Leitsatz (amtlich)

Wird eine Frist infolge einer vorübergehenden Verhinderung nicht eingehalten, weil die Restfrist für eine angemessene Überlegung und Beratung nicht ausreicht, so ist die Säumnis durch die Unmöglichkeit angemessener Beratung und Überlegung, und nur mittelbar durch die Verhinderung verursacht.

 

Normenkette

SGG § 67 Abs 1

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 26.09.1986; Aktenzeichen L 1 Ar 32/86)

SG Itzehoe (Entscheidung vom 29.01.1986; Aktenzeichen S 5 Ar 57/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klage auf Leistungen zur Förderung der beruflichen Bildung rechtzeitig erhoben wurde.

Die Beklagte bewilligte der Klägerin für deren Fortbildung zur Unterrichtsschwester für die Zeit vom 2. April 1984 bis zum 25. September 1985 ua Unterhaltsgeld (Uhg) als Darlehen. Die Klägerin begehrte mit ihrem Widerspruch Uhg als Zuschuß. Der dies ablehnende Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1985 ist gemäß der Postzustellungsurkunde vom 17. Januar 1985 an diesem Tage durch Niederlegung bei der Postanstalt Itzehoe zugestellt worden. Die Klägerin hatte zunächst ihren Wohnsitz in Itzehoe. Die Maßnahme wurde in der Werner-Schule vom Deutschen Roten Kreuz in Göttingen durchgeführt. Vom 7. Januar 1985 bis zum 1. Februar 1985 absolvierte die Klägerin am Rot-Kreuz-Krankenhaus in München ein Praktikum. Sie hatte für diese Zeit beim Postamt in Göttingen die Nachsendung ihrer Post nach Itzehoe beantragt und ihre an der angegebenen Anschrift wohnende Freundin mit der Entgegennahme beauftragt.

Zur Verspätung der am 1. März 1985 bei dem Sozialgericht (SG) Hildesheim erhobenen und an das SG Itzehoe verwiesenen Klage hat die Klägerin vorgetragen: Die von ihr beauftragte Person habe sie telefonisch informiert, daß ein Schriftstück beim Postamt Itzehoe hinterlegt und ihr - ohne Postvollmacht - nicht ausgehändigt worden sei. Sie (die Klägerin) habe beim Postamt München die Aushändigung in München beantragt. Die Nachsendung nach München habe sie dort nicht mehr erreicht und sie habe das Schriftstück am 9. Februar 1985 in Göttingen erhalten.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. Januar 1986). Die Berufung der Klägerin blieb ohne Erfolg (Urteil des Landessozialgerichts -LSG- vom 26. September 1986). Das LSG sah die Zustellung in Itzehoe als wirksam an, da die Klägerin den Schein, sie wohne in Itzehoe, gegen sich gelten lassen müsse. Die Rechtsmittelbelehrung sei zutreffend. Der Klammerzusatz "in doppelter Ausfertigung" erschwere nicht die Rechtsmitteleinlegung, da er nicht den Eindruck erwecke, der Klageschrift müsse zu ihrer Wirksamkeit eine Abschrift beigefügt werden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren. Die Klägerin sei nach ihrem eigenen Vorbringen nicht ohne Verschulden an der Einhaltung der Klagefrist verhindert gewesen. Sie habe während ihres Aufenthalts in München keine hinreichende Vorsorge dafür getroffen, daß ihr der Widerspruchsbescheid etwa dorthin zugestellt werden konnte, obwohl sie wegen des laufenden Widerspruchsverfahrens jederzeit damit hätte rechnen müssen. Aus dem Zustellungsvermerk auf der ihr am 9. Februar 1985 ausgehändigten Postsendung habe sie den Zustellungstag am 17. Januar 1985 ersehen und damit erkennen können, daß die Klagefrist bereits weitgehend abgelaufen war. Ihre Annahme, die Klagefrist habe erst mit der Aushändigung begonnen, sei leichtfertig. Die Entscheidung der Beklagten, die verspätete Klage gebe keine Veranlassung zu einer Überprüfung nach § 44 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10), sei zwar ein Verwaltungsakt. Dieser ändere aber nicht den ursprünglichen Verwaltungsakt und werde nicht Gegenstand der Klage nach § 96 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die in der mündlichen Verhandlung erfolgte Antragserweiterung auf diesen Bescheid sei eine unzulässige Klageänderung, da es an der Einwilligung der Beklagten fehle und die Klageänderung auch nicht sachdienlich sei.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 66, 67, 87 Abs 1, 93, 96 und 99 SGG. Der unrichtige Klammerzusatz in der Rechtsmittelbelehrung "in doppelter Ausfertigung" erwecke den Eindruck, daß die Klage nur in doppelter Ausfertigung eingereicht werden könne. Selbst bei Versäumung der Klagefrist habe der Klägerin nach § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden müssen. Wenn die Klägerin nicht besondere Vorkehrungen getroffen hätte, um trotz der vorübergehenden Abwesenheit von Göttingen in den Besitz ihrer Post zu kommen, wäre der Widerspruchsbescheid in Göttingen bei der Post niedergelegt worden und die Klägerin hätte dann den Bescheid bereits am 1. Februar bei ihrer Rückkehr aus München abholen können. Ihre Vorsorge dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen.

Die Klägerin beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung der entgegenstehenden Bescheide zu verurteilen, der Klägerin Uhg als Zuschuß anstatt als Darlehen zu zahlen.

Die Beklagte beantragt, die Revision der Klägerin zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Auf die Revision der Klägerin war das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Beide Vorinstanzen haben die Klage zu Unrecht wegen Versäumung der Klagefrist als unzulässig abgewiesen. Die Revision rügt zu Recht, das LSG habe selbst dann, wenn die Versäumung der Klagefrist unterstellt wird, die Klage nicht als verspätet abweisen dürfen, sondern gemäß § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewähren müssen.

Nach § 67 SGG ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Verfahrensfrist einzuhalten. Zur Auslegung des § 67 SGG hat schon der Große Senat darauf hingewiesen, daß nach allgemeiner Rechtsauffassung die Regelung des § 67 SGG für den Betroffenen günstiger ist als die der Zivilprozeßordnung (ZPO) (BSGE 38, 248, 258), und daß der betroffene Personenkreis, der vor den SGen klagt, im Regelfall als besonders schutzwürdig anzusehen ist, was nicht nur für das materielle Recht, sondern auch für das prozessuale Verfahren gelte, wobei nicht verkannt werde, daß auch das Prinzip der Rechtssicherheit zu den wesentlichen Bestandteilen des Rechtsstaates gehöre. Jedoch werde durch eine kurzfristige Verspätung die Verwirklichung des Gesetzeszweckes, in angemessener Zeit Rechtssicherheit durch Eintritt der Unanfechtbarkeit herbeizuführen, nicht erheblich beeinträchtigt oder gefährdet (aaO S 259 f). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) habe wiederholt entschieden, daß die Anforderungen zur Erlangung der Wiedereinsetzung und damit zur Wahrung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nicht überspannt werden dürfen (aaO S 260 mN). Für die verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen werde ferner darauf hingewiesen, daß es in diesen Verfahrensarten häufig der Staat oder eine öffentliche Körperschaft ist, deren Interessen an der Rechtskraft durch die Wiedereinsetzung berührt werden, und daß es dem Staat wie den öffentlichen Körperschaften "wohl anstehe", gegenüber Fristversäumungen milde zu sein und sich nicht auf eine formale, aber materiell falsche oder ungeklärte Rechtsposition zu berufen (aaO S 260). Dem trägt das Verhalten der Beklagten Rechnung, die im Revisionsverfahren zur Wiedereinsetzung ausdrücklich nicht Stellung genommen hat.

Das LSG überspannt die hiernach zu beachtende Sorgfalt, wenn es der Klägerin vorhält, sie habe während ihres Aufenthalts in München keine hinreichende Vorsorge dafür getroffen, daß ihr der Widerspruchsbescheid dorthin zugestellt werden konnte, obwohl sie wegen des laufenden Widerspruchsverfahrens jederzeit damit hätte rechnen müssen. Es ist vielmehr zu berücksichtigen, daß die Klägerin nicht tatenlos geblieben ist. Sie hatte die Beklagte in einem am 18. Januar 1985 eingegangenen Schreiben unter Angabe ihrer Anschrift in München an die Bearbeitung des Widerspruchs erinnert. Hinsichtlich ihrer weiteren Bemühungen trägt der Senat keine Bedenken, mit dem LSG dem Berufungsvorbringen der Klägerin zu folgen. Die Klägerin hat geltend gemacht, sie habe für die Zeit ihres Aufenthalts in München einen Nachsendeauftrag an die Adresse ihrer Freundin in Itzehoe gestellt, da sie vor ihrem Eintreffen in München ihre dortige Anschrift nicht gekannt habe. Nach telefonischer Unterrichtung über die Zustellung habe sie mit Schreiben vom 21. Januar 1985 an das Postamt Itzehoe um Zusendung des hinterlegten Schriftstückes an die Adresse in München gebeten. Dort sei das Schriftstück aber erst nach Ende des vierwöchigen Praktikums eingegangen. Es sei dann von München nach Göttingen weitergeleitet und dort ihr am 9. Februar 1985 ausgehändigt worden. Weitergehende Maßnahmen waren von der Klägerin nicht zu erwarten.

Die Klägerin war bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt auch nicht gehalten, die Klage innerhalb der ihr verbleibenden Zeit vom 9. Februar bis zum Ablauf der Klagefrist am Montag, den 18. Februar 1985 einzureichen. Wird eine Frist nicht eingehalten, weil die nach Abzug der Zeit, in der ein Hindernis bestand, verbleibende Restfrist für eine angemessene Beratung und Überlegung nicht ausreicht, so ist die Fristversäumung durch das inzwischen entfallene Hindernis nur mittelbar verursacht; unmittelbarer, im Zeitpunkt des Fristablaufs maßgeblicher Grund für die Versäumung ist die bis dahin bestehende Unmöglichkeit einer angemessenen Überlegung und Beratung. Welche Frist zur Überlegung und Einlegung des Rechtsmittels im Einzelfall angemessen ist, ist unter Berücksichtigung der besonderen Umstände in Orientierung an der für den Wiedereinsetzungsantrag geltenden Frist zu bestimmen. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Wiedereinsetzung nach § 60 Verwaltungsgerichtsordnung -VwGO- (Beschluß vom 9. Juli 1975 - VI C 18/75 - NJW 1976, 74). Die Erfolgsaussicht der Klage war für die Klägerin in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht nicht einfach zu beurteilen. Das von ihr für die Zeit von Oktober 1984 bis September 1985 begehrte Uhg als Zuschuß wurde abgelehnt, weil derzeit ein Mangel weder an Krankenpflegepersonal noch an Unterrichtspflegepersonal in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Hamburg und Bremen zu verzeichnen sei. Auch brauchte sie nicht ohne weiteres zu erkennen, daß sie mit der Einlegung der Klage trotz des nicht unbeträchtlichen Streitwerts kein Kostenrisiko einging. Der Senat hat deshalb die bis zum Ablauf der Klagefrist verbleibende Zeit nicht als ausreichend angesehen und der Klägerin gegen die Versäumung der Klagefrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.

Da das LSG von seinem Rechtsstandpunkt aus zu Recht zu den Voraussetzungen des geltend gemachten Anspruchs keine Feststellungen getroffen hat, war der Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1659012

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