Leitsatz (amtlich)

1. War der Versicherte zur Zeit seines Todes aus einem vollstreckbaren Anerkenntnisurteil zur Unterhaltsleistung an die geschiedene Frau verpflichtet, so liegt ein sonstiger Grund im Sinne des AVG § 42 vor.

2. Die Vorschrift in ZPO § 556 über die Anschließung des Revisionsbeklagten an die Revision ist im Verfahren nach dem SGG entsprechend anzuwenden, soweit nicht die grundsätzlichen Unterschiede beider Verfahrensarten dies ausschließen.

3* Gegen die Versäumung der Frist für die unselbständige Anschließung an die Revision kann die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand unter den Voraussetzungen des SGG § 67 gewährt werden.

 

Leitsatz (redaktionell)

Nach SGG § 67 Abs 3 ist die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach innerhalb eines Jahres seit dem Ende der versäumten Frist möglich, wenn höhere Gewalt vorlag. Hierunter wird in der Rechtsprechung ein außergewöhnliches Ereignis verstanden, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann.

Eine auf Überlastung oder Zeitmangel des Prozeßbevollmächtigten beruhende Verhinderung an der rechtzeitigen Einreichung von Prozeßerklärungen stellt aber kein solches außergewöhnliches Ereignis dar.

 

Normenkette

AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; SGG § 67 Abs. 3 Fassung: 1953-09-03; ZPO § 556; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23; ZPO § 521; SGG § 67 Abs. 1 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. April 1957 wird zurückgewiesen.

Der Antrag der Klägerin, ihr gegen die Versäumung der Frist für die Einlegung der Anschlußrevision die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wird abgelehnt.

Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten. Im übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I

Die Klägerin begehrt die Hinterbliebenenrente aus der Angestelltenversicherung ihres früheren Ehemannes Otto Sc… Die Ehe ist im Jahre 1948 aus Alleinverschulden des Mannes geschieden worden. Nach einem Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Neukölln vom 8. Februar 1949 hatte Sc... an die Klägerin eine monatliche Unterhaltsrente von 40,-- DM zu zahlen. Dieser Verpflichtung ist er jedoch nie nachgekommen; Vollstreckungsversuche der Klägerin sind erfolglos gewesen. Im März 1949 hat sich Sc... wieder verheiratet. Vom September 1949 bis zu seinem Tode im August 1951 hat er Sozialunterstützung bezogen.

Die Beklagte und ihre Widerspruchsstelle lehnten den Rentenantrag der Klägerin ab. Das Sozialgericht Berlin wies die Klage ab: Nach § 28 Abs. 3 AVG a.F. in Verbindung mit § 1256 Abs. 4 RVO a. F. könne der geschiedenen Frau die Rente nur gewährt werden, wenn ihr der Versicherte z.Zt. seines Todes nach den Vorschriften des Ehegesetzes Unterhalt zu leisten hatte. Dies sei bei Sc... auf Grund seiner Einkommens- und Vermögensverhältnisse nicht der Fall gewesen (Urteil vom 27.1.1956).

Auf die Berufung der Klägerin änderte das Landessozialgericht Berlin das Urteil des Sozialgerichts dahin ab, daß die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides und des Bescheides der Widerspruchsstelle verurteilt wurde, der Klägerin vom 1. Januar 1957 an Witwenrente zu gewähren, und daß im übrigen die Klage abgewiesen wurde: Nachdem das rechtskräftige Unterhaltsurteil vorliege, sei nicht zu prüfen, ob der Versicherte nach seinen wirtschaftlichen Verhältnissen z.Zt. seines Todes in der Lage war, an die Klägerin Unterhalt zu zahlen. Für ihn habe vielmehr auf Grund des Urteils die Rechtspflicht zur Unterhaltsleistung an die Klägerin bestanden. Eine Abänderungsklage nach § 323 ZPO habe er nicht anhängig gemacht. Die Bescheide der Beklagten und der Widerspruchsstelle seien nicht zu Recht ergangen. Allerdings könne die Beklagte erst für die Zeit vom 1. Januar 1957 an auf Grund des neuen Rechts zur Zahlung der Geschiedenenrente verurteilt werden. Für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 handele es sich um eine Ermessensentscheidung des Versicherungsträgers. Dessen Ermessen dürfe nicht vom Gericht ersetzt werden. Es sei vielmehr Sache der Beklagten, ihr Ermessen selbst auszuüben und einen neuen Bescheid zu erlassen (Urteil vom 12.4.1957).

Das Landessozialgericht ließ die Revision zu. Gegen das ihr am 3. Juni 1957 zugestellte Urteil legte die Beklagte am 28. Juni 1957 Revision ein mit dem Antrag, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin in vollem Umfang zurückzuweisen. Sie begründete die Revision, nachdem die Revisionsbegründungsfrist bis zum 3. September 1957 verlängert worden war, am 29. Juli 1957: Sowohl nach dem früheren, wie auch nach dem seit 1. Januar 1957 geltenden Recht komme es für die Gewährung der Geschiedenenrente nur auf die konkrete Unterhaltspflicht des Versicherten z.Zt. seines Todes an. Hierfür seien neben dem Schuldausspruch im Scheidungsurteil auch die Lebensverhältnisse der bisherigen Eheleute, etwaige Einkünfte der Frau aus eigenem Vermögen oder Erwerbstätigkeit und die Leistungsfähigkeit des Mannes zu berücksichtigen. Der Beklagten obliege es, selbständig die Umstände des Falles zu ermitteln und in eigener Verantwortung zu prüfen, ob. eine konkrete Pflicht zur Unterhaltsleistung vorgelegen habe. Dieser Prüfungspflicht sei sie auch nicht deshalb enthoben, weil ein Unterhaltsurteil vorliege. Dieses Urteil habe ihr gegenüber keine Rechtskraftwirkung. Auf Grund der beiderseitigen Verhältnisse habe die Unterhaltspflicht des Versicherten tatsächlich nicht bestanden, weil er leistungsunfähig gewesen sei. Auch hätten sich die Einkommensverhältnisse der Klägerin nach dem Ergehen des Unterhaltsurteils wesentlich gebessert, weil sie vom September 1950 an für eine Tätigkeit als Näherin regelmäßig 150,-- DM im Monat verdient habe. Dadurch sei ihre Unterhaltsbedürftigkeit weggefallen und die nach dem Unterhaltsurteil bestehende Vermutung widerlegt worden.

Die Klägerin, der auf ihren Antrag das Armenrecht bewilligt wurde, beantragte am 3. Dezember 1957 die Zurückweisung der Revision. Gleichzeitig erhob sie Anschlußrevision mit dem Antrag,

das angefochtene Urteil insoweit abzuändern, als es ihre Berufung zurückgewiesen habe, und der Klage in vollem Umfang zu entsprechen,

hilfsweise, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen.

Für die mit der Anschlußrevision gestellten Anträge bat sie um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

Nach ihrer Auffassung hat eine konkrete Unterhaltspflicht des Versicherten im Hinblick auf das Unterhaltsurteil bestanden. An dessen Rechtskraftwirkung sei die Beklagte aus Gründen der Rechtssicherheit gebunden. Dem Rentenantrag hätte in vollem Umfang stattgegeben werden müssen. Deshalb sei die Anschlußrevision gerechtfertigt. Die im Gesetz (§ 556 ZPO) vorgeschriebene Frist für die Anschließung sei zwar nicht eingehalten. Dies sei aber ohne Verschulden der Klägerin oder ihres Prozeßbevollmächtigten geschehen; denn die Revisionsbegründungsfrist, innerhalb derer die Anschließung des Revisionsbeklagten erfolgen müsse, sei bei Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung des Prozeßbevollmächtigten bereits verstrichen gewesen. Danach sei aber der Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

II

Was zunächst die Revision der Beklagten betrifft, so ist diese form- und fristgerecht erhoben sowie rechtzeitig und formrichtig begründet worden. Sie ist auch statthaft, da die Revision im angefochtenen Urteil nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen wurde; sie ist aber nicht begründet.

In dem angefochtenen Urteil ist die Beklagte zur Zahlung der Geschiedenenrente an die Klägerin vom 1. Januar 1957 an verurteilt worden. Hierbei ist das Landessozialgericht von der seit diesem Tage gültigen Vorschrift in § 42 AVG i.d.F. des AnVNG vom 23. Februar 1957 (BGBl. I S. 88) ausgegangen. Gegen die Anwendung des neuen Rechts im vorliegenden Fall für die Zeit vom 1. Januar 1957 an bestehen keine Bedenken. Zwar ist der Versicherungsfall (Tod des früheren Ehemannes), aus dem die Klägerin ihren Rentenanspruch herleitet, vor dem Inkrafttreten des AnVNG (1.1.1957) eingetreten; die Klägerin hat den Rentenantrag auch schon vor diesem Zeitpunkt gestellt. Wie sich indessen aus Art. 2 § 18 in Verbindung mit Art. 2 § 43 AnVNG ergibt, ist das für die Geschiedenenrente geltende neue Recht in den beim Inkrafttreten des AnVNG bei den Gerichten schwebenden Verfahren auch dann anzuwenden, wenn - wie im vorliegenden Fall - der frühere Ehemann schon vor dem 1. Januar 1957, aber in der Zeit nach dem 30. April 1942 verstorben ist. Dies gilt allerdings nur, soweit es sich um den Rentenanspruch für die Zeit vom 1. Januar 1957 an handelt. Für die vorhergehende Zeit ist, wenn die Hinterbliebenenrente vor dem 1. Januar 1957 beantragt wurde, hierüber noch nach altem Recht zu entscheiden (vgl. BSGE. 5 S. 276).

Die Feststellung des Landessozialgerichts, daß der Klägerin vom 1. Januar 1957 an die Geschiedenenrente nach § 42 AVG n.F. zustehe, ist nicht zu beanstanden. Das neue Recht hat den Rechtszustand, der bis dahin für die Gewährung der Hinterbliebenenrente an die frühere Ehefrau eines Versicherten bestand, in mehrfacher Hinsicht geändert; insbesondere hat § 42 AVG der früheren Ehefrau an Stelle der im bisherigen Recht (§ 28 Abs. 3 AVG a.F., § 1256 Abs. 4 RVO a.F.) enthaltenen Kannleistung eine Leistung gebracht, auf die ihrer Art nach ein Rechtsanspruch besteht; außerdem sind in dieser Vorschrift die Voraussetzungen, bei deren Vorliegen die Geschiedenenrente gewährt wird, gegenüber dem früheren Recht erweitert worden. Nunmehr hat die geschiedene Frau Anspruch auf die Rente, wenn der Versicherte z.Zt. seines Todes ihr Unterhalt entweder nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte, oder wenn er ihr Unterhalt aus sonstigen Gründen zu leisten hatte oder wenn er im letzten Jahr vor seinem Tode Unterhalt geleistet hat. Letzteres war bei der Klägerin nicht der Fall; der Versicherte hat ihr nach der Scheidung keinen Unterhalt geleistet. Danach kommt es für die Entscheidung des Rechtsstreits darauf an, ob eine der beiden anderen Voraussetzungen des § 42 AVG gegeben ist.

Das in § 42 AVG zuerst genannte Erfordernis für die Gewährung der Geschiedenenrente, nämlich daß der Versicherte z.Zt. seines Todes Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu leisten hatte, stimmt - von der Änderung der Wortfolge abgesehen - mit der bisherigen Regelung in § 1256 Abs. 4 RVO a.F. überein. Beide Vorschriften sind insoweit gleich auszulegen (BSGE. 5 S. 276/283). Zu der Frage, unter welchen Voraussetzungen im Sinne von § 1256 Abs. 4 RVO a.F. eine Leistungspflicht des Versicherten nach den Vorschriften des Ehegesetzes zu bejahen ist, hat das Bundessozialgericht schon wiederholt Stellung genommen.

So hat der Senat in seinem Urteil vom 23. August 1956 (BSG. 3 S. 199) entschieden, der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau sei nicht nur davon abhängig, daß der Mann im Scheidungsurteil allein oder überwiegend für schuldig erklärt wurde; es komme vielmehr auch auf die bisherigen Lebensverhältnisse der Ehegatten, etwaige Einkünfte der Frau, sowie darauf an, ob der Mann im Sinne von § 59 des Ehegesetzes zur Leistung von Unterhalt an die Frau imstande sei. Die Rentengewährung an die geschiedene Frau hänge von der konkreten Pflicht des Mannes zur Unterhaltsleistung ab. Der Versicherungsträger und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit hätten diese Umstände in jedem einzelnen Falle nachzuprüfen. In dem damals entschiedenen Fall hat der Senat den Rentenanspruch der Klägerin als unbegründet angesehen, weil der Versicherte z.Zt. seines Todes mittellos und nicht in der Lage war, Unterhalt zu leisten. In dem vom 5. Senat mit Urteil vom 6. Juni 1957 - BSGE. 5 S. 179 - entschiedenen Fall wurde das Bestehen eines Unterhaltsanspruchs im Sinne von § 1256 Abs. 4 RVO a.F. deshalb verneint, weil die Klägerin über ausreichende Einkünfte aus eigener zumutbarer Erwerbstätigkeit verfügte und deshalb nicht als unterhaltsbedürftig angesehen werden konnte. Auch der 3. Senat hat in seinem Urteil vom 21. August 1957 (BSGE. 5 S. 276) ausgeführt, bei Prüfung des Anspruchs auf die Geschiedenenrente sei von Amts wegen zu ermitteln, ob der Unterhaltsanspruch der geschiedenen Frau durch mangelnde Leistungsfähigkeit des Mannes z.Zt. seines Todes eingeschränkt oder ganz ausgeschlossen war; es müßten die Vorschriften des Ehegesetzes in ihrer Gesamtheit berücksichtigt werden, weil nur eine solche umfassende Würdigung die Feststellung ermöglichen könne, ob der geschiedene Mann nach den Vorschriften dieses Gesetzes z.Zt. seines Todes zur Unterhaltsleistung verpflichtet war.

Bei den vom Bundessozialgericht bisher entschiedenen Streitfällen hat es sich aber um solche Streitigkeiten gehandelt, in denen lediglich ein Scheidungsurteil mit Schuldigerklärung des Mannes vorlag. In solchen Fällen ist es allerdings in Ermangelung sonstiger Anhaltspunkte für das Bestehen der im Gesetz vorausgesetzten Leistungsverpflichtung des Versicherten Aufgabe der Versicherungsträger und im Streitfall der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, sämtliche Umstände, die für das Bestehen dieser Verpflichtung in dem maßgebenden Zeitpunkt von Bedeutung sind, zu klären und über die Unterhaltspflicht des Versicherten nach den Vorschriften des Ehegesetzes als Vorfrage zu entscheiden. Eine andere Beurteilung muß aber dann gelten, wenn die geschiedene Frau - wie hier - im Anschluß an die Scheidung der Ehe beim zuständigen Zivilgericht einen Vollstreckungstitel über ihren Unterhaltsanspruch erwirkt hat und dieser Vollstreckungstitel - hier das mit Vollstreckungsklausel versehene Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Neukölln vom 8. Februar 1949 - bis zum Tode des Versicherten gültig geblieben ist. Wie das Landessozialgericht zutreffend ausgeführt hat, ist in einem solchen Falle vom Versicherungsträger und von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht nachzuprüfen, ob eine Leistungspflicht des Versicherten nach den Vorschriften des Ehegesetzes bestanden hat. Die Verpflichtung des Versicherten zur Unterhaltsleistung wird hier durch den Vollstreckungstitel nachgewiesen; er bildet einen "sonstigen Grund" für diese Unterhaltspflicht im Sinne der zweiten Alternative in § 42 AVG. Er begründet einen von dem materiellrechtlichen Anspruch verschiedenen Vollstreckungsanspruch, der zwar unmittelbar gegen den Staat gerichtet ist, der aber bewirkt, daß der Berechtigte von den staatlichen Organen jederzeit die Verwirklichung des Leistungsbefehls verlangen kann, der dem Verpflichteten in der Entscheidung erteilt ist (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Zivilprozeßrechts, 7. Aufl. S. 845 ff.). Liegt ein solcher Vollstreckungstitel vor, so ist - ohne Rücksicht darauf, ob er auf den Vorschriften des Ehegesetzes beruht oder nicht - eine konkrete Verpflichtung des Schuldners zur Unterhaltsleistung gegeben. Die Beklagte kann nicht einwenden, daß das zwischen den geschiedenen Eheleuten ergangene Unterhaltsurteil ihr gegenüber keine Rechtskraftwirkung habe. Es ist allerdings richtig, daß die Rechtskraft eines Zivilurteils grundsätzlich nur zwischen den Parteien des betreffenden Rechtsstreits und ihren Rechtsnachfolgern wirkt (§ 325 ZPO). Im vorliegenden Rechtsstreit handelt es sich aber nicht um die Frage, ob eine Bindung an das im Zivilprozeß zwischen den damaligen Parteien ergangene rechtskräftige Urteil besteht, ob also dieses Urteil für die Beklagte und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit sogenannte Tatbestandswirkung hat. Ob dies der Fall ist, kann dahingestellt bleiben. Entscheidend ist vielmehr, daß die Klägerin in der maßgeblichen Zeit einen rechtsgültigen Vollstreckungstitel in Händen hatte, der dem Versicherten regelmäßig wiederkehrende Unterhaltszahlungen an die Klägerin aufgab. Daß dieser Titel nicht auf dem Ergebnis einer Nachprüfung der materiellen Rechtslage durch das Zivilgericht, sondern auf einem Anerkenntnis des Versicherten (§ 307 ZPO) beruhte, ist ohne Bedeutung. Für die hier eintretende Wirkung kommen alle Vollstreckungstitel in Betracht, die im 8. Buch der Zivilprozeßordnung (§§ 704 ff., 794) aufgezählt sind - also auch vollstreckbare Vergleiche, Versäumnisurteile, vollstreckbare Urkunden u.a. -, sofern sie nur erkennbar Unterhaltsleistungen betreffen, die auf der vorausgegangenen Ehe - nicht etwa auf einer Vermögensauseinandersetzung zwischen den Geschiedenen - beruhen. Erforderlich ist aber, daß der Vollstreckungstitel bis zum Tode des Versicherten rechtsgültig geblieben ist. Dies ist hier der Fall. Der Versicherte hat keine Abänderungsklage nach § 323 ZPO durchgeführt, mit der er möglicherweise wegen eigener Leistungsunfähigkeit oder mangelnder Unterhaltsbedürftigkeit der Klägerin die Beseitigung des Titels für die Zukunft erreicht hätte. Seine Verpflichtung zur Unterhaltsleistung an die Klägerin bestand bis zu seinem Tode fort. Danach kann aber die Beklagte die Einwendungen, die dem Versicherten etwa nach § 323 ZPO zugestanden hätten, nach dessen Tode nicht mehr geltend machen. Sie kann sich deshalb auch nicht darauf berufen, daß die Klägerin z.Zt. des Todes des Versicherten über ausreichende regelmäßige Einnahmen verfügte und deshalb nicht unterhaltsbedürftig war. Schließlich ist es auch ohne Bedeutung, daß der Versicherte dem vollstreckbaren Anspruch der Klägerin nie entsprochen hat und daß die Vollstreckungsversuche der Klägerin ohne Erfolg geblieben sind. Daß es hierauf nicht ankommen kann, ergibt sich schon daraus, daß § 42 AVG die (im letzten Jahr vor dem Tode erfolgte) tatsächliche Leistung von Unterhalt - gleichgültig ob sie freiwillig oder auf Grund einer Zwangsvollstreckung geschehen ist - zu einer selbständigen Voraussetzung für die Gewährung der Geschiedenenrente erklärt hat. Zutreffend hat daher das angefochtene Urteil angenommen, daß nach dem vollstreckbaren Anerkenntnisurteil des Amtsgerichts Neukölln vom 8. Februar 1949 der Versicherte z.Zt. seines Todes der Klägerin Unterhalt zu leisten hatte. Die Voraussetzungen des § 42 AVG sind danach gegeben. Die Klägerin hat nach dieser Vorschrift vom 1. Januar 1957 an Anspruch auf die Geschiedenenrente. Die Revision der Beklagten muß daher zurückgewiesen werden.

III

Was die Anschlußrevision der Klägerin betrifft, so ist zunächst zu prüfen, ob diese im Verfahren vor dem Bundessozialgericht erhoben werden kann. Gegen die Zulässigkeit der Anschlußrevision bestehen keine Bedenken, wenn sich der Revisionsbeklagte noch innerhalb der (für ihn laufenden) Revisionsfrist der Revision des Gegners anschließt. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit und Statthaftigkeit einer solchen selbständigen Anschließung sind die gleichen wie bei der Revision. Sie wird wie diese selbständig behandelt, wenn die Revision des Gegners zurückgenommen oder als unzulässig verworfen worden ist. Im vorliegenden Fall ist die Anschlußrevision nach Ablauf der Revisionsfrist eingelegt. Es handelt sich deshalb um eine sogenannte unselbständige Anschlußrevision. Diese ist im SGG nicht geregelt. Es muß daher auf die Vorschriften der ZPO zurückgegriffen werden, die entsprechend anzuwenden sind, wenn nicht die Unterschiede beider Verfahrensarten dies ausschließen (§ 202 SGG). Die ZPO regelt die Anschlußrevision in § 556. Danach kann sich der Revisionsbeklagte bis zum Ablauf der Begründungsfrist der Revision anschließen, selbst wenn er auf die Revision verzichtet hat. Es bestehen keine Bedenken, diese Vorschrift im sozialgerichtlichen Verfahren entsprechend anzuwenden; die Gründe, die für die entsprechende Anwendung der Vorschriften über die unselbständige Anschlußberufung (§§ 521 ff. ZPO) im sozialgerichtlichen Verfahren sprechen (BSGE. 2 S. 229 - SozR. AA 1 Nr. 1 zu § 1444 RVO), treffen auch hier zu. Die grundsätzlichen Unterschiede der beiden Verfahrensarten schließen die entsprechende Anwendung nicht aus.

Die unselbständige Anschlußrevision ist - wie auch die unselbständige Anschlußberufung - kein Rechtsmittel, sondern ein angriffsweise wirkender Antrag des Revisionsbeklagten innerhalb der Revision des Gegners (vgl. BGH. in NJW. 1952 S. 384 Nr. 14). Mit ihr wird erreicht, daß das Revisionsgericht das angefochtene Urteil nicht nur innerhalb der Anträge des Revisionsklägers, sondern darüber hinaus auch im Rahmen der Anträge des Revisionsbeklagten nachprüfen kann, ohne das Verbot der reformatio in peius zu verletzen. Für die Form der unselbständigen Anschlußrevision sind neben den für die Revision geltenden Vorschriften (§ 164 Abs. 2 SGG) diejenigen des § 556 ZPO zu beachten. Danach ist die Revisionsanschlußschrift beim Bundessozialgericht bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist einzureichen. Abweichend von § 164 Abs. 1 SGG besteht für die Begründung der Anschlußrevision keine weitere Frist, die Begründung ist vielmehr schon mit der Anschlußerklärung einzureichen (§ 556 Abs. 2 Satz 2 ZPO).

Das Landessozialgericht hat über den Rentenanspruch der Klägerin nur für die Zeit vom 1. Januar 1957 an sachlich entschieden. Die Klägerin erstrebt mit der Anschlußrevision eine Entscheidung des Gerichts über ihren Rentenanspruch auch für die vorhergehende Zeit. Die Anschlußrevision ist jedoch entgegen § 556 Abs. 1 ZPO nicht bis zum Ablauf der Revisionsbegründungsfrist eingereicht worden. Diese Frist lief, da das Urteil des Landessozialgerichts der Beklagten am 3. Juni 1957 zugestellt wurde, nach § 164 Abs. 1 SGG am 3. August 1957 ab (nachdem die Frist für die Einlegung der selbständigen Revision für die Klägerin bereits am 3. Juli 1957 abgelaufen war). Die Anschlußrevision ist aber erst am.3. Dezember 1957, also verspätet, beim Bundessozialgericht eingegangen.

An der rechtzeitigen Einreichung der Anschlußrevision war die Klägerin durch ihre Armut und damit ohne ihr Verschulden im Sinne von § 67 Abs. 1 SGG verhindert. Aber auch ihr Antrag auf Bewilligung des Armenrechts ist erst nach Ablauf der Begründungsfrist, nämlich am 22. August 1957, beim Bundessozialgericht eingegangen. Auf Antrag der Beklagten ist allerdings die Revisionsbegründungsfrist vom Senatsvorsitzenden nach § 164 Abs. 1 Satz 2 SGG bis zum 3. September 1957 verlängert worden. Diese Verlängerung kommt auch der Klägerin zugute (RGZ. 156 S. 156, BGH. in ZZP Bd. 64 S. 386). Innerhalb der verlängerten Revisionsbegründungsfrist Ist zwar nicht die Anschlußrevision, wohl aber das Armenrechtsgesuch der Klägerin eingegangen. Es ist damit - unter dem Gesichtspunkt der Anschlußrevision - rechtzeitig gestellt worden. Es kann der Klägerin daher die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden, wenn die Voraussetzungen des § 67 SGG gegeben sind (vgl. BGH. in NJW. 1952 S. 425). Dies trifft aber nicht zu.

Der Klägerin wurde auf ihren Antrag mit Beschluß des Senats vom 11. September 1957 das Armenrecht bewilligt und ihr ihr derzeitiger Prozeßbevollmächtigter beigeordnet. Die Ausfertigung des Beschlusses ist dem Prozeßbevollmächtigten am 19. September 1957 zugestellt worden. Mit diesem Tag ist die Verhinderung der Klägerin im Sinne von § 67 Abs. 1 SGG weggefallen. Der Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und die Erklärung über den Anschluß an die Revision der Beklagten hätten daher nach § 67 Abs. 2 SGG innerhalb eines Monats, d.h. bis zum Ablauf des 19. Oktober 1957 beim Bundessozialgericht eingehen müssen. Die Erklärungen der Klägerin sind jedoch erst am 3. Dezember 1957 und damit verspätet eingegangen.

Nach § 67 Abs. 3 SGG ist allerdings die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand noch innerhalb eines Jahres seit dem Ende der versäumten Frist möglich, wenn höhere Gewalt vorlag. Hierunter wird in der Rechtsprechung ein außergewöhnliches Ereignis verstanden, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende Sorgfalt nicht verhütet werden kann (RGZ. 158 S. 361; BGHZ. 17 S. 199). Eine auf Überlastung oder Zeitmangel des Prozeßbevollmächtigten beruhende Verhinderung an der rechtzeitigen Einreichung von Prozeßerklärungen stellt aber kein solches außergewöhnliches Ereignis dar. Die Jahresfrist in § 67 Abs. 3 SGG für die Nachholung der versäumten Rechtshandlung kommt der Klägerin deshalb nicht zugute. Ihr Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ist vielmehr abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Da die Klägerin nur mit einem Teil ihrer Ansprüche obgesiegt hat, hat ihr die Beklagte nur die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1982603

BSGE, 24

MDR 1958, 801

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