Leitsatz (amtlich)

Eine Verhinderung durch außerhalb des Willens liegende Verhältnisse (RVO § 1547 Abs 1 Nr 2 aF) ist anzunehmen, wenn der Versicherte durch eine unrichtige Rechtsauskunft, die ihm seine KK erteilt hat, von der rechtzeitigen Anspruchsanmeldung abgehalten worden ist.

 

Normenkette

RVO § 1547 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1924-12-15; SGG § 145

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 13. Januar 1961 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der 1930 geborene Kläger wohnte im Jahre 1954 zur Miete im Hause des Landwirts B in Trier, wo auch noch mehrere andere Mieter, darunter der damals 56 Jahre alte Flüchtling W untergebracht waren. Am Abend des 16. Oktober 1954 eilten der Kläger und einige andere Hausbewohner auf Hilferufe des W aus ihren Wohnungen. Draußen vor dem Haus erklärte ihnen W, er sei von B, der sich inzwischen in einen Schuppen begeben hatte, geschlagen worden. Währenddessen warf B Kiesgabeln, Besen und andere Gegenstände nach den vor dem Schuppen stehenden Personen. Durch einen dieser Würfe wurde der Kläger am linken Auge verletzt, das infolge der Verletzung erblindete. Der Kläger nahm B auf Schadenersatz in Anspruch. Seinen Ansprüchen gaben das Landgericht (LG) Trier mit den Urteilen vom 12. Juni 1956 und 28. Mai 1957 sowie das Oberlandesgericht Koblenz mit den Urteilen vom 27. Februar 1957 und 17. Dezember 1958 statt.

Von diesem Unfall erfuhr der Beklagte erstmals am 3. Dezember 1958 durch ein Schreiben des Sozialministeriums Rheinland-Pfalz, worin eine Eingabe des Klägers an den BMA vom 29. Oktober 1958 wörtlich wiedergegeben wurde. Der Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch des Klägers durch Bescheid vom 24. April 1959 ab mit der Begründung, ein nach § 537 Nr. 5 der Reichsversicherungsordnung (RVO) entschädigungspflichtiger Unfall habe nicht vorgelegen, ferner sei der Anspruch nach § 1546 RVO ausgeschlossen.

Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG) machte der Kläger geltend, er habe sich an die Bundesbahn-Betriebskrankenkasse das Zivilgericht, die Polizei und seinen ihn im Zivilprozeß vertretenden Rechtsanwalt mit der Bitte um Auskunft gewandt, ob ihm ein versicherungsrechtlicher Entschädigungsanspruch zustehe; alle diese Stellen hätten ihm erklärt, ein solcher Anspruch komme nicht in Betracht bzw. es sei unbekannt, an welche Stelle sich der Kläger dieserhalb wenden müsse.

Dies rechtfertige die Anwendung des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO.

Mit Urteil vom 14. August 1959 hat das SG die Klage abgewiesen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt, der Kläger habe die Anmeldefrist des § 1546 RVO nicht gewahrt. Bei einer sachlich berechtigten Entschädigungsvoraussetzung könnte der Versicherungsträger selbst dann nicht verpflichtet werden, wenn dieser die Verjährungseinrede nicht ausdrücklich aufrechterhalten würde, weil die Vorschriften des § 1546 RVO die Verwirklichung eines Rechtsanspruches nicht ermöglichen, wenn nicht die Rechtfertigungsmerkmale des § 1547 RVO begründet seien. Keiner der Anwendungsfälle des § 1547 RVO sei gegeben. Insbesondere sei die Rechtsunkenntnis des Klägers nicht als Verhinderung im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO anzusehen. Allein schon deswegen habe der Kläger mit der Verfolgung des Anspruchs gegen die Beklagte selbst bei sachlicher Berechtigung nicht zum Zuge kommen können. In der Tatsache, daß der Beklagte sich auf § 1546 RVO berufe, liege zudem insofern kein Rechtsnachteil für den Kläger, weil nach der Überzeugung der Kammer ein gesetzlicher Unfallversicherungs-(UV)schutz in vorliegendem Falle nicht gegeben sei, so daß auch eine freiwillige Leistung des Beklagten billigerweise nicht erwartet werden könne. Es scheide insbesondere auch die Anwendung des § 537 Nr. 5 c RVO aus. Nach dem unstreitigen Sachverhalt sei nämlich erwiesen, daß W im Zeitpunkt des Erscheinens des Klägers nicht mehr bedroht gewesen sei, da B sich bereits in den Schuppen zurückgezogen habe. Vielmehr habe das Verhalten des Klägers dem B zu einer Abwehrhandlung Anlaß geben müssen. Nach der Begründung der Kostenentscheidung folgt die Rechtsmittelbelehrung, die mit dem Satz beginnt: "Gegen dieses Urteil ist die Berufung zulässig".

Mit seiner Berufung hat der Kläger erneut auf die unrichtigen Auskünfte der von ihm befragten, nach seiner Meinung kompetenten Stellen hingewiesen. Ferner hat er geltend gemacht, man dürfe das Geschehen am Unfallabend nicht in einzelne Phasen zerreißen, sondern müsse es im Zusammenhang betrachten; dann sei aber an der Anwendbarkeit des § 537 Nr. 5 c RVO nicht zu zweifeln. Weil dies der Fall sei, stelle die Berufung des Beklagten auf § 1546 RVO einen Rechtsmißbrauch dar, wie auch das Bundessozialgericht (BSG) zu dieser Vorschrift entschieden habe (BSG 10, 88). Deshalb könne dem Kläger die verspätete Anspruchsanmeldung nicht entgegengehalten werden. Bei seiner Entscheidung habe das SG mithin entgegen der Rechtsprechung nicht berücksichtigt, daß der Entschädigungsanspruch aus der UV nicht in jedem Fall wegen Versäumnis der Anmeldefrist verneint werden dürfe. Sachlich setze sich das Urteil auch in eindeutigen Widerspruch zu dem Beweisergebnis im Zivil- und Strafverfahren, indem es die Feststellung treffe, der Kläger habe B Anlaß zur Abwehrhandlung gegeben.

In der mündlichen Verhandlung vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger auf Befragen erklärt, er habe sich hinsichtlich der Frage, ob ihm UV-Schutz auf Grund der RVO zustehe, bei einem Träger der gesetzlichen UV oder bei einem Versicherungsamt nicht erkundigt. Das LSG hat durch Urteil vom 13. Januar 1961 die Berufung des Klägers als unzulässig verworfen: Die Berufung sei durch § 145 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, da sie einen wegen Fristversäumnis abgelehnten Antrag betroffen und der Kläger weder im Verwaltungs- noch im Klageverfahren einen der Ausnahmetatbestände des § 1547 RVO schlüssig behauptet habe (SozR SGG § 145 Da 5 Nr. 6). Für § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO ergebe sich von vornherein kein Anhaltspunkt. Auch ein Ausnahmefall nach Nr. 2 dieser Vorschrift sei vom Kläger nicht schlüssig vorgebracht worden. Rechtsunkenntnis des Verletzten sei unerheblich. Fehlerhafte Auskünfte amtlicher Stellen könnten nur dann eine Verhinderung im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO bewirken, wenn es sich um zur Auskunftserteilung berufene Stellen handele; diese seien nur ein Versicherungsamt oder irgendein Träger der UV, nicht dagegen die vom Kläger angegebenen Stellen, nämlich Krankenkasse, Polizei, LG und Rechtsanwalt, da diese Stellen nicht in § 1549 RVO aufgeführt seien.

Auch aus § 150 SGG könne die Statthaftigkeit der Berufung nicht hergeleitet werden. Die falsche Rechtsmittelbelehrung des SG bedeute keine Zulassung gemäß § 150 Nr. 1 SGG. Einen wesentlichen Verfahrensmangel des SG habe der Kläger nicht wirksam gerügt. Die Frage, ob das Verfahren des SG an einem wesentlichen Mangel leide, sei vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des SG aus zu beurteilen. Das SG sei davon ausgegangen, daß der Anspruch des Klägers schon wegen verspäteter Anmeldung und Fehlens der Voraussetzungen des § 1547 RVO zu verneinen sei, ungeachtet einer Geltendmachung durch den Beklagten und einer sachlichen Anspruchsberechtigung. Dieser Standpunkt treffe zwar im Hinblick auf die BSG-Rechtsprechung nicht zu, weil der Einwand des UV-Trägers verzichtbar und jeweils unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauchs zu überprüfen sei (BSG 10, 88). Der Umstand, daß das SG Trier sich mit diesem Grundsatz nicht befaßt habe, betreffe den Inhalt seiner Entscheidung und nicht sein Verfahren. Gerade weil sich das SG im Ergebnis ausschließlich auf die Fristversäumnis gestützt habe, ohne hierbei auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 537 Nr. 5 c entscheidend abzustellen, fehle es an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens gemäß § 150 Nr. 2 SGG. Tatsächlich habe sich zwar - wie der Kläger mit Recht gerügt habe - das SG zu den Zeugenaussagen im Straf- und Zivilprozeß in Widerspruch gesetzt; dieser Verfahrensverstoß sei aber nicht wesentlich. Denn auf die Frage, ob der Vorgang vom 16. Oktober 1954 als entschädigungspflichtiger Unfall gelte, sei es dem SG gar nicht angekommen. Seine Ausführungen hierzu bedeuteten nur, daß es dem Kläger nebenher noch darlegen wollte, er könne auch aus sachlich-rechtlichen Gründen keine Entschädigung beanspruchen. Das SG habe diese Frage insbesondere auch nicht unter dem Gesichtspunkt des Ermessensmißbrauchs bei dem Einwand aus § 1546 RVO geprüft. Vielmehr habe es klar ersichtlich den Standpunkt vertreten, der Anspruch des Klägers sei durch die Fristversäumnis - auch ohne Einwand des Beklagten - untergegangen und der Versicherungsträger habe mangels eines Rechtsanspruchs des Klägers eine Leistungsgewährung lediglich unter dem Gesichtspunkt der Billigkeit zu prüfen. Hiernach sei den Ausführungen des SG nicht zu entnehmen, es habe an den Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs gedacht und etwa einen Rechtsmißbrauch verneinen wollen, in welchem Falle allerdings der angeführte Verfahrensmangel des SG als wesentlich anzusehen wäre. § 150 Nr. 3 SGG schließlich sei von vornherein unanwendbar. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Gegen das am 13. März 1961 zugestellte Urteil hat der Kläger am 6. April 1961 Revision eingelegt.

In der am 8. April 1961 eingegangenen Revisionsbegründung macht der Kläger geltend, das LSG hätte statt des Prozeßurteils ein Sachurteil fällen müssen. Die Berufung sei nicht durch § 145 Nr. 1 SGG ausgeschlossen gewesen, da der Kläger sich zutreffend auf den Ausnahmefall des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO berufen habe. Der schlüssige Vortrag eines solchen Ausnahmetatbestands sei in der Behauptung des Klägers zu erblicken, von der Krankenkasse und dem Zivilgericht habe er seinerzeit unzutreffende Rechtsbelehrungen erhalten. Unrichtige Auskünfte dieser Stellen bewirkten eine Verhinderung im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO.

Weiter trägt die Revision vor, das LSG habe Verjährung und Ausschlußfrist verwechselt. Der Beklagte habe sein Ermessen bei dem Einwand des Ablaufs des Ausschußfrist mißbraucht, da die Frage der sachlichen Anspruchsberechtigung nur unzureichend gewürdigt und falsch entschieden worden sei. Irrtümlich habe das LSG die Prüfung des Ermessensmißbrauchs als sachlich-rechtliche Frage behandelt und zu Unrecht angenommen, das SG habe dem Kläger nur zusätzlich und nebenbei sagen wollen, daß sein Anspruch nicht bloß verspätet angemeldet, sondern auch unbegründet sei. Hier sei die Frage, ob der Anspruch sachlich berechtigt war, zugleich eine Verfahrensfrage, "denn die Zulässigkeit der Berufung wurde verneint, weil der Ermessensmißbrauch verneint ist, und der Ermessensmißbrauch ist verneint, weil die Frage der sachlichen Anspruchsberechtigung fehlerhaft entschieden wurde. Die Reihe dieser Irrtümer bedeutet einen wesentlichen Verfahrensverstoß". Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Entschädigung für den Verlust des Sehvermögens auf seinem linken Auge zu gewähren.

Der Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Abweichend vom LSG vertritt er die Ansicht, das SG habe die Frage des Ermessensmißbrauchs zu § 1546 RVO doch geprüft, aber - mit Recht - einen Ermessensmißbrauch verneint, da der Entschädigungsanspruch unbegründet sei. Diese Frage sei materiell-rechtlicher Natur. Im übrigen pflichtet der Beklagte dem angefochtenen Urteil bei.

II.

Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als es bei dem vom LSG gefällten Prozeßurteil nicht bewenden konnte.

Die Zulässigkeit der im September 1959 eingelegten Berufung ist nach § 145 Nr. 1 SGG in der Fassung des am 1. Juli 1958 in Kraft getretenen Zweiten Gesetzes zur Änderung des SGG vom 25. Juni 1958 zu beurteilen. Danach ist in Angelegenheiten der UV die Berufung nicht zulässig, wenn sie Anträge betrifft, die wegen Versäumung der Ausschlußfrist (§ 1546 RVO) abgelehnt wurden, es sei denn, daß die Ausnahmefälle des § 1547 RVO geltend gemacht werden. Die Berufung des Klägers, die vom SG mit dem bloßen Hinweis in der Rechtsmittelbelehrung nicht gemäß § 150 Nr. 1 SGG zugelassen worden war (vgl. BSG 4, 261), betraf einen Entschädigungsantrag, der wegen Versäumung der Ausschlußfrist abgelehnt wurde. Dem steht nicht entgegen, daß der Beklagte den Ablehnungsbescheid vom 24. April 1959 sowohl auf die Fristversäumnis als auch auf die Annahme gestützt hat, bei dem streitigen Unfall des Klägers habe es sich nicht um einen nach § 537 Nr. 5 RVO entschädigungspflichtigen Unfall gehandelt. Die Berufung richtete sich gegen das Urteil des SG; dieses aber hatte die Klage allein schon wegen der Versäumung der Ausschlußfrist abgewiesen. Mit Recht hat das LSG die - allerdings ziemlich unklar gefaßten - Entscheidungsgründe des SG so verstanden, daß es dem SG auf die Frage, ob der Vorgang vom 16. Oktober 1954 als entschädigungspflichtiger Unfall gelte, nicht entscheidend angekommen sei und daß das SG nur nebenher dem Kläger noch darlegen wollte, sein Entschädigungsanspruch sei auch materiell nicht begründet.

Bei der Prüfung, ob sich die Statthaftigkeit der Berufung aus dem letzten Halbsatz des § 145 Nr. 1 SGG herleiten läßt, ist das LSG mit Recht davon ausgegangen, daß diese Vorschrift die schlüssige Behauptung eines Ausnahmefalles des § 1547 RVO voraussetzt (vgl. BSG 16, 7, 10; SozR SGG § 145 Bl. Da 5 Nr. 6). Zutreffend hat das LSG auch angenommen, daß Unkenntnis der Rechtsvorschriften oder ihrer Anwendung grundsätzlich keinen außerhalb des Willens des Berechtigten liegenden Umstand im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO darstellt (vgl. BSG aaO). Dagegen pflichtet der erkennende Senat nicht dem von LSG vertretenen Standpunkt bei, unrichtige Rechtsauskünfte könnten eine Verhinderung im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO nur bewirken, wenn sie dem Berechtigten von einem Versicherungsamt oder einem UV-Träger erteilt worden seien. Diese Auslegung ist zu eng.

In der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA) ist eine Verhinderung des Berechtigten an der rechtzeitigen Anmeldung durch außerhalb seines Willens liegende Verhältnisse anerkannt worden, wenn ihn zur Auskunftserteilung berufene Personen oder Dienststellen durch unrichtige Rechtsbelehrungen von der Verfolgung seiner Ansprüche abgehalten haben (vgl. EuM 21, 381, 386; RVO-MitglKomm Bd. 1, 2. Aufl. Anm. 7 zu § 1547). Der Kreis der "berufenen" Auskunftsstellen ist nicht - wie das LSG angenommen hat - auf die in § 1549 Abs. 1 RVO aufgeführten Versicherungsämter und UV-Träger beschränkt; denn § 1549 RVO bedeutet lediglich eine Ergänzung des § 1546 RVO und steht insofern allerdings der von der Revision vorgetragenen weiteren Auslegung des Begriffs "Versicherungsträger" in § 1546 Abs. 1 Satz 1 RVO entgegen. Hiervon wird indessen der Kreis der für § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO in Betracht kommenden Auskunftstellen nicht berührt. Vielmehr ist dieser Kreis unter dem Gesichtspunkt abzugrenzen, daß es sich um Stellen handeln muß, die vermöge ihrer nahen Beziehung zur Feststellung der Unfallentschädigung allgemein geeignet erscheinen, dem Verletzten oder Hinterbliebenen fachkundige und deshalb zuverlässige Belehrungen zu erteilen. Das RVA hat dieses Erfordernis nicht als erfüllt angesehen bei einem vom Verletzten konsultierten Rechtsanwalt (vgl. EuM aaO). Polizeidienststellen und auch - entgegen der von der Revision vertretenen Ansicht - die ordentlichen Gerichte können im Hinblick auf ihre die UV allgemein nicht berührenden Funktionen gleichfalls nicht ohne weiteres als berufene Auskunftstellen angesehen werden. Anders verhält es sich hingegen mit den Trägern der Krankenversicherung. Zwar wird durch eine Anspruchsanmeldung bei der Krankenkasse der Ablauf der Anmeldefrist nicht unterbrochen (RVA EuM 15, 361), wohl aber kann eine unrichtige Belehrung, welche die Krankenkasse dem Verletzten erteilt hat, eine Verhinderung der rechtzeitigen Anmeldung durch außerhalb seines Willens liegende Verhältnisse bedeuten. Eine Krankenkasse ist nämlich als maßgebliche Auskunftstelle für Fragen der Unfallentschädigung anzusehen, da sie in vielfacher Hinsicht mit dem Träger der UV auf diesem Aufgabengebiet eng zusammenarbeitet. Abgesehen von der ihr gesetzlich eingeräumten Prozeßstandschaft (§ 1511 RVO, vgl. BSG 7, 195) ist sie insbesondere dadurch zur verantwortlichen Mitwirkung im Aufgabenbereich der UV berufen, daß sie die Träger der UV bei der Durchführung der UV zu unterstützen (§ 1501 RVO) und ihnen Erkrankungsfälle anzuzeigen hat, sobald anzunehmen ist, daß die Krankheiten Folgen von Arbeitsunfällen sind (§ 1503 Abs. 1 RVO); dies setzt voraus, daß die Krankenkasse selbständig beurteilt, ob der zur Erkrankung führende Sachverhalt die rechtlichen Merkmale eines unter UV-Schutz stehenden Unfalls aufweist. Auch in den Bestimmungen des RVA über die Unterstützungspflicht der Krankenkassen gegenüber den Trägern der UV vom 19. Juni 1936 (AN 1936, 195) ist diese Einbeziehung der Krankenkassen in die Durchführung der UV-Entschädigung deutlich zum Ausdruck gelangt (vgl. insbesondere §§ 2 und 3 aaO). Angesichts dieser engen Beziehungen zum Tätigkeitsbereich der UV ist in einer Krankenkasse grundsätzlich eine berufene Stelle zu erblicken, auf deren Auskunft zu Fragen der Unfallentschädigung sich der bei ihr ratsuchende Versicherte im allgemeinen verlassen darf. Ob dies auch für Auskünfte sonstiger "Sozialleistungsträger" (so Rohwer-Kahlmann, SGG-Komm., Anm. 18 zu § 145) gilt, braucht aus Anlaß dieses Falles nicht geprüft zu werden.

Zu Unrecht hat somit das LSG dem Vorbringen des Klägers im Verfahren des ersten und zweiten Rechtszugs, er sei von der Bundesbahn-Betriebskrankenkasse falsch belehrt worden, von vornherein keine Bedeutung bei der Prüfung des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO beigelegt. Die Revision hebt insoweit zutreffend die Ausführungen des Klägers in seinem Schriftsatz vom 10. Juni 1959 hervor, mit denen der Kläger behauptet hatte, der Sachbearbeiter der Krankenkasse habe ihm erklärt, die Beantragung einer Rente sei nicht möglich, zunächst müsse der Kläger den Ausgang des Strafverfahrens abwarten und dann gegebenenfalls den Täter für den Schaden haftbar machen. In diesem Vorbringen hätten die Tatsacheninstanzen die schlüssige Behauptung eines Ausnahmefalls nach § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO erblicken müssen. Sie wären hierdurch veranlaßt gewesen, nähere Ermittlungen anzustellen über Zeitpunkt, Inhalt und Tragweite des vom Kläger angegebenen Gesprächs mit dem Sachbearbeiter der Krankenkasse. Erst danach konnte beurteilt werden, ob der Kläger mit Erfolg eine Verhinderung im Sinne des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO geltend gemacht hat. Die Statthaftigkeit der Berufung auf Grund des § 145 Nr. 1 letzter Halbsatz SGG mußte jedoch schon auf Grund der schlüssigen Behauptung des Klägers bejaht werden.

Die Revision ist somit begründet, ohne daß es noch einer Stellungnahme zu den übrigen Revisionsvorbringen bedarf. Denn es erscheint nicht ausgeschlossen, daß das LSG, wenn es die Berufung des Klägers als statthaft behandelt, auch in der Sache selbst zu einem dem Kläger günstigeren Ergebnis gelangt.

Dem Senat war eine Entscheidung in der Sache selbst mangels ausreichender Feststellungen nicht möglich; die Sache mußte daher an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG); diesem wird auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens obliegen.

 

Fundstellen

NJW 1964, 612

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge