Entscheidungsstichwort (Thema)

Entziehung der Kassenzulassung

 

Leitsatz (amtlich)

Die Entziehung der Kassenzulassung wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten ist nicht deshalb unzulässig, weil dieselben Pflichtverletzungen bereits Gegenstand von Disziplinarmaßnahmen der Kassenärztlichen Vereinigung waren.

 

Orientierungssatz

Es bestehen grundsätzlich keine Bedenken, bei der Entziehung der Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung (der Zulassung zur ärztlichen Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen) auch Pflichtverletzungen des Arztes im vertragsärztlichen Bereich (Ersatzkassenbereich) mitzuberücksichtigen.

 

Normenkette

RVO § 368a Abs 6, § 368m Abs 4; GG Art 103 Abs 3

 

Verfahrensgang

Hessisches LSG (Entscheidung vom 05.09.1984; Aktenzeichen L 7 Ka 600/83)

SG Frankfurt am Main (Entscheidung vom 30.03.1983; Aktenzeichen S 5 Ka 6/81)

 

Tatbestand

Streitig ist die Entziehung der Kassenzulassung eines Zahnarztes nach § 368a Abs 6 der Reichsversicherungsordnung (RVO).

Der 1938 geborene Kläger ist seit 1973 als Zahnarzt tätig. Wegen Verletzung kassen- und vertragsärztlicher Pflichten wurden gegen ihn Disziplinarmaßnahmen ergriffen. Die beigeladene Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZÄV) setzte durch den jeweils zuständigen Disziplinarausschuß am 2. Juli 1977 und am 8. März 1980 Geldbußen in Höhe von DM 1.000,-- bzw DM 4.000,-- fest. Durch einen weiteren Beschluß vom 8. März 1980 wurde der Kläger für die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis zum 30. Juni 1981 als Vertragsarzt ausgeschlossen. Sowohl am 2. Juli 1977 als auch am 8. März 1980 beschloß der Disziplinarausschuß ferner, die Akten dem Vorstand der KZÄV zur Vorlage beim Zulassungsausschuß vorzulegen. Auf Antrag des Vorstandes vom 4. Juni 1980 entzog der Zulassungsausschuß dem Kläger die Kassenzulassung durch Beschluß vom 30. Juli 1980. Der beklagte Berufungsausschuß wies den Widerspruch des Klägers im wesentlichen aus folgenden Gründen zurück: Der Zulassungsausschuß habe von weiteren bzw erneuten Ermittlungen absehen und sich dem Ergebnis der Beweisaufnahme in den vorangegangenen Disziplinarverfahren anschließen dürfen. Der Kläger habe die Disziplinarbescheide nicht angefochten. Sein Verhalten lasse den Schluß zu, daß er keine stichhaltigen Einwendungen gegen die in den Bescheiden getroffenen Feststellungen erheben könne. Er habe durch wiederholtes Fehlverhalten seine Ungeeignetheit zur Ausübung kassenärztlicher Tätigkeiten dargetan. Bei der Entziehung der Zulassung handele es sich zwar um einen schweren Eingriff in den Kassenarztstatus, es sei aber in dieser Maßnahme eine Möglichkeit zu sehen, den Kläger zu einer Aufgabe seines so häufigen Fehlverhaltens zu veranlassen. Die wiederholten Disziplinarmaßnahmen hätten offenbar nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht, sie hätten jedenfalls keinerlei Erfolg gezeigt.

Klage und Berufung sind ab- bzw zurückgewiesen worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Eine verfassungskonforme Auslegung des § 368a Abs 6 RVO führe dazu, eine gröbliche Verletzung kassenärztlicher Pflichten als Grund für die Entziehung einer Kassenzulassung nur anzuerkennen, wenn sich aus ihr die Ungeeignetheit des Arztes für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung ergebe. Dieser Grund einer Zulassungsentziehung müsse sich aus den jeweils genau festzustellenden Umständen des Einzelfalles ergeben, wobei es genüge, die Ermittlungen und Feststellungen auf beispielhaft geltend gemachte Pflichtverletzungen zu beschränken, wenn schon diese allein die Eignung des Arztes ausschlössen. Im vorliegenden Fall hätten die gerichtliche Vorinstanz und die Beklagte zwar nicht alle dem Kläger vorgeworfenen Verfehlungen bestätigt. Dennoch sei das erstinstanzliche Urteil im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Allein die festgestellten Verfehlungen rechtfertigten die Schlußfolgerung, daß der Kläger für die Organe der kassenärztlichen Selbstverwaltung untragbar geworden sei. Angesichts der Tatsache, daß die Kassenzulassung des Klägers bereits neun Monate wegen gröblicher Verletzung der kassenärztlichen Pflichten geruht habe, erhielten die nunmehr in Rede stehenden Pflichtverletzungen eine ungleich größere Bedeutung. Der Kläger habe (noch) nicht erbrachte Leistungen abgerechnet. Er habe Diskrepanzen zwischen abgerechneten Laborleistungen und zahnärztlichen Leistungen nicht erklären können. Durch Gutachten sei in mehreren Fällen eine mangelhafte Versorgung der Patienten bestätigt worden. Ein Wohlverhalten des Arztes während des Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens sei regelmäßig für die Entscheidung über die Zulassungsentziehung ohne Bedeutung. Zudem zeige es sich, daß sich das Verhalten des Klägers keinesfalls geändert habe.

Dagegen hat der Kläger Revision eingelegt. Er rügt, das Berufungsurteil beruhe auf einer Verletzung des § 368a Abs 6 RVO sowie auf einer Verletzung der §§ 103 und 106 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Die Feststellungen des LSG gestatteten nicht die Schlußfolgerung, er habe kassenärztliche Pflichten gröblich verletzt. Das gelte sowohl hinsichtlich des Vorwurfs unrichtiger Abrechnungen als auch hinsichtlich des Vorwurfs einer mangelhaften Patientenversorgung. Zum Teil werde im Urteil nicht angegeben, worin die mangelhafte Versorgung liegen solle, zum Teil sei das LSG auf seine Einwendungen (ua Einholung eines Sachverständigengutachtens) nicht eingegangen. Das LSG stütze sich ausschließlich auf Sachverhalte, die Gegenstand zweier abgeschlossener Disziplinarverfahren gewesen seien. Da bereits der Disziplinarausschuß dieses Verhalten "geahndet" habe, sei es dem Zulassungsausschuß nicht mehr gestattet, die Zulassung zu entziehen. Wegen seines Verhaltens gegenüber seinen Patienten G und J, bei denen es sich um Versicherte von Ersatzkassen gehandelt habe, sei ihm die Beteiligung an der Ersatzkassenpraxis für die Zeit vom 1. Oktober 1980 bis 30. Juni 1981 entzogen worden. Dasselbe Verhalten könne nicht noch zum Gegenstand einer Zulassungsentziehung im Bereich der RVO-Kassen gemacht werden. Soweit sich das LSG auf den späteren Behandlungsfall des Patienten K beziehe, werde irgendein Verhalten bezüglich dieses Patienten nicht dokumentiert. Die angefochtenen Bescheide seien auch deshalb rechtswidrig, weil die beiden Ausschüsse den Sachverhalt nicht weiter aufgeklärt hätten. Sie hätten sich keine eigene Meinung gebildet, sondern nur von den Disziplinarbescheiden "abgeschrieben". Die Disziplinarbescheide enthielten aber nicht eine Tatbestandswirkung in der Weise, daß der Zulassungsausschuß sämtliche Argumente und Überlegungen des Disziplinarbescheides ungeprüft übernehmen könne. Dies sei schon deshalb nicht zulässig, weil er (der Kläger) im Verwaltungsverfahren Einwände gegen die Vorwürfe erhoben habe. Der Beklagte könne seine Annahme, die wiederholten Disziplinarmaßnahmen hätten offenbar nicht den geringsten Eindruck auf ihn gemacht, jedenfalls keinerlei Erfolg gezeigt, nicht begründen, da er sich um die Praxisführung weder vor noch nach der Entscheidung der Disziplinarausschüsse gekümmert habe. Den gleichen Vorwurf müsse sich das LSG machen lassen, das seine Entscheidung auf einige wenige Fälle gründe, die bereits durch einen Disziplinarbescheid geahndet worden seien.

Der Kläger beantragt, das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 5. September 1984 -L 7 Ka 600/83-, das Urteil des Sozialgerichts Frankfurt vom 30. März 1983 -S 5 Ka 6/81- und den Bescheid des Zulassungsausschusses vom 30. Juli 1980 in der Fassung des Beschlusses des Beklagten vom 26. November 1980 aufzuheben.

Der Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beigeladenen zu 1) bis 7) beantragen die Zurückweisung der Revision.

Sie widersprechen dem Revisionsvorbringen. Auf die Vorhaltung des Klägers, auch das LSG habe sich keinen Eindruck über die Praxisführung nach Erlaß der Disziplinarmaßnahmen gemacht, erwidert die Beigeladene zu 1), der Kläger unterschlage ihren Antrag auf Anordnung der Vollziehung der Entscheidung des Zulassungsausschusses. Dort sei in einer Vielzahl von Fällen ein weitergehendes und zum Teil auch ähnlich gelagertes Fehlverhalten dargelegt worden.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers hat insofern Erfolg, als das Berufungsurteil aufzuheben und die Streitsache an die Vorinstanz zurückzuverweisen ist.

Das Berufungsurteil ist jedoch nicht, wie der Kläger geltend macht, bereits deshalb rechtsfehlerhaft, weil alle Sachverhalte, auf die es sich stützt, bereits Gegenstand anderer Maßnahmen, und zwar Maßnahmen iS des § 368m Abs 4 RVO bzw des § 19 des Vertrages zwischen der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung und dem Verband der Angestellten-Krankenkassen sowie dem Verband der Arbeiter-Ersatzkassen (EKV-Zahnärzte) waren. Der von den Vorinstanzen bestätigten Entziehung der Kassenzulassung nach § 368a Abs 6 RVO wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten steht nicht das Verbot der Doppelbestrafung entgegen (Art 103 Abs 3 des Grundgesetzes -GG- bezüglich der Bestrafung nach allgemeinen Strafgesetzen; Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit bezüglich anderer strafähnlicher Sanktionen; BVerfGE 21, 378, 388, 391, 406; 27, 180, 186, 192; 29, 125, 144; Maunz/Dürig, Grundgesetz, Komm, Stand: 1985, Art 103 Abs 3 RdNr 128 ff; Rüping in Bonner Kommentar, Stand: Oktober 1982, Art 103 Abs 3 RdNrn 24, 29, 37 ff). Bei der Entziehung der Kassenzulassung handelt es sich nicht um eine Strafe oder eine vergleichbare Ahndung schuldhafter Rechtsverstöße, sondern ausschließlich um eine Verwaltungsmaßnahme zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung (BSGE 34, 252, 253 = SozR Nr 36 zu § 368a RVO).

Allerdings kann auch bei Verwaltungsmaßnahmen eine mehrfache Anwendung auf ein und denselben Sachverhalt unzulässig sein. Nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Element des Rechtsstaatsprinzips) sind Eingriffe in die Freiheitssphäre - hier in das Recht der freien Berufsausübung - nur insoweit zulässig, als sie zum Schutz öffentlicher Interessen - hier zur Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung - unerläßlich sind (BVerfGE 35, 382, 401 mwN). Dieser Grundsatz besagt, daß eine Maßnahme zur Erreichung des angestrebten Zweckes geeignet und erforderlich sein muß; sie ist geeignet, wenn der gewünschte Erfolg mit ihrer Hilfe gefördert werden kann, und sie ist erforderlich, wenn kein anderes, gleich wirksames, das betreffende Grundrecht nicht oder doch weniger fühlbar einschränkendes (milderes) Mittel zur Verfügung steht (BVerfGE 63, 88, 115; 70, 1, 28 mwN). In dieser Hinsicht besteht auch zwischen den hier infrage stehenden Verwaltungsmaßnahmen ein Konkurrenzverhältnis. Die der Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) durch § 368m Abs 4 RVO gegenüber ihren die kassenärztlichen Pflichten nicht oder nicht ordnungsgemäß erfüllenden Mitgliedern eingeräumten Befugnisse - Verwarnung, Verweis, Geldbuße bis zu 20.000,-- DM oder die Anordnung des Ruhens der Zulassung bis zu sechs Monaten (Vorschrift idF durch Art 19 Nr 10 Buchst b des Haushaltsbegleitgesetzes 1983 vom 20. Dezember 1982, BGBl I 1857) - bezwecken ebenso wie die Entziehung der Kassenzulassung die auf die Gegenwart und Zukunft gerichtete Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung. Nur in der Geldbuße kann unter Umständen auch eine Sühne für begangene Rechtsverstöße gesehen werden.

Daraus folgt jedoch lediglich, daß eine Maßnahme des § 368m Abs 4 RVO, soweit sie den Kassenarzt zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten veranlassen soll, nicht mehr gerechtfertigt ist, wenn dem Arzt die Kassenzulassung entzogen, er also aus dem Kreis der an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Ärzte (§ 368a Abs 1 RVO) ausgeschieden ist. Dagegen macht eine solche Maßnahme die Entziehung der Kassenzulassung nicht unzulässig. Ist ein Kassenarzt für das kassenärztliche Versorgungssystem untragbar geworden, erfordert also die Sicherstellung der kassenärztlichen Versorgung seinen Ausschluß, so kann nicht eine Maßnahme des § 368m Abs 4, die vor der Entziehung der Kassenzulassung ergangen und bei der demzufolge noch von einer Teilnahme des Arztes an der kassenärztlichen Versorgung auszugehen war, die ordnungsgemäße ärztliche Versorgung der Versicherten in dem betreffenden räumlichen Bereich dadurch infrage stellen, daß sie die notwendige Entziehung der Kassenzulassung verhindert. Dem kann auch nicht entgegengehalten werden, es müsse in der Inanspruchnahme der nach § 368m Abs 4 RVO vorzusehenden satzungsrechtlichen Befugnisse eine Entscheidung dahingehend gesehen werden, daß von der ebenfalls in Betracht kommenden Entziehung der Kassenzulassung Abstand genommen werde. Eine solche Schlußfolgerung scheidet schon aus aufgrund der durch das Gesetz in diesem Aufgabenbereich vorgenommenen Verteilung der Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten auf die KÄV einerseits und die gemeinsame Selbstverwaltung der KÄV und der Krankenkassen andererseits. Die KÄV, die den Krankenkassen gegenüber eine den gesetzlichen und vertraglichen Erfordernissen entsprechende kassenärztliche Versorgung zu gewährleisten hat (§ 368n Abs 1 RVO), ist dafür zuständig, daß ihre an der kassenärztlichen Versorgung teilnehmenden Mitglieder die kassenärztlichen Pflichten ordnungsgemäß erfüllen; sie hat daher die Kompetenz für die Maßnahmen des § 368m Abs 4 RVO, durch die sie ihre Mitglieder zur ordnungsgemäßen Pflichterfüllung anhalten kann. Über die Zulassung eines Arztes zur kassenärztlichen Versorgung und über das Fortbestehen dieser Zulassung haben dagegen die Zulassungsinstanzen als Einrichtungen der gemeinsamen Selbstverwaltung der KÄV und der Krankenkassen zu entscheiden (§ 368b RVO). Der gemeinsamen Selbstverwaltung kann die ihr insoweit gesetzlich zugewiesene Zuständigkeit und Verantwortlichkeit nicht im Einzelfall durch Entscheidungen der KÄV genommen werden.

In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, daß sich die Notwendigkeit der Entziehung der Kassenzulassung oft erst nach einer Reihe von Pflichtverletzungen und aus dem trotz wiederholter Maßnahmen des Disziplinarausschusses der KÄV unveränderten Fehlverhalten des Kassenarztes ergibt. Der für die Zulassungsentziehung maßgebende Sachverhalt ist dann nicht in den einzelnen Pflichtverletzungen, sondern darin zu sehen, daß der Arzt die Maßnahmen des Disziplinarausschusses nicht zum Anlaß genommen hat, sein Fehlverhalten aufzugeben. Nur hinsichtlich des letzten Fehlverhaltens, das in diesem Falle im Fortsetzen eines früheren Fehlverhaltens besteht, können die Maßnahmen des Disziplinarausschusses und die Entziehung der Kassenzulassung konkurrieren. Wenn ein Sachverhalt vorliegt, der sowohl an eine Maßnahme des Disziplinarausschusses als auch an die Zulassungsentziehung denken läßt, stellt sich daher für den Disziplinarausschuß die Frage, ob es vertretbar ist, seine Entscheidung bis zur (rechtsverbindlichen) Entscheidung im Zulassungsentziehungsverfahren zurückzustellen. Entscheidet der Disziplinarausschuß vorweg, was unter Umständen zur sofortigen Beseitigung der vom Arzt ausgehenden Störungen geboten sein kann, so wird nach einer anschließenden Entziehung der Kassenzulassung wegen desselben (letzten) Sachverhalts eine Überprüfung der (letzten) Entscheidung des Disziplinarausschusses in Betracht kommen. Soweit für diese Entscheidung maßgebend war, den Kassenarzt zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner Pflichten anzuhalten, kann die weitergehende Maßnahme der Zulassungsentziehung Anlaß sein, die letzte Disziplinarmaßnahme ganz oder teilweise zurückzunehmen.

Dem LSG ist zuzustimmen, daß bei einem fortgesetzten Fehlverhalten des Kassenarztes die späteren Pflichtverletzungen durch die früheren Pflichtverletzungen ein größeres Gewicht erhalten. Die Zulassungsinstanzen sind deshalb nicht nur berechtigt, sondern verpflichtet, die früheren Verstöße des Kassenarztes, auch wenn sie bereits Gegenstand rechtsverbindlicher Entscheidungen des Disziplinarausschusses waren, in die Würdigung des späteren Fehlverhaltens einzubeziehen. Die Zulassungsinstanzen können dann, wenn keine besonderen Gründe dagegensprechen, in der Regel von der Rechtmäßigkeit der früheren rechtsverbindlichen Entscheidungen und deshalb auch von den diesen Entscheidungen zugrundeliegenden Ermittlungsergebnissen ausgehen. Es wird ihnen in Anbetracht des Zeitablaufs oftmals gar nicht mehr möglich sein, hinsichtlich der in den früheren rechtsverbindlich abgeschlossenen Verfahren festgestellten Verfehlungen genauere und zuverlässigere Ermittlungen durchzuführen. Wenn der Kassenarzt in den früheren Verfahren die Ermittlungsergebnisse anerkannt oder hingenommen hatte oder nicht in der Lage war, sie in Zweifel zu ziehen, ist es im allgemeinen gerechtfertigt, diese Feststellungen zu verwerten. Schließlich wird bei Prüfung der Frage, ob ein Arzt noch die Eignung für die kassenärztliche oder vertragsärztliche Versorgung besitzt, auch das Verhalten des Arztes im jeweils anderen Versorgungsbereich Rückschlüsse zulassen. Es bestehen daher entgegen der Ansicht des Klägers grundsätzlich keine Bedenken, bei der Entziehung der Zulassung zur kassenärztlichen Versorgung (der Zulassung zur ärztlichen Versorgung der Versicherten der gesetzlichen Krankenkassen) auch Pflichtverletzungen des Arztes im vertragsärztlichen Bereich (Ersatzkassenbereich) mitzuberücksichtigen.

Der Kläger rügt jedoch zu Recht, daß der im Berufungsurteil festgestellte Sachverhalt nicht ausreicht, um die Entziehung der Kassenzulassung als rechtmäßig bestätigen zu können. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats, von der auch das LSG ausgeht, zwingt eine verfassungskonforme Auslegung des § 368a Abs 6 RVO dazu, die Voraussetzungen für die Entziehung der Kassenzulassung wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten erst dann als erfüllt anzusehen, wenn sich aus dem Fehlverhalten des Arztes dessen Ungeeignetheit für die Teilnahme an der kassenärztlichen Versorgung ergibt. Bei der Prüfung dieser Voraussetzung ist zu berücksichtigen, daß die Entziehung der Kassenzulassung der letzte und schwerste Eingriff in den Kassenarztstatus ist. Von ihr darf deshalb nach dem oben dargelegten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erst Gebrauch gemacht werden, wenn nicht mehr zu erwarten ist, daß der Arzt auf andere Weise zur ordnungsgemäßen Erfüllung seiner kassenärztlichen Pflichten angehalten werden kann (Urteil des Senats vom 8. Juli 1980 -6 RKa 10/78- KVRS A-6000/10 mwN; vgl auch den zu diesem Urteil ergangenen Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 5. September 1980 -1 BvR 727/80- SozR 2200 § 368a Nr 6). Ob diese Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist, kann anhand der Tatsachenfeststellungen im Berufungsurteil nicht beantwortet werden.

Das LSG stellt zwar selbst auf diese Frage ab, indem es unter Hinweis darauf, daß die Kassenzulassung des Klägers bereits neun Monate wegen gröblicher Verletzung kassenärztlicher Pflichten geruht habe - gemeint ist offenbar das Ruhen der Vertragsarztbeteiligung im Ersatzkassenbereich vom 1. Oktober 1980 bis zum 30. Juni 1981 -, den "nunmehr in Rede stehenden Pflichtverletzungen eine ungleich größere Bedeutung" beimißt. Diese Ausführungen können nur so verstanden werden, daß dem Kläger die Eignung für die kassenärztliche Tätigkeit deshalb abgesprochen wird, weil er durch die erwähnte Maßnahme des Disziplinarausschusses nicht habe beeinflußt werden können, er vielmehr auch danach seine kassenärztlichen Pflichten nicht ordnungsgemäß erfüllt habe. Diese Annahme wird jedoch durch keine Tatsachenfeststellungen belegt. Alle vom LSG (zum Teil nur unvollständig) festgestellten Pflichtverletzungen des Klägers (in den Behandlungsfällen S, G, J, K und B) liegen vor dem Beschluß des Disziplinarausschusses vom 8. März 1980, durch den das zeitweise Ruhen der Vertragsarztbeteiligung ab 1. Oktober 1980 angeordnet worden war. Aus diesen Feststellungen ergibt sich also nicht, daß der Kläger auch noch nach dem Beschluß vom 8. März 1980 kassenärztliche Pflichten verletzt hat. Die Erwähnung weiterer Beanstandungen im Tatbestand des Berufungsurteils beschränkt sich auf die bloße Wiedergabe der Angaben der Zulassungsinstanzen, eigene Feststellungen werden vom LSG insoweit nicht getroffen. Die abschließende Anmerkung, es habe sich gezeigt, daß sich das Verhalten des Klägers keinesfalls geändert habe, wird mit keiner einzigen Pflichtverletzung begründet. Es wird lediglich der Name eines Patienten des Klägers erwähnt (K), ohne daß dargelegt wird, inwiefern der Kläger bei der Behandlung dieses Patienten fehlerhaft gehandelt hat.

Da es somit einer weiteren Sachaufklärung bedarf und diese dem Revisionsgericht verwehrt ist, macht der Senat von der Möglichkeit der Zurückverweisung an die Vorinstanz Gebrauch (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

Dem Berufungsgericht bleibt auch die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens vorbehalten.

 

Fundstellen

BSGE, 1

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