Verfahrensgang

SG Berlin (Urteil vom 03.04.1995; Aktenzeichen S 15 An 5630/94)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. April 1995 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf Witwenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen, im Jahre 1972 verstorbenen Ehemannes (Versicherter), der vor seinem Tod eine Invalidenrente in der ehemaligen DDR bezogen hatte.

Die im Jahre 1927 geborene Klägerin heiratete im Jahre 1952 in W. … den Versicherten zum ersten Mal und zog mit ihm im Jahre 1960 in die ehemalige DDR um. Dort wurde ihre Ehe im Jahre 1964 geschieden. Im Jahre 1967 heirateten die Klägerin und der Versicherte erneut. Diese Ehe wurde durch Urteil des Kreisgerichts St. … vom 4. November 1970 geschieden; das Erziehungsrecht für die drei minderjährigen Kinder wurde der Klägerin übertragen und der Versicherte insoweit zu Unterhaltszahlungen verurteilt.

Im November 1993 beantragte die Klägerin, die eine Altersrente bezieht, Hinterbliebenenrente aus der Versicherung ihres geschiedenen Ehemannes. Mit Bescheid vom 2. Mai 1994 lehnte die Beklagte den Antrag auf Hinterbliebenenrente im Hinblick auf § 243a Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) ab, da sich ihr Unterhaltsanspruch nach dem Recht des Beitrittsgebiets richte. Den Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 1994 zurück. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat mit Urteil vom 3. April 1995 die Klage abgewiesen und die Sprungrevision zugelassen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: § 243 SGB VI, wonach Ehegatten, deren Ehe vor dem 1. Juli 1977 geschieden worden sei und die sich nicht wieder verheiratet hätten, unter bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf eine Witwenrente hätten, finde keine Anwendung. § 243a SGB VI schließe einen derartigen Anspruch aus, wenn sich der Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten nach dem Recht richte, das im Beitrittsgebiet gegolten habe. Hier sei das Unterhaltsrecht der ehemaligen DDR anwendbar, da die Klägerin und der Versicherte dort zuletzt ihren gemeinsamen Wohnsitz gehabt hätten. Art 234 § 5 des Einführungsgesetzes zum Bürgerlichen Gesetzbuch (EGBGB) finde keine Anwendung; die Vorschrift treffe lediglich Anordnungen für Sachverhalte, aus denen im Zeitpunkt der Wiedervereinigung noch Unterhaltsansprüche hätten erwachsen können. Zweifel an der Vereinbarkeit der Regelung in § 243a SGB VI mit Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) bestünden nicht. Die Versorgung der Klägerin bei Invalidität oder im Alter sei aufgrund der Produktions- und gesellschaftlichen Bedingungen durch einen eigenen Rentenanspruch gesichert gewesen.

Die Klägerin rügt mit der vom SG zugelassenen, mit Zustimmung der Beklagten eingelegten (Sprung-) Revision, § 243a SGB VI verstoße gegen Art 3 Abs 1 GG. Sie trägt vor:

Sie sei im Vergleich zu den im gleichen Zeitraum in der Bundesrepublik Deutschland geschiedenen Ehegatten rechtlos. Die Ungleichbehandlung werde insbesondere im Blick auf die vor dem 3. Oktober 1990 in die Bundesrepublik Deutschland übergesiedelten geschiedenen Ehepaare deutlich. Ein sachlicher Grund für die Ungleichbehandlung sei nicht gegeben.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Berlin vom 3. April 1995 sowie des Bescheides vom 2. Mai 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1994 zu verurteilen, ihr eine Hinterbliebenenrente ab dem frühestmöglichen Zeitpunkt zu gewähren,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob Art 234 §§ 5 Satz 1 und 6 EGBGB sowie § 243a SGB VI insoweit mit dem Grundgesetz vereinbar sind, als geschiedene Frauen aus dem Gebiet der ehemaligen DDR in der Folge lediglich – regelmäßig ausgeschlossene – Unterhaltsansprüche nach dem Familiengesetzbuch haben.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und ist der Ansicht, die vom jeweiligen Scheidungs- und Unterhaltsrecht der Bundesrepublik Deutschland bzw der ehemaligen DDR abhängige unterschiedliche Behandlung der vor dem 1. Juli 1977 geschiedenen Ehegatten in § 243 SGB VI einerseits und in § 243a SGB VI andererseits beruhe auf sachlichen Kriterien; sie sei begründet durch die unterschiedlichen Regelungen in den jeweiligen Rechtssystemen. Der Gleichheitssatz sei mithin nicht verletzt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige (Sprung-)Revision ist unbegründet.

Der Klägerin steht aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt ein Anspruch auf eine (Geschiedenen-)Witwenrente zu.

§ 243 SGB VI greift zugunsten der Klägerin nicht ein. Andere Anspruchsgrundlagen, nach denen sie einen Anspruch aus der Versicherung ihres geschiedenen, verstorbenen Ehemannes haben könnte, sind nach den tatsächlichen Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) nicht ersichtlich. Anhaltspunkte dafür, daß die Voraussetzungen für eine Erziehungsrente gemäß §§ 243a Satz 2, 47 SGB VI gegeben sind, sind nicht erkennbar. Gleiches gilt hinsichtlich eines Anspruchs nach Art 2 § 14 des Übergangsrechts für Renten nach den Vorschriften des Beitrittsgebietes (RÜG) vom 25. Juli 1991; unabhängig davon, daß bereits fraglich ist, ob die Klägerin hier zu dem nach diesem Gesetz anspruchsberechtigten Personenkreis gehört (vgl Art 2 § 1 RÜG), erfüllt sie auch nicht die Tatbestandsmerkmale des Art 2 § 14 RÜG; denn sie hatte zu keinem Zeitpunkt einen gegen ihren geschiedenen Ehemann gerichteten – gerichtlichen – Unterhaltstitel erlangt.

Die Klägerin kann einen Anspruch auf (Geschiedenen-)Witwenrente nicht auf § 243 SGB VI stützen. Denn die Anwendung dieser Vorschrift wird hier durch § 243a SGB VI ausgeschlossen, da für einen Unterhaltsanspruch der Klägerin gegen den verstorbenen Versicherten das Unterhaltsrecht der ehemaligen DDR maßgebend gewesen wäre. Wie der 5. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 21. Juni 1995 (SozR 3-2600 § 243a Nr 1) zu § 243a SGB VI zutreffend ausgeführt hat, ist für diese, den Anspruch auf (Geschiedenen-)Witwenrente ausschließende Bestimmung allein von Bedeutung, daß sich der Unterhaltsanspruch nach dem Recht des Beitrittsgebietes gerichtet hat. Unerheblich ist insoweit, ob nach dem Recht des Beitrittsgebietes tatsächlich ein Unterhaltsanspruch bestanden hat, oder ob von dem geschiedenen Ehegatten tatsächlich Unterhalt geleistet worden ist. Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an.

Ausgeschlossen wird mithin § 243 SGB VI durch § 243a Satz 1 SGB VI stets dann, wenn sich das nacheheliche Unterhaltsstatut der geschiedenen Ehegatten, das grundsätzlich an das Scheidungsstatut anknüpft (vgl Staudinger/Rauscher, BGB, 12. Aufl, Art 234 § 5 EGBGB RdNrn 11, 22), interlokalrechtlich (vgl Bosch, Familien- und Erbrecht als Themen der Rechtsangleichung nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland, FamRZ 1991, 1370, 1386), nach dem Recht des Beitrittsgebietes gerichtet hat. Dies war auch vom Gesetzgeber beabsichtigt. Wie den Materialien zu entnehmen ist, sollte die Anwendung von § 243 SGB VI generell ausgeschlossen sein, weil nach dem Recht des Beitrittsgebiets grundsätzlich keine Unterhaltsansprüche vorgesehen waren und nur in Ausnahmefällen zeitlich befristete Ansprüche bestanden (vgl BT-Drucks 12/405 S 124; § 29 Familiengesetzbuch der DDR ≪FGB≫ vom 20. Dezember 1965, GBl I 1966, 1; vgl BSG SozR 3-2200 § 1265 Nr 6, Kasseler Komm – Gürtner, § 243a SGB VI RdNr 3; vgl hierzu auch entsprechend: Staudinger/Rauscher, aa0, Art 234 § 5 EGBGB RdNrn 24 ff).

§ 243a SGB VI verstößt entgegen der Auffassung der Klägerin nicht gegen Art 3 Abs 1 GG. Der Gleichbehandlungsgrundsatz wäre nur verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, daß sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (vgl BVerfGE 55, 72, 88). Dabei ist einmal zu bedenken, daß es Sache des Gesetzgebers ist zu entscheiden, welches Element bestimmendes Merkmal einer Gleich- oder Ungleichbehandlung sein soll (vgl BVerfGE 71, 255, 271; 81, 108, 117) und zum anderen, daß ihm bei der Bestimmung des Personenkreises, auf den die gesetzliche Regelung Anwendung finden soll, ein ebenso weiter Gestaltungsspielraum zusteht, wie bei der Verwirklichung seiner Aufgabe, die sozialen Rechte und Pflichten im Rahmen der Wiedervereinigung zu gestalten (vgl hierzu BVerfGE 84, 90, 130; BSG SozR 3-8570 § 11 Nr 1 S 10). Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist § 243a SGB VI sachgerecht. Dabei kann dahinstehen,

ob zulässige Vergleichsgruppen iS von Art 3 Abs 1 GG einerseits die nach DDR-Recht Geschiedenen und andererseits die Geschiedenen mit BGB-Unterhaltsstatut sind. Denn jedenfalls rechtfertigt sich die Unterscheidung aus der bis dahin bestehenden Rechtsspaltung, die der Gesetzgeber nicht aus Gleichheitsgründen rückwirkend zu beseitigen brauchte (vgl hierzu entsprechend: Staudinger/Rauscher, aaO, Art 243 § 5 EGBGB RdNr 3).

Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht haben sich in der Bundesrepublik Deutschland und der ehemaligen DDR unterschiedlich entwickelt: Nach dem Familienrecht der DDR gab es – wie ausgeführt – einen Unterhaltsanspruch des geschiedenen Ehegatten nur in Ausnahmefällen. Nach dem Tod des Ehegatten hatte dessen geschiedener Ehegatte einen Anspruch auf Hinterbliebenenrente als Unterhaltsrente nur, wenn zuvor ein Unterhaltsanspruch bestanden hatte und zusätzliche Voraussetzungen erfüllt waren (vgl § 49 der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialpflichtversicherung vom 23. November 1979, GBl I Nr 38 S 401 ≪Rentenverordnung≫ bzw jetzt Art 2 § 14 RÜG). Demgegenüber bestanden (und bestehen) in der Bundesrepublik Deutschland bei Ehescheidungen vom Schuldspruch abhängige Unterhaltsansprüche, wenn sie vor dem Inkrafttreten des ersten Gesetzes zur Reform des Ehe- und Familienrechts (1. EheRG) vom 14. Juni 1976, BGBl I S 1421 am 1. Juli 1977 zuerkannt waren. An diese Regelung des Unterhaltsrechts schloß § 1265 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ (jetzt § 243 SGB VI) an, soweit danach Hinterbliebenenrenten an einen früheren Ehegatten vorgesehen waren. Mit dem 1. EheRG und der Aufgabe des Verschuldensprinzips im Scheidungs- und Scheidungsfolgenrecht sowie der Einführung des „Zerrüttungsprinzips” und des Versorgungsausgleichs ist für die seit dem 1. Juli 1977 geschiedenen Ehen § 1265 RVO aufgehoben und statt dessen mit § 1265a RVO (jetzt § 47 SGB VI) die Erziehungsrente eingeführt worden. Ab diesem Zeitpunkt hatten sich „versorgungsrechtlich” die beiden „Rechtssysteme” angenähert. Denn mit dem Versorgungsausgleich sollte eine eigenständige rentenrechtliche Sicherung der geschiedenen Ehegatten, insbesondere der geschiedenen Ehefrau, erreicht werden; diese war in der ehemaligen DDR für beide geschiedene Ehegatten im Hinblick auf die generelle Berufstätigkeit auch der Frauen regelmäßig gegeben. Es ist mithin sachlich gerechtfertigt, wenn der Gesetzgeber rentenrechtlich den Rechtszustand in der ehemaligen DDR dem in der Bundesrepublik Deutschland seit 1. Juli 1977 bestehenden gleichsetzt und im Hinblick hierauf an das ab 1. Juli 1977 in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht anknüpft. Hätte der Gesetzgeber auch die vor Juli 1977 in der ehemaligen DDR Geschiedenen in die Regelung des § 243 SGB VI miteinbezogen, so wären diese gleichheitswidrig gegenüber allen in der Bundesrepublik Deutschland und in der ehemaligen DDR nach dem 1. Juli 1977 Geschiedenen privilegiert; willkürlich wäre diese Regelung auch deshalb, weil – wie der 5. Senat, aaO, ausgeführt hat – insoweit ein sachliches Differenzierungskriterium für eine derartige zeitliche Begrenzung der Anspruchsvoraussetzungen der in der DDR Geschiedenen – im Gegensatz zu den nach Inkrafttreten des 1. EheRG in der Bundesrepublik Deutschland Geschiedenen – nicht erkennbar wäre.

Im Rahmen von Art 3 Abs 1 GG durfte der Gesetzgeber mithin die im Scheidungsfolgen- und Rentenrecht zwischen der ehemaligen DDR und der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Unterschiede bei der Ausgestaltung der Hinterbliebenenrenten an den früheren Ehegatten berücksichtigen und für alle in der DDR geschiedenen Ehen an das seit Juli 1977 in der Bundesrepublik Deutschland geltende Recht anknüpfen. Ob im Rahmen des Art 234 § 5 EGBGB für das Unterhaltsrecht etwas anderes gilt (so Bosch, aa0, S 1387), kann hier dahinstehen. Denn diese Vorschrift regelt allein privatrechtliche Unterhaltsansprüche; auf das Verhältnis zwischen Rentenversicherungsträger und verstorbenen Versicherten einerseits und dessen geschiedener Ehefrau und Rentenversicherungsträger andererseits findet sie keine Anwendung.

Die Revision hat nach alledem keinen Erfolg.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173901

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