Entscheidungsstichwort (Thema)

Unfallversicherungsschutz. Unternehmer. arbeitnehmerähnliche Tätigkeit. Tätigkeit im Unternehmen eines anderen. vertragliche Regelung. Vertragspflichten. Subsidiarität des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO gegenüber § 539 Abs 1 Nr 1 RVO

 

Orientierungssatz

1. Der im Rahmen von § 539 Abs 2 RVO erforderliche innere Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem betreffenden Betrieb ist nicht schon dadurch gegeben, daß die Tätigkeit auch den Zwecken oder Interessen des anderen Unternehmens dient. Vielmehr muß diese Beziehung - darüber hinaus - rechtlich wesentlich sein. Ob dies der Fall ist, richtet sich, wenn vertragliche Beziehungen vorhanden sind, nach deren Inhalt (vgl Urteile des BSG vom 20.5.1958 2 RU 322/55 = BSGE 7, 195, 197 und vom 24.8.1976 8 RU 150/75 = SozR 2200 § 539 Nr 25).

2. § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO ist gegenüber § 539 Abs 1 Nr 1 RVO subsidiär (vgl BSG vom 14.12.1967 2 RU 55/64 = BG 1968, 488).

3. Ist beim Kauf von Maschinen die Lieferung der Maschinen frei Haus vereinbart, so kann die Mithilfe des Unternehmens beim Abladen der gelieferten Maschinen, Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO begründen.

 

Normenkette

RVO § 539 Abs 1 Nr 1 Fassung: 1963-04-30; RVO § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a Fassung: 1963-04-30; RVO § 539 Abs 2 Fassung: 1963-04-30

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 06.11.1985; Aktenzeichen L 2 Ua 1583/83)

SG Ulm (Entscheidung vom 20.07.1983; Aktenzeichen S 1 U 1883/82)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger bei seinem Unfall am 15. April 1980 als unversicherter Unternehmer oder wie ein Versicherter im fremden Unternehmen (§ 539 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung -RVO-) tätig war. Das Sozialgericht (SG, Urteil vom 20. Juli 1983) hat das erstere, das Landessozialgericht (LSG, Urteil vom 6. November 1985) eine Versicherung wie ein Arbeitnehmer bei der Beklagten angenommen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Der Kläger ist Unternehmer der Firma a.-e. in B./R.. Er ist gegen Arbeitsunfall nicht freiwillig versichert. Für seinen Betrieb kaufte er von der Firma B. in S.-V. zwei Schraubenkompressoren frei Haus. Bei deren Lieferung ereignete sich der Unfall des Klägers. Nachdem die Geräte nicht - wie üblich - mit Hilfe der Werkzeuge des Unternehmens des Klägers vom Lieferfahrzeug abgeladen werden konnten, sollten sie auf dem Werksgelände an eine andere Stelle gefahren und dort abgeladen werden. Dabei geriet eines der Geräte in Bewegung und drohte vom Lieferfahrzeug zu stürzen. Der Kläger kam zufällig hinzu und verunglückte bei dem (vergeblichen) Versuch, den Kompressor vor dem Herunterfallen zu bewahren.

Durch ihren Bescheid vom 14. Dezember 1982 lehnte die Beklagte die Gewährung von Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit der Begründung ab, der Kläger sei in der Sphäre seines eigenen Unternehmens verunglückt.

Das SG hat die Klage abgewiesen, weil der Kläger gleichzeitig die Interessen des eigenen Unternehmens und die der Firma B. mit etwa gleicher Intensität verfolgt habe, so daß sein Handeln versicherungsrechtlich dem eigenen Betrieb zuzurechnen sei.

Demgegenüber ist das LSG zu der Überzeugung gekommen, der Kläger sei bei einer Tätigkeit verunglückt, welche in den vertraglichen Aufgabenbereich der Firma B. gefallen sei. Er habe gleichzeitig auch eine versicherte Hilfeleistung nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO erbracht, jedoch sei diese gegenüber der Tätigkeit für die Firma B. subsidiär.

Nach Auffassung der Beklagten fiel das Abladen der Kompressoren nach Vertrag und Gewohnheit in den Verantwortungsbereich des Klägers, so daß sie nicht der zuständige Versicherungsträger sei.

Sie beantragt, das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 6. November 1985 zu ändern und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Ulm vom 20. Juli 1983 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Das LSG habe die Sache richtig entschieden.

Der Beigeladene beantragt ebenfalls, die Revision zurückzuweisen.

Seine Zuständigkeit und Leistungspflicht sei wegen der Subsidiarität der Hilfeleistung des Klägers gegenüber § 539 Abs 2 RVO nicht gegeben.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Das LSG ist fehlerfrei und mit zutreffenden Gründen zu dem Ergebnis gekommen, daß der Kläger seinen Unfall im Betriebe der Lieferfirma erlitten hat.

SG, LSG und die Verfahrensbeteiligten haben von Anfang an zutreffend geprüft, ob der Kläger als Unternehmer oder wie ein im Betrieb des Lieferanten Beschäftigter (§ 539 Abs 2 RVO) verunglückte. Verunglückte er nämlich bei der Erledigung von Aufgaben als Unternehmer, war eine Versicherung nach § 539 Abs 2 RVO ausgeschlossen; denn eine nach § 539 Abs 2 RVO versicherte Tätigkeit erfordert, daß sie unter solchen Umständen geleistet wird, daß sie einer Tätigkeit aufgrund eines Beschäftigungsverhältnisses (§ 539 Abs 1 Nr 1 RVO) ähnlich ist (vgl zB BSG SozR 2200 § 539 Nr 2; Urteil vom 31. Mai 1978 - 2 RU 27/86 -; Urteil vom 4. November 1981 - 2 RU 93/80 -; Urteil vom 19. Mai 1983 - 2 RU 55/82 -).

Danach kommt das Bestehen eines Versicherungsverhältnisses unter den Voraussetzungen des § 539 Abs 2 RVO nur in Betracht, wenn der Kläger wie ein Versicherter im fremden Unternehmen tätig geworden ist (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, S 476h, 476u). Hierzu genügt allerdings nicht, daß die Tätigkeit dem Interesse dieses Unternehmens gedient hat, weil sie erforderlich oder nützlich war. Dieser Gesichtspunkt reicht nicht aus, um den notwendigen inneren Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Tätigkeit des Klägers und dem anderen Betrieb anzunehmen. Der Senat hat von Anfang an entschieden, daß nicht jede Arbeit, die zugleich den Zwecken eines anderen Unternehmens dient, auch in diesem Unternehmen verrichtet zu sein braucht (BSGE 5, 168, 174; 7, 195, 198; Urteil vom 4. November 1981 - 2 RU 53/81 -; Urteil vom 19. Mai 1983 - 2 RU 55/82 -). Vielmehr ist es, insbesondere beim Zusammenwirken mehrerer Unternehmer, sehr wohl möglich, daß eine für mehrere nützliche Tätigkeit nur im Rahmen eines der Betriebe geleistet wird (BSG SozR 2200 § 539 Nr 112; Brackmann, aaO, S 475q, 476h). Dies gilt nicht nur, wenn ein Unternehmer für sich tätig wird und dabei gleichzeitig den Zweck eines anderen Unternehmens fördert (etwa bei der Errichtung eines Bauwerkes). Der Senat hat entschieden, daß selbst ein abhängig Beschäftigter, welcher die Interessen eines weiteren Unternehmens fördert, ausschließlich in seinem Stammbetrieb tätig sein kann (BSGE 43, 65, 67; Urteil vom 4. November 1981 - 2 RU 53/81 -).

Infolgedessen ist der auch im Rahmen von § 539 Abs 2 RVO erforderliche innere Zusammenhang zwischen der unfallbringenden Tätigkeit und dem betreffenden Betrieb nicht schon dadurch gegeben, daß die Tätigkeit auch den Zwecken oder Interessen des anderen Unternehmens dient. Vielmehr muß diese Beziehung - darüber hinaus - rechtlich wesentlich sein (Brackmann, aaO, S 476e). Ob dies der Fall ist, richtet sich, wenn vertragliche Beziehungen vorhanden sind, nach deren Inhalt (BSGE 7, 195, 197; BSG SozR 2200 § 539 Nr 25 = SGb 1977, 312, 313 mit zustimmender Anmerkung von Freitag, Urteil vom 4. November 1981 aaO; Urteil vom 19. Mai 1983 aaO; Brackmann, aaO, S 476h f). Hiervon ist das LSG zutreffend ausgegangen. Es hat die Vertragsbeziehungen der beiden Unternehmer - Kläger und Lieferfirma - untersucht und danach die Frage - richtig - beantwortet, ob der Kläger versichert war.

Das LSG hat, ohne daß dagegen zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-), festgestellt, daß die Lieferung der Maschinen frei Haus vereinbart war. Unter diesen Umständen ist auch die weitere Feststellung des Berufungsgerichts, das der Übergabe der Maschinen (§ 433 Abs 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB-) vorausgehende Abladen sei in den vertraglichen Aufgabenbereich der Firma B. gefallen (S 8), rechtlich logisch und im Grunde von der Beklagten nicht in Abrede gestellt. Wenn sie dennoch meint, das Abladen sei in den Verantwortungsbereich des Klägers gefallen ,so überbewertet sie die der vernünftigen Vertragserfüllung durch die Lieferfirma dienende Mithilfe von im Betriebe des Klägers tätigen Personen. Diese beratende Mitarbeit diente im Grunde nur der Konkretisierung der Lieferung "frei Haus", so wie dies üblich und gewöhnlich nötig ist.

Die weitere Annahme des LSG, der Kläger selbst sei bei seinem Eingreifen nicht in Erfüllung einer vertraglichen Nebenverpflichtung tätig geworden, ist von der Revision im Grunde nicht angegriffen worden. Es ist auch nicht ersichtlich, woraus sich die Verpflichtung des Käufers einer Sache ergeben könnte, bei der Lieferung zum Zwecke der Schadensminderung ein derart hohes Risiko einzugehen.

Danach ist der Kläger nicht im eigenen Unternehmen verunglückt. Infolgedessen ist entgegen der Auffassung der Beklagten der Versicherungsschutz nach § 539 Abs 2 RVO gegeben.

Ob darüber hinaus Versicherungsschutz nach § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO gegeben gewesen sein kann, braucht hier nicht näher untersucht zu werden; denn das Bundessozialgericht hat, wie das LSG richtig ausführt, schon immer angenommen, daß diese Norm gegenüber § 539 Abs 1 Nr 1 RVO subsidiär ist (BSG BG 1968, 488). Erfolgt nämlich die Hilfe im Rahmen eines Beschäftigungsverhältnisses, ist sie von diesem Grundverhältnis mitumfaßt. Eine Aufspaltung des Versicherungsschutzes für Tätigkeiten innerhalb des allgemein nach § 539 Abs 1 Nr 1 RVO geschützten Handelns scheidet dann aus (hierzu BSGE 35, 212, 215; Brackmann, aaO S 473d und 477e mwN). Nichts anderes kann für diejenigen Personen gelten, die helfend wie ein Arbeitnehmer in einem Unternehmen eingreifen, ohne daß ein Beschäftigungsverhältnis besteht, wenn - wie hier - betriebliche Beziehungen im Vordergrund stehen (BSG SozR Nr 4 zu RVO § 539). Im hier zu entscheidenden Rechtsstreit wurde der Kläger wegen der erkennbaren betrieblichen Beziehungen seines Unternehmens zu der Lieferfirma tätig. Aus diesem Grunde war die Hilfeleistung derart eng mit dem Nutzen dieses anderen Betriebes verbunden, daß sie nicht unabhängig hiervon allein unter dem rechtlichen Gesichtspunkt des § 539 Abs 1 Nr 9 Buchst a RVO erfaßt wird, wie dies etwa der Fall sein würde, wenn der Hilfeleistende einer allgemeinen Verpflichtung folgt (BSG wie zuvor). Aus diesem Grunde ist der erkennende Senat mit dem LSG der Überzeugung, daß sich der Versicherungsschutz für den Unfall am 15. April 1980 aus § 539 Abs 2 RVO herleitet.

Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665680

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