es zur Begründung des Versicherungsschutzes nach dieser Vorschrift nicht, daß der Ort der Tätigkeit Ausgangs- oder Endpunkt des Weges ist. Der außerdem vorausgesetzte Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit erfordert eine innere ursächliche Verknüpfung, die für die Zurücklegung des Weges rechtlich wesentlich ist (ebenfalls ständige Rechtsprechung, s. BSGE 22, 60, 61 mwN; s auch Brackmann aaO S 485 p mwN aus Rechtsprechung und Schrifttum; Gitter aaO). Ist nicht die Wohnung der andere Endpunkt des Weges von dem Ort der Tätigkeit, wird sich im allgemeinen eher als im Regelfall die Frage nach dem inneren ursächlichen Zusammenhang zwischen der Zurücklegung des Weges und der versicherten Tätigkeit stellen. Auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur eigenen Wohnung wird grundsätzlich ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit angenommen, weil der Versicherte diesen Weg wegen seiner voraufgegangenen Tätigkeit im Unternehmen zurücklegen muß, obwohl dieser Weg dem Versicherten zugleich dazu dient, an dessen Endpunkt seinen persönlichen Interessen im privaten Bereich nachzugehen. Der ursächliche Zusammenhang des Weges von dem Ort der Tätigkeit zu einem anderen Ort als der Wohnung ist somit nicht schon deshalb zu verneinen, weil der Versicherte sich (auch) an diesem Ort seinen privaten Belangen widmen wollte (BSGE 22, 60, 62; BSG Urteil vom 30. Juli 1975 - 2 RU 73/74 -; Brackmann aaO S 485q). Entscheidend für den Versicherungsschutz nach § 550 Abs 1 RVO ist vielmehr, ob der Weg von der Arbeitsstätte zu einem anderen Ort als der eigenen Wohnung rechtlich wesentlich von dem Vorhaben des Versicherten geprägt war, von der versicherten Tätigkeit am Ort der Tätigkeit zurückzukehren (s BSGE 22 aaO). Daran fehlt es, wenn für die Wahl eines anderen Zielpunktes persönliche Gründe bestimmend waren, aus denen zu folgern ist, daß die voraufgegangene versicherte Tätigkeit und der durch sie bestimmte Ausgangspunkt für die Zurücklegung des Weges als unwesentlich in den Hintergrund treten. So aber lagen die Verhältnisse im vorliegenden Fall, wie das LSG aufgrund der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen zu Recht angenommen hat. Die Fahrt des Ehemannes der Klägerin am Unfalltag erhielt ihr Gepräge durch das Vorhaben, das bevorstehende Wochenende mit seiner Familie auf dem Campingplatz zu verbringen. Im Zusammenhang mit der im Verhältnis zu dem regelmäßigen Weg von dem Ort der Tätigkeit ungewöhnlichen Entfernung (s BSGE 22 aaO), die er hierfür zurücklegen mußte, trat demgegenüber der Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit als rechtlich unbeachtlich in den Hintergrund (s. auch BSG Urteil vom 11. Oktober 1973 - 2 RU 1/73 -). Entgegen der Auffassung der Revision rechtfertigt das Bedürfnis des Ehemannes der Klägerin auf Erholung und Erfrischung nach einer Arbeitswoche auch im Hinblick auf seine Wechselschicht schon deshalb keine andere Entscheidung, weil Verrichtungen zur Erfrischung und Erholung grundsätzlich nur dann unter Versicherungsschutz stehen, wenn sie der unmittelbaren Wiederaufnahme der versicherten Tätigkeit dienen (s. Brackmann aaO S 481 h mwN).

Zu Recht hat das LSG auch angenommen, daß nach der tatsächlichen Gestaltung der Verhältnisse in der Wohnung der Familie in H. und dem Wohnwagen auf dem Campingplatz nicht zwei Teilbereiche einer Wohnung gesehen werden können, von denen beide gleichermaßen als Ausgangs- und Endpunkt der Wege von und zur Arbeitsstätte gelten könnten (s. BSGE 19, 257, 258; SozR 2200 § 550 Nr 31). Beide Aufenthaltsorte ergänzten sich in ihrer Benutzbarkeit nicht in der Weise, daß das zum Wohnen und Schlafen Wesentliche dem einen Ort fehlte, dem anderen aber eigen war (s. BSGE aa0 S 259).

Ein Versicherungsschutz nach § 550 Abs 3 RVO scheidet schon deshalb aus, weil die in der Nähe der Arbeitsstätte gelegene Wohnung in H. nicht lediglich die Merkmale einer Unterkunft im Sinne dieser Vorschrift aufwies.

Die Revision ist danach zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662525

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