Leitsatz (amtlich)

1. Hat das Sozialgericht die Klage auf Nachzahlung von Ruhegeld abgewiesen, weil der Versicherungsträger mit einem unstreitigen Anspruch auf Zahlung rückständiger Beiträge aufgerechnet hat, dann betrifft das Urteil nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume, nicht auch den Anspruch, mit dem der Versicherungsträger aufgerechnet hat.

2. Die Zulassung der Berufung nach SGG § 150 Nr 1 ist kein aufklärender Hinweis auf eine schon kraft Gesetzes bestehende Möglichkeit, Berufung einzulegen, sondern eine Entscheidung des Sozialgerichts. Sie muß deshalb im Urteil in der Weise erkennbar zum Ausdruck gebracht sein, daß kein Zweifel daran bestehen kann, daß das Sozialgericht eine seiner Ansicht nach auf Grund der SGG §§ 144 - 149 an sich unstatthafte Berufung trotzdem wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache oder wegen Abweichung von einem Urteil des übergeordneten LSG zulassen will.

 

Normenkette

SGG § 143 Fassung: 1953-09-03, § 146 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1309 Fassung: 1957-02-03

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Dezember 1955 wird aufgehoben; die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 16. Mai 1955 wird als unzulässig verworfen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Am 7. April 1952 wurde dem Kläger vom 1. Juni 1951 an das Ruhegeld wegen Berufsunfähigkeit bewilligt. Durch Bescheide vom 6. Januar 1953 und 17. April 1953 rechnete die Beklagte gegen den Anspruch des Klägers auf Ruhegeld mit einer Forderung auf Zahlung rückständiger Beiträge auf; als ehemaliger Arbeitgeber schuldete nämlich der Kläger aus der Zeit von September 1948 bis Februar 1949 noch rund 16.000.- DM an Beiträgen zur Sozialversicherung. Insgesamt behielt daraufhin die Beklagte für die Zeit vom 1. Februar 1953 bis 31. August 1954 den Betrag von 1.948.- DM ein. Das Sozialgericht Düsseldorf verpflichtete die Beklagte durch Teilurteil vom 26. Juli 1954, das Ruhegeld vom 1. September 1954 an weiterzuzahlen und von der bisher einbehaltenen Summe - 1.948,- DM - den Teilbetrag von 977,56 DM auszuzahlen. Es führte dazu aus, die Beklagte dürfe nur mit der Beitragsforderung der Angestellten versicherung, nicht auch mit anderen Beitragsrückständen aufrechnen; da insgesamt 1.948,- DM einbehalten worden seien, an die Angestelltenversicherung aber höchstens 970,44 DM geschuldet seien, sei die Aufrechnung in Höhe von 977,56 DM unbegründet. Nach Rechtskraft dieses Teilurteils wies es durch Schlußurteil vom 16. Mai 1955 die Klage im übrigen ab, weil der Kläger als ehemaliger Arbeitgeber den noch streitigen Betrag von 970,44 DM zur Angestelltenversicherung schulde und daher insoweit die Aufrechnung nach §§ 50 AVG, 1309 RVO gerechtfertigt sei. Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen wies am 7. Dezember 1955 die Berufung des Klägers aus denselben Gründen zurück und ließ die Revision zu. Zur Zulässigkeit der Berufung führte es aus, das angefochtene Schlußurteil entscheide nicht nur über den Ruhegeldanspruch des Klägers für eine zurückliegende Zeit, sondern auch über den Anspruch der Beklagten auf Zahlung von rückständigen Beiträgen, so daß die Berufung nach § 146 SGG nicht ausgeschlossen sei.

Hiergegen legte der Kläger form- und fristgerecht Revision ein. Er beantragte, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte zur Zahlung von 970.44 DM zu verurteilen: § 1309 RVO sei eine Ausnahmevorschrift. Der Begriff "geschuldete Beiträge" sei deshalb eng auszulegen. Er dürfe nicht auf Beiträge ausgedehnt werden, die, wie im vorliegenden Fall, mit dem Versicherungsverhältnis, aus dem die Rente zu zahlen sei, nichts zu tun hätten.

Die Beklagte und die vom Sozialgericht beigeladene Allgemeine Ortskrankenkasse der Stadt W beantragten, die Revision zurückzuweisen. Sie machten sich die Ausführungen des Landessozialgerichts zu eigen.

II.

Die Revision ist zulässig. Bei einer zulässigen Revision hat das Revisionsgericht zunächst von Amts wegen zu prüfen, ob die Prozeßvoraussetzungen für das Klage- und Berufungsverfahren vorliegen (BSG. 2, 225). Zu den Prozeßvoraussetzungen für das Berufungsverfahren gehört die Statthaftigkeit der Berufung. Diese hat das Landessozialgericht zu Unrecht bejaht.

In Angelegenheiten der Rentenversicherung können Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen (§ 146 SGG). Hierbei kommt es nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung, nicht auf den Beschwerdegegenstand im Berufungsverfahren an (ebenso der 4. Senat des BSG., Urteil vom 6.9.1956, Az. 4 RJ 240/55; für die ähnliche Vorschrift des § 148 Nr. 2 SGG auch der 8. Senat des BSG., BSG. 1, 225 und der 10. Senat des BSG., Urteil vom 24.8.1956, Az. 10 RV 1065/55). Der Kläger hat vor dem Sozialgericht beantragt, die Beklagte zu verurteilen, das in der Zeit von Februar 1953 bis August 1954 einbehaltene Ruhegeld von 970,44 DM an ihn auszuzahlen. Über diesen Antrag hat das Sozialgericht in seinem Schlußurteil vom 16. Mai 1955 auch entschieden. Seine Entscheidung betrifft demnach nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume. Die Auffassung des Landessozialgerichts, die Entscheidung betreffe auch den Anspruch der Beklagten auf Zahlung rückständiger Beiträge, ist unrichtig. Ob ein Urteil nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume oder auch andere Ansprüche betrifft, beurteilt sich allein nach dem Gegenstand des Urteilsspruchs, nicht nach dem Inhalt der Urteilsgründe. Es entspricht dem Wortlaut und Sinn des § 146 SGG, in den Fällen, in denen nur Rentenansprüche für vergangene Zeiten geltend gemacht sind, die Berufung auszuschließen, weil der Streit den eigentlichen Zweck der Rentenversicherung, dem Versicherten eine sichere Unterhaltsgrundlage für Gegenwart und Zukunft zu gewährleisten, nicht betrifft und daher geringere Bedeutung hat (ebenso der 4. Senat des BSG. a. a. O.). Diese Auslegung steht auch mit der bisherigen Rechtsprechung des erkennenden Senats in Einklang, daß es bei der Anwendung des § 146 SGG nicht darauf ankommt, welcher Rechtssatz oder welches Gesetz umstritten ist (Urteil vom 29. 11. 1955, Az. 1 RA 43/54). Der Anspruch der Beklagten auf Zahlung rückständiger Beiträge ist nicht Gegenstand des Urteilsspruchs des Sozialgerichts. Die Beklagte hat mit ihm lediglich gegen die Forderung des Klägers aufgerechnet und dadurch entsprechend ihrem Antrag erreicht, daß das Sozialgericht die Klage abgewiesen hat. Gegenstand des Urteilsspruchs ist daher nur der Anspruch des Klägers auf Nachzahlung des Ruhegeldes, während der Anspruch der Beklagten auf Zahlung der rückständigen Beiträge Gegenstand einer Einwendung und damit der Urteilsgründe ist. Die Berufung ist somit nach § 146 SGG ausgeschlossen. Es bleibt dahingestellt, ob die Berufung auch dann ausgeschlossen ist, wenn sich die Rechtskraft des Urteils auf die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung erstreckt. Dies ist nur der Fall, wenn die Gegenforderung unbegründet ist (§ 141 Abs. 2 SGG); über einen solchen Sachverhalt ist hier nicht zu entscheiden.

Die Berufung ist auch nicht nach § 150 SGG statthaft, weil das Sozialgericht sie nicht zugelassen und der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel nicht gerügt hat. Der Satz in der Rechtsmittelbelehrung des Sozialgerichts, "Gegen dieses Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu", deutet darauf hin, daß die Berufung nach § 143 SGG für statthaft gehalten worden ist; es kann aus ihm nicht entnommen werden, daß die Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG zugelassen werden soll. Die Vorschrift des § 150 Nr. 1 SGG hat andere Voraussetzungen als § 143 SGG. Ihre Anwendung verlangt, daß die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder daß das Sozialgericht in der Auslegung einer Vorschrift von einem Urteil des im Rechtszug übergeordneten Landessozialgerichts abweicht. Die Zulassung der Berufung nach § 150 Nr. 1 SGG ist hiernach nicht ein aufklärender Hinweis auf eine schon kraft Gesetzes bestehende Möglichkeit, Berufung einzulegen, und auch nicht eine Maßnahme gerichtlicher Verwaltungstätigkeit, sie ist vielmehr eine Entscheidung des Sozialgerichts; sie muß deshalb im Urteil in der Weise erkennbar zum Ausdruck gebracht sein, daß kein Zweifel darüber bestehen kann, daß das Sozialgericht eine seiner Ansicht nach auf Grund der §§ 144 bis 149 SGG an sich unstatthafte Berufung trotzdem wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache oder wegen Abweichung von einem Urteil des übergeordneten Landessozialgerichts zulassen will. Im vorliegenden Fall bestehen weder nach dem Sachverhalt noch nach dem Urteil des Sozialgerichts Anhaltspunkte dafür, daß diese Voraussetzungen vom Sozialgericht für gegeben erachtet worden sind (vgl. auch 1. Senat des BSG., Beschluß vom 25. 11. 1955, Az. 1 RA 22/55; 7. Senat des BSG., BSG. 2, 121; 10. Senat des BSG., Urteil vom 15. 5. 1956, Az. 10 RV 730/55). Die Berufung des Klägers gegen das Schlußurteil des Sozialgerichts vom 16. Mai 1955 ist demnach unzulässig.

Das Landessozialgericht hat die Berufung des Klägers zu Unrecht für zulässig erachtet und sie als unbegründet zurückgewiesen. Seine Entscheidung muß aufgehoben und die Berufung als unzulässig verworfen werden. Es ist nicht möglich, die Entscheidung des Landessozialgerichts nach § 170 Abs. 1 Satz 2 SGG zu bestätigen. Diese Vorschrift setzt voraus, daß der Urteilsspruch richtig und nur die Begründung fehlerhaft ist. Im vorliegenden Fall ist aber auch der Urteilsspruch unrichtig, weil das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig verwerfen mußte (§ 158 Abs. 1 SGG).

Der Grundsatz, daß im Rechtsmittelverfahren das angefochtene Urteil nicht zum Nachteil des Rechtsmittelklägers geändert werden darf, steht der Entscheidung des Senats nicht entgegen. Durch die Verwerfung der Berufung wird der Kläger nicht in eine ungünstigere Lage versetzt als durch das von ihm angefochtene Urteil des Landessozialgerichts (ebenso der 10. Senat des BSG., BSG. 2, 225 und der 4. Senat des BSG. a. a. O.).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1957, 728

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