Leitsatz (amtlich)

Die Berufung darauf, daß der Entschädigungsanspruch durch die Versäumung der Anmeldefrist des RVO § 1546 ausgeschlossen sei, ist jedenfalls dann kein Rechtsmissbrauch, wenn der verspätet geltend gemachte Anspruch nicht offensichtlich berechtigt ist und die Berufung auf den Ausschluss des Anspruchs auch nicht auf sachfremden Erwägungen beruht.

 

Normenkette

RVO § 1546 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 22. April 1954 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Der Kläger machte mit einem am 18. Dezember 1950 beim Beklagten eingegangenen Schreiben vom 15. Dezember 1950 Entschädigungsansprüche geltend. In diesem Schreiben behauptete er, dass er 1941 bei der Müllabfuhr der Stadt K... tätig gewesen sei und sich dabei eine Verletzung des linken Auges zugezogen habe, die von dem Augenarzt Dr. J... behandelt worden sei. Er sei auf diesem Auge völlig erblindet.

Der Beklagte führte Ermittlungen bei der Stadtverwaltung K... und der Krankenkasse durch und ließ auch Zeugen durch das Versicherungsamt vernehmen. Durch Bescheid vom 27. August 1951 lehnte er den Entschädigungsanspruch in erster Linie mit der Begründung ab, ein entschädigungspflichtiger Arbeitsunfall sei nicht bewiesen. Der letzte Satz der Begründung lautet: "Im übrigen sind Ihre Ansprüche auch verjährt".

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung eingelegt. Zur Begründung für die verspätete Geltendmachung des Anspruchs hat er ausgeführt, er sei erst jetzt aufgeklärt worden und habe infolge der damals bestehenden Kriegsjahre keinen Antrag gestellt. Der Berufung ist eine Bescheinigung des St. Antonius-Hospitals in Kleve vom 30. August 1951 beigefügt, nach der sich der Kläger vom 18. April bis zum 19. Mai 1942 wegen einer Augenverletzung in stationärer Behandlung des Hospitals befunden hat. Nach dieser Bescheinigung sind Krankenpapiere oder sonstige Unterlagen nicht mehr vorhanden.

Das Oberversicherungsamt (OVA.) Düsseldorf hat durch Urteil vom 17. Dezember 1951 die Berufung zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Frist des § 1546 der Reichsversicherungsordnung (RVO) sei am 31. Dezember 1947 abgelaufen (Gesetz vom 15.1.1941, Sozialversicherungsanordnung - SVA - Nr. 10). Innerhalb dieser Frist habe der Kläger den Entschädigungsanspruch nicht angemeldet. Eine neue Folge, insbesondere eine Verschlimmerung, sei nicht eingetreten, und der Kläger sei auch nicht durch außerhalb seines Willens liegende Umstände an der Anmeldung verhindert gewesen. Die Entschädigung habe deshalb schon, weil der Anspruch verspätet angemeldet worden sei, abgelehnt werden müssen. Im übrigen fehle es aber auch an einem ausreichenden Nachweis dafür, daß sich der Unfall bei der Arbeit ereignet habe.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger beim Landesverwaltungsgericht (LVG.) Düsseldorf Klage erhoben. Der Kläger hat Beweis dafür angeboten, daß der Unfall sich tatsächlich ereignet habe, und im übrigen vorgebracht: Die Stadtverwaltung habe den Unfall in der vorgeschriebenen Form gemeldet; außerdem habe er selbst häufig bei der Stadtverwaltung vorgesprochen, sei aber immer wieder damit vertröstet worden, daß die Angelegenheit schon in Ordnung gehen werde.

Auf Grund eines Aufklärungsbeschlusses des Gerichts hat der Kläger nochmals ausführlich dargelegt: Er habe angenommen, daß die Verzögerung in der Bearbeitung durch den Versicherungsträger auf den Krieg zurückzuführen sei; er habe nur die Hilfsschule besucht und scheue jede Vorsprache bei Behörden. Gegen Ende des Krieges hätten auch tatsächlich so große Schwierigkeiten in der Bearbeitung bestanden, daß die einstweilige Nichterledigung glaubhaft habe erscheinen müssen. Nach der Besetzung Kleves durch die Alliierten habe der Kläger ein gutes Einkommen und vor allem genügend Verpflegung bei der Besatzungsmacht gehabt. Er habe auch geglaubt, daß er später wieder bei der Stadtverwaltung angestellt würde. Weil er während dieser Zeit auf eine Rente nicht sehr angewiesen gewesen sei und bei der Stadtverwaltung die Arbeit wieder habe aufnehmen wollen, habe er die Stadtverwaltung nicht verärgern wollen und das Rentenverfahren erst dann betrieben, als er von der Militärverwaltung entlassen und von der Stadtverwaltung nicht mehr eingestellt worden sei.

Durch Urteil vom 22. Januar 1953 hat das LVG. den Bescheid des Beklagten vom 27. August 1951 aufgehoben und den Beklagten für verpflichtet erklärt, dem Kläger die beantragte Rente vom 1. Januar 1951 an in der ihm gesetzlich zustehenden Höhe zu gewähren. Im übrigen hat es die Klage abgewiesen.

Zur Begründung hat das LVG. ausgeführt: Auf Grund der im Verfahren vor dem LVG. erstatteten Aussagen der Ehefrau, der Zeugen H... J..., Dr. J... und J... J... sei ein geschlossener Verlauf des Unfalls glaubhaft geschildert. Demgegenüber habe die Bekundung des Zeugen L... nicht ins Gewicht fallen können, die Aussage H... sei ohne entscheidende Bedeutung, und der Zeuge W... sei anscheinend in seiner Aussage stark gehemmt gewesen. Aber auch aus seiner Aussage, die vom Zeugen H... in diesem Punkt bestätigt werde, ergebe sich eindeutig die Wahrscheinlichkeit des vom Kläger behaupteten Arbeitsunfalls, da häufig die Böden der Tonnen defekt und mit Pappe beklebt gewesen seien. Die Frist des § 1546 RVO sei am 31. Dezember 1947 verstrichen gewesen. Die Voraussetzungen für eine Anwendung des § 1547 RVO seien nicht gegeben. Jedoch sei die Berufung des Beklagten auf diesen Fristablauf ermessensmißbräuchlich (MRVO Nr. 165 § 23 Abs. 3; Reichsversicherungsamt (RVA.) in AN. 1928 S. 330). In dem Verhalten des Klägers bis zur Antragstellung liege jedoch ein Verzicht, so daß die Klage für die Zeit vor der Antragstellung abgewiesen werden müsse.

Gegen dieses Urteil haben der Kläger und der Beklagte Berufung eingelegt. Der Kläger hat sich gegen das Urteil gewandt, soweit es den Anspruch für die Zeit vom 1. Juli 1948 bis zum 31. Dezember 1950 verneint hat. Der Beklagte hat vorgebracht, die Empfehlung des RVA. in AN. 1928 S. 330 sei keine Rechtsmaxime für die Gerichte, sondern nur eine aufsichtsrechtliche Empfehlung, im übrigen sei der Unfall auch nicht bewiesen.

Durch Entscheidung vom 9. Oktober 1953 hat das Oberverwaltungsgericht (OVG.) für das Land Nordrhein-Westfalen das Urteil des LVG. Düsseldorf vom 22. Januar 1953 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Berufung, an das LVG. Düsseldorf zurückverwiesen. Zur Begründung hat das OVG. ausgeführt: Sei der Klage ein Verfahren vorausgegangen, in dem als letzte Instanz das OVA. zur Entscheidung zuständig gewesen sei, so sei die Klage gegen dieses Amt zu richten. Die Klage müsse deshalb abgewiesen werden, weil sie gegen den falschen Beklagten gerichtet sei. Eine Klageänderung sei im Berufungsverfahren nur mit Einwilligung des bisherigen Beklagten zulässig (MRVO Nr. 165 § 87). Da der bisherige Beklagte seine Einwilligung verweigert habe, sei dieser der Klage anhaftende Mangel im Berufungsverfahren nicht mehr heilbar. Das müsse zur Zurückverweisung an die Vorinstanz führen. In dem neuen Verfahren sei der bisherige Beklagte beizuladen, da ihm durch das vom Kläger verlangte Urteil Pflichten auferlegt werden sollten.

Nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ist die Sache auf das Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen übergegangen (§ 215 Abs. 7 SGG). In diesem Verfahren hat der Anwalt des Klägers eine ärztliche Bescheinigung des Dr. N... vom 5. März 1954 vorgelegt: Der Kläger stehe seit mehreren Jahren wegen nervöser Störungen (Debilität und Sprachstörungen auf dem Boden einer Hysterie) in Behandlung. Er sei aus diesem Grunde unmöglich in der Lage, sich vor Gericht selbst zu verteidigen.

Durch Urteil vom 22. April 1954 hat das LSG. die Berufung zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Das Urteil ist beiden Beteiligten am 14. Mai 1954 zugestellt worden.

Zur Begründung hat das LSG. ausgeführt: Beim Inkrafttreten des SGG sei die Sache wieder beim LVG. rechtshängig gewesen und infolgedessen nach § 215 Abs. 7 SGG als Berufung auf das LSG. übergegangen. Die Berufung sei zulässig, da der Kläger sich darauf berufen habe, daß die Fristversäumnis durch die damaligen kriegsbedingten Zeitverhältnisse sowie seine geistige Unbeholfenheit und die dadurch bedingte Scheu im Verkehr mit den Behörden eingetreten sei.

Entsprechend den Ausführungen des LVG. sei ein Arbeitsunfall des Klägers vom 18. April 1942 mit der Folgewirkung der Erblindung des linken Auges zumindest im Sinne der wesentlich mitwirkenden Teilursache als erwiesen anzusehen. Allerdings müsse dem Beklagten darin gefolgt werden, daß der Kläger die Ausschlußfrist des § 1546 RVO versäumt habe. Die Frist sei frühestens mit Ablauf des auf das Kriegsende folgenden Kalenderjahres abgelaufen (§ 2 des Gesetzes vom 15.1.1941 - RGBl. I S. 34). Das Kriegsende sei durch die SVA Nr. 10 auf den 31. Dezember 1946 festgesetzt worden. Der Kläger habe nicht nachweisen können, daß vor dem Schreiben vom 15. Dezember 1950 der Versicherungsträger auf Leistungen angegangen worden sei. Es habe nicht einmal der Nachweis erbracht werden können, daß der Beklagte eine Unfallanzeige erhalten habe. Der Kläger habe angenommen, daß das Krankenhaus seine Rentensache betreibe. Die Ehefrau habe ausgesagt, daß er wegen des guten Einkommens bei der Besatzungstruppe eine Unfallrente nicht verlangt habe, sondern daß sich der Kläger erst nach Eintritt seiner Arbeitslosigkeit im Jahre 1949 entschlossen habe, den Rentenanspruch zu verfolgen. Die Vorstellungen der Ehefrau bei der Stadtverwaltung K... reichten nicht aus, um die Frist des § 1546 RVO zu wahren. Bei einem anderen Träger der Unfallversicherung sei der Anspruch unstreitig nicht angemeldet worden. Bei der Stadtverwaltung sei kein Versicherungsamt eingerichtet gewesen. Es habe sich lediglich um Anregungen an den Arbeitgeber gehandelt, sich der Unfallsache anzunehmen. Der Beklagte habe dagegen den Nachweis geführt, daß er bis 1950 keine Kenntnis vom Unfall erhalten habe. Sein Unfallregister sei vollständig erhalten. Selbst wenn nur die Krankenkasse eine Mitteilung nach §§ 1503 oder 1509 RVO gemacht hätte oder ein Arztbericht eingegangen wäre, würde ein Vermerk im Unfallregister eingetragen worden sein. Daß die Stadt keine Unfallanzeige erstattet habe, werde schon dadurch belegt, daß in der Lohnliste die Krankfeierzeit nicht als Unfallfolge ausgewiesen sei. Auf § 1547 RVO könne sich der Kläger nicht berufen. Die Unfallfolgen hätten sich in den letzten drei Monaten vor der Anmeldung nicht verändert. Es sei auch kein Grund dafür ersichtlich, daß der Kläger durch außerhalb seines Willens liegende Verhältnisse an der rechtzeitigen Anmeldung verhindert worden sei. Seine geistige Schwerfälligkeit und die vorgebrachte Scheu im Verkehr mit den Behörden seien keine von den betreffenden gesetzlichen Bestimmungen erfaßte Hindernisse. Schon eine Postkarte an den Beklagten hätte ausgereicht, die Frist zu wahren. Bei dem durch gerichtlichen Augenschein festgestellten Grad an Intelligenz sei dem Kläger auch durchaus zuzumuten, eine solche Meldung an den Beklagten zu richten oder durch seine Ehefrau oder andere Personen richten zu lassen, was er ja auch später mit dem Schreiben vom 15. Dezember 1950 getan habe. Es sei vielmehr anzunehmen, daß die verhältnismäßig günstige Arbeitsentlohnung den Kläger davon abgehalten habe, neben dem uneingeschränkten Arbeitsentgelt noch zusätzlich Rente zu begehren; der Kläger habe sich seiner Rentenansprüche erst erinnert, als die Arbeitslosigkeit geldliche Schwierigkeiten gebracht habe.

Die Geltendmachung des § 1546 RVO sei kein Ermessensmißbrauch.

Die Empfehlung des RVA. (AN. 1928 S. 330) könne nicht so gedeutet werden, daß eine Nichtbefolgung einen rechtswidrigen Verstoß gegen gesetzliche Bestimmungen darstelle. Abgesehen davon, daß nach Ansicht des Beklagten der Unfall selbst heute noch nicht erwiesen sei, könne die Verweisung auf eine vom Gesetzgeber bestimmte Rechtseinschränkung nicht als ermessensmißbräuchlich und damit nicht als rechtswidrig angesehen werden. Die gegenteilige Auffassung bedeute einen Widerspruch in sich. Mit der Empfehlung habe das RVA. den Versicherungsträgern kein Recht nehmen können und wollen, sondern es habe ihnen lediglich nahegelegt, eine Rechtslage trotz formaler Berechtigung nicht auszunutzen, wenn sie selbst überzeugt seien, daß damit sachlich gerechtfertigte Ansprüche verkürzt würden. So wie bei fehlerhafter Anspruchsfeststellung nach § 619 RVO eine neue Feststellung zu Gunsten des Versicherten möglich sei, so solle auch durch diese Empfehlung bei einer Nichtfeststellung trotz § 1546 RVO eine Feststellung ermöglicht werden, wenn die Berufsgenossenschaft selbst die sachliche Voraussetzung für eine Entschädigungsleistung für gegeben halte. Dazu genüge aber nicht ohne weiteres, daß andere Stellen die Sachlage so würdigten oder daß nach Bescheiderteilung durch neu zugänglich werdende Beweismittel eine solche Beurteilung möglich werde. Es sei nicht Aufgabe des Richters, zunächst beweiswürdigend den Unfall für erwiesen anzusehen und dann dem Versicherungsträger Ermessensmißbrauch vorzuwerfen, wenn dieser mit der Beurteilung aus ernsthaften Überlegungen nicht übereinstimme. Die Empfehlung des RVA. sei eben nur eine aufsichtsbehördliche Empfehlung: Es müsse deshalb aufsichtsbehördlicher Erwägung anheimgestellt bleiben, ob im Einzelfall der Empfehlung Nachdruck verliehen werden solle.

Gegen das Urteil des LSG. hat der Kläger mit Schriftsatz vom 19. Mai 1954, der am 24. Mai 1954 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen ist, Revision eingelegt und sie in diesem Schriftsatz zugleich auch begründet. Er beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Verpflichtung des Beklagten festzustellen, an den Kläger die gesetzlichen Leistungen für den Unfall aus dem Jahre 1942 zu erbringen.

Zur Begründung führt er aus: Der Kläger habe in den ersten Jahren nach dem Kriege weder bei der Stadtverwaltung noch beim Krankenhaus irgendwelche Feststellungen treffen können. Erst am 27. November 1951 habe er eine Bescheinigung über seinen Krankenhausaufenthalt im Jahre 1942 erhalten können. Unter Berücksichtigung dieser durch die Kriegsverhältnisse gegebenen Umstände, der geistigen Schwerfälligkeit des Klägers und der begründeten Annahme, der Unfall sei von der Stadtverwaltung gemeldet worden, seien die Voraussetzungen des § 1547 Nr. 2 RVO gegeben. Der Kläger habe annehmen können, daß eine Verfolgung seiner Ansprüche ohne entsprechende Beweise zwecklos sei. Die Stellungnahme des Beklagten, daß er von dem Vorliegen eines Unfalls nicht überzeugt sei, halte er für unverständlich. Der Beklagte dürfe deshalb den Einwand des Fristablaufs nicht geltend machen. Er könne die Anweisung des RVA. nicht dadurch umgehen, daß er behaupte, er sei nicht davon überzeugt, daß ein Betriebsunfall vorliege. Wenn die Anweisung des RVA. einen Sinn haben solle, müsse sie auch erzwingbar sein. Nach der Vorbildung des Klägers und der ärztlichen Bescheinigung (Dr. N...) sei zweifelhaft, ob der Kläger geschäftsfähig sei. Das LSG. hätte Feststellungen über die Geschäftsfähigkeit durch fachärztliche Untersuchung treffen müssen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Sachliche Ausführungen hat er nicht gemacht.

Auf Grund eines Beschlusses vom 9. Mai 1958 ist von der Rheinischen Landesheilanstalt B... (Landesobermedizinalrat, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Dr. H...) ein Gutachten vom 20. Juni 1958 erstattet worden, ob der Kläger unter einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit leidet und ob er sich im Jahre 1947 bereits in einem solchen Zustand befunden hat. Landesobermedizinalrat Dr. H... ist in diesem Gutachten, das den Parteien zugestellt worden und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist, zu folgendem Ergebnis gekommen: Heinrich T... leide an einem angeborenen Schwachsinn leichten Grades Debilität), dessen Grenzen zur physiologischen Dummheit oder Beschränktheit verwaschen seien. Er leide nicht unter einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit und habe sich auch im Jahre 1947 nicht in einem solchen Zustand befunden.

II

Die Revision ist durch Zulassung (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG), also zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Prozeßbevollmächtigte des Klägers hat Zweifel hinsichtlich der Geschäftsfähigkeit des Klägers geäußert und überdies ausdrücklich gerügt, daß das LSG. hierüber keine fachärztliche Untersuchung veranlaßt habe. Da die Zweifel darüber, ob der Kläger prozeßfähig ist (vgl. § 71 Abs. 1 SGG), auch in dem während des Verfahrens vor dem LSG. eingereichten ärztlichen Zeugnis des Dr. N... vom 5. März 1954 eine Stütze finden, hat der erkennende Senat sich veranlaßt gesehen, diese Zweifel durch eine Untersuchung des Klägers zu klären (vergl. auch § 56 ZPO). In dem auf einer eingehenden Untersuchung des Klägers beruhenden Gutachten des Landesobermedizinalrats Dr. F... ist mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß der Kläger zwar an einem angeborenen Schwachsinn (Debilität) leide, es sich dabei aber nur um einen leichten Grad des Schwachsinns handele, der keine so schwere krankhafte Störung der Geistestätigkeit sei, daß dadurch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen werde. Der Gutachter hat insbesondere ausdrücklich betont, daß bei der Beurteilung des Schwachsinngrades neben den theoretischen Kenntnissen auch die Charakter- und Triebäußerungen, das soziale Verhalten, die Berufsausübung und die Erledigung der Lebensaufgaben eine Rolle spielen, und in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, der Kläger habe in dieser Beziehung nicht versagt, sondern eine Familie gegründet und regelmäßig gearbeitet und sei auch niemals der Fürsorge zur Last gefallen. Der Gutachter hat auch ausdrücklich ausgeführt, daß der Kläger über Fragen des öffentlichen und sozialen Lebens genügend unterrichtet sei, um zu wissen, daß Ansprüche aus einem Arbeitsunfall durch eine Meldung geltend gemacht werden müssen. Auf Grund dieses Gutachtens, gegen das von den Beteiligten keine Einwendungen vorgebracht worden sind, sieht der erkennende Senat als erwiesen an, daß der Kläger prozeßfähig (§ 71 Abs. 1 SGG, §§ 104 Nr. 2, 105 Abs. 1 BGB) ist und auch während des gesamten Verfahrens prozeßfähig war. Das Verfahren des LSG. leidet also insoweit nicht an einem Mangel. Im übrigen sind von der Revision keine Verfahrensmängel gerügt worden.

Das LSG. hat auch ohne Rechtsirrtum das Vorliegen des Berufungsausschließungsgrundes des § 145 Nr. 1 SGG verneint, da der Kläger insbesondere schlüssig vorgebracht hat, er sei durch seine geistige Unbeholfenheit an der rechtzeitigen Geltendmachung seines Anspruchs verhindert gewesen (vgl. Urteil des erkennenden Senats vom 30.7.1958, SozR. SGG § 145 Bl. Da 5 Nr. 6).

Wie das LSG. zutreffend ausgeführt hat, ist die Frist des § 1546 Abs. 1 RVO im Falle des Klägers mit dem 31. Dezember 1947 abgelaufen (§ 2 des Gesetzes vom 15.1.1941 - RGBl. I S. 34; SVA Nr. 10 vom 24.6.1947 - ArbBl. f.d.brit. Zone S. 234). Nach den Feststellungen des LSG. (vgl. § 163 SGG) ist nicht nachweisbar, daß der Kläger vor diesem Zeitpunkt Ansprüche bei dem Beklagten oder einer der in § 1549 Abs. 1 RVO aufgeführten Stellen geltend gemacht hat. Es ist vielmehr nicht einmal nachweisbar, daß der Beklagte von dem behaupteten Unfallereignis durch eine Unfallanzeige, eine Mitteilung der Krankenkasse oder einen Arztbericht Kenntnis erhalten hat. Das LSG. hat zutreffend ausgeführt, daß die wiederholten Vorstellungen der Ehefrau des Klägers bei der Stadtverwaltung K... in der Zeit nach dem Unfall nicht geeignet waren, die Anmeldefrist zu wahren, weil bei dieser Stadtverwaltung kein Versicherungsamt (vergl. § 1549 RVO) errichtet war, die Stadtverwaltung vielmehr mit dieser Angelegenheit lediglich in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber befaßt gewesen ist.

Das LSG. hat auch ohne Rechtsirrtum die Frage verneint, ob das Vorbringen des Klägers die Anwendung des § 1547 Abs. 1 Nr. 2 RVO rechtfertige. Das LSG. hat darauf hingewiesen, daß den Kläger in erster Linie die günstigen Arbeitsbedingungen während der Beschäftigung bei der Besatzungsmacht davon abgehalten haben, sich um seine Entschädigungsansprüche zu kümmern, und daß der Kläger sich dieser Ansprüche erst erinnert hat, als er durch Arbeitslosigkeit in geldliche Schwierigkeiten geriet. Nach den Feststellungen des LSG. war der Kläger durch den geringen Grad seiner Intelligenz nicht verhindert, seine Ansprüche gegenüber dem Beklagten noch vor dem Ablauf der Frist durch eine Meldung oder mahnende Anfrage einfachster Art geltend zu machen.

Eine Anwendung des § 1547 Abs. 1 Nr. 1 RVO scheidet schon nach dem eigenen Vorbringen des Klägers aus.

Das LSG. ist also ohne Rechtsirrtum und ohne Verfahrensfehler zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger die Anmeldefrist des § 1546 RVO versäumt hat.

Da der Beklagte sich von vornherein auch auf diese Fristversäumnis berufen hat, bedarf es im vorliegenden Falle keiner Ausführungen darüber, daß der Ablauf der Frist des § 1546 RVO von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht von Amts wegen zu berücksichtigen ist.

Die Entscheidung hängt vielmehr davon ab, ob das LSG. ohne Rechtsirrtum die Berechtigung des Beklagten bejaht hat, sich auf den Ausschluß der Entschädigungsansprüche zu berufen. Die Ausführungen des LSG. zu dieser Frage könnten allerdings dahin verstanden werden, daß das LSG. eine Berufung auf den Ausschluß des Anspruchs selbst dann nicht als einen Rechtsmißbrauch ansehen will, wenn der Versicherungsträger den Anspruch an sich für berechtigt hält. Eine solche Auslegung, die es lediglich auf die formale Berechtigung des Einwands abstellt, würde der Bedeutung des § 1546 RVO und seiner Stellung im Leistungsrecht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht gerecht werden. Das LSG. verkennt möglicherweise, daß die Ausführungen im Runderlaß des RVA. vom 28. September 1928 (AN. 1928 S. 330) nicht nur aufsichtsrechtliche Empfehlungen enthalten, die auf Billigkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen beruhen, sondern zugleich auch Ausdruck einer unmittelbar aus der Auslegung der §§ 1546 ff. RVO gewonnenen Rechtsauffassung sind, die bei deren Auslegung zu berücksichtigen ist.

Danach hat der Gesetzgeber mit diesen Vorschriften den Zweck verfolgt, den Versicherungsträger gegen unberechtigte Ansprüche zu schützen (vgl. zu § 59 des Unfallversicherungsgesetzes vom 6.7.1884, AN. 1916 S. 501 "gegen frivole Ansprüche"), d.h. der Versicherungsträger soll dagegen geschützt werden, daß er Ansprüche befriedigen muß, deren Grundlagen infolge des Zeitablaufs nur noch unvollständig aufgeklärt werden können, die sich aber unter Umständen als unberechtigt erwiesen hätten, wenn die erforderlichen Ermittlungen in der ersten Zeit nach dem behaupteten Unfallereignis durchgeführt worden wären. Dagegen sollen die Vorschriften kein Mittel sein, die Geltendmachung offensichtlich berechtigter Ansprüche von vornherein unmöglich zu machen. Diese Auslegung, für die sich das RVA. auf die Entstehungsgeschichte beruft, läßt sich zwar nicht unmittelbar dem Gesetzeswortlaut entnehmen, entspricht aber nach der Auffassung des erkennenden Senats sowohl der Zielsetzung des Leistungsrechts der gesetzlichen Unfallversicherung als auch dem sozialen Prinzip, von dem das Recht der Bundesrepublik mitbestimmt ist (vgl. Art. 20 Abs. 1 GG). Dabei ist auch zu berücksichtigen, daß es sich bei den Fristen des § 1546 RVO um Ausschlußfristen des materiellen Rechts handelt und nicht um Fristen des Prozeßrechts (vgl. SozR. RVO § 1546 Bl. Aa 1 Nr. 1), bei denen der gesetzgeberische Zweck im Vordergrund steht, klare Verhältnisse für die Inanspruchnahme der Gerichte und das Verfahren vor ihnen zu schaffen.

Rechtsprechung und Schrifttum nach dem Kriege sind auch überwiegend dieser Auslegung gefolgt und haben aus ihr die Berechtigung hergeleitet, eine Berufung des Versicherungsträgers auf den Ausschluß des Anspruchs daraufhin nachzuprüfen, ob sie mit dem gesetzgeberischen Zweck der Ausschlußfristen in Einklang steht (vgl. z.B. Übersicht bei Schroeder-Printzen in BG. 1955 S. 516; sowie Weiß in SGb. 1954 S. 45, Anm. zu einem Urteil des LSG. Nordrhein-Westfalen vom 24.3.1954; LSG. Schleswig vom 2.3.1954 in SGb. 1955 S. 19 mit Anm. von Schieckel).

Es kann im vorliegenden Fall dahingestellt bleiben, ob es sich hierbei um einen Fall der Ermessensnachprüfung (vgl. § 54 Abs. 2 SGG) handelt oder ob die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Berufung auf den Ablauf der Anmeldefrist unmittelbar aus der Auslegung des § 1546 RVO hergeleitet werden muß (vgl. hierzu Haueisen in NJW. 1957 S. 729). Im vorliegenden Fall wird vom Kläger nicht vorgebracht, daß der Beklagte sich zur Berufung auf den Ausschluß des Anspruchs durch unsachliche - etwa auf einer ungünstigen Einstellung dem Kläger persönlich gegenüber beruhende - oder sonstige sachfremde Gründe habe bestimmen lassen. Die Revision beruft sich vielmehr insoweit ausschließlich darauf, daß der Entschädigungsanspruch des Klägers sachlich begründet sei.

Das RVA. hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß durch seine Auslegung der §§ 1546 ff. RVO deren Anwendung "nicht aufgehoben" werde (EuM. Bd. 25 S. 468 [470]). Solange der Gesetzgeber neben der Verjährung des Anspruchs auf die einzelnen Leistungen (vgl. § 29 Abs. 3 RVO) eine besondere Anmeldefrist für erforderlich hält, deren Versäumung den Entschädigungsanspruch selbst ausschließt, darf diese Ausschlußfrist von der Rechtsprechung nicht im Wege der Auslegung völlig unwirksam gemacht werden. Vielmehr sind nach der Auffassung des erkennenden Senats strenge Anforderungen an die Voraussetzungen zu stellen, unter denen eine Berufung auf diesen Fristablauf als mißbräuchlich bezeichnet werden kann. Wenn allerdings die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs außer Zweifel stünde, läge es nahe, in der Berufung auf den Fristablauf einen Mißbrauch zu sehen.

Der erkennende Senat stimmt andererseits mit dem LSG. darin überein, daß es nicht Aufgabe der Gerichte ist, erst durch umfangreiche Ermittlungen über die vom Versicherungsträger bestrittenen Anspruchsvoraussetzungen Beweis zu erheben und dann je nach dem Ergebnis der Beweiswürdigung den Anspruch für begründet und die Berufung auf den Ausschluß für mißbräuchlich oder den Anspruch für unbegründet und die Berufung auf den Ausschluß für berechtigt zu erklären. In welchem Umfang dem Versicherungsträger aber Ermittlungen zuzumuten sind, bevor er sich entschließt, den Einwand des Ausschlusses zu erheben, und ob und inwieweit ergänzende Ermittlungen der Gerichte erforderlich sind und ihr Ergebnis für die Entscheidung über die Rechtswirksamkeit der Berufung auf den Fristablauf zu berücksichtigen ist, kann im vorliegenden Falle dahingestellt bleiben. Der Beklagte hatte vor Erteilung des ablehnenden Bescheides Ermittlungen angestellt und insbesondere die vom Kläger benannten Zeugen durch das Versicherungsamt vernehmen lassen. Außerdem hat das LVG. Düsseldorf nochmals Zeugen vernommen, deren Aussagen das LSG. im Tatbestand des angefochtenen Urteils ausführlich wiedergegeben und bei seiner Entscheidung berücksichtigt hat. Das LSG. hat diese Beweise zwar gewürdigt, aber keine genauen Feststellungen darüber getroffen, was seiner Auffassung nach hinsichtlich des Unfallhergangs und der weiteren Entwicklung der Augenschädigung als erwiesen anzusehen ist. Es hat vielmehr nur zum Ausdruck gebracht, daß es "einen Arbeitsunfall vom 18. April 1942 ... mit der Folgewirkung der Erblindung des linken Auges zumindest im Sinne der wesentlich mitwirkenden Teilursache" als erwiesen angesehen hätte, wenn es über diese tatsächlichen Anspruchsvoraussetzungen zu entscheiden gehabt hätte. Das bedeutet jedoch nicht, daß nach der Auffassung des LSG. die sachliche Berechtigung des verspätet geltend gemachten Anspruchs offenkundig, d.h. praktisch unzweifelhaft sei. Das LSG. hat nicht nur im Tatbestand des Urteils darauf hingewiesen, daß der Beklagte auch in der mündlichen Verhandlung mit näherer Begründung an seinem Standpunkt festgehalten hat, der behauptete Unfall sei nicht erwiesen. Es hat vielmehr in den Entscheidungsgründen die hierfür maßgebenden Erwägungen des Beklagten als "ernsthafte", d.h. also als durchaus berücksichtigenswerte Überlegungen bezeichnet.

Das LSG. hat deshalb ohne Rechtsirrtum entschieden, daß die Berufung des Beklagten auf den Ausschluß des Entschädigungsanspruchs nach § 1546 RVO kein Rechtsmißbrauch ist. Die Revision war als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 SGG).

Die Kostenentscheidung ergeht in entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 88

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