Leitsatz (amtlich)

Die Voraussetzung des RVO § 1256 Abs 4 (Fassung: 1949-06-17), nach der der Versicherte zur Zeit seines Todes der geschiedenen Frau "Unterhalt nach den Vorschriften des Ehegesetzes" zu leisten hatte, ist nicht erfüllt, wenn zwar ein vollstreckbar Unterhaltsurteil vorliegt, sich aber aus dem Ehegesetz selbst kein Unterhaltsanspruch ergibt. Ein Unterhaltsurteil kann allerdings einen "sonstigen Grund" für die Unterhaltspflicht im Sinne des AVG § 42 (Fassung: 1967-02-23) bilden (Vergleiche BSG 1958-07-29 1 RA 109/57 = BSGE &, 24).

 

Normenkette

RVO § 1256 Abs. 4 Fassung: 1949-06-17; AVG § 42 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1265 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. August 1956 wird zurückgewiesen, soweit der Anspruch die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 betrifft. In übrigen ist der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt.

Die Beklagte hat der Klägerin die Hälfte der außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten; insoweit wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 28. August 1956 aufgehoben.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Die Klägerin ist die geschiedene Frau des Ingenieurs H... Dieser ist am 1. August 1952 gestorben. Er gehörte der Rentenversicherung der Angestellten (AV.) an. Bei seinem Tode waren die Wartezeit und die Anwartschaft geordnet. Die Klägerin erstrebt die Bewilligung einer Hinterbliebenenrente aus der AV.

Die Ehe der Klägerin wurde 1937 aus alleinigem Verschulden des Mannes geschieden. Aus dieser Ehe lebt die im März 1934 geborene Tochter E... Der Versicherte heiratete 1940 wieder. Aus der zweiten Ehe stammt das im November 1943 geborene Kind B... Das Oberlandesgericht (OLG.) Düsseldorf verurteilte 1944 den geschiedenen Mann, der Klägerin - unbeschadet der Unterhaltszahlung für die Tochter E... von 50,-- RM im Monat - eine Unterhaltsrente von nicht über 60,-- RM monatlich zu zahlen. Dieses Urteil erfüllte der Versicherte nur zum Teil und nur zeitweise. Es enthält auch keinen "Umstellungsvermerk", wie er seit der Währungsreform 1948 zur Zwangsvollstreckung eines RM-Urteils erforderlich ist, falls der RM-Betrag unabgewertet in DM gefordert wird (§ 1 der 16. Durchführungs-Verordnung zum Umstellungsgesetz). Die Klägerin hat also zumindest seit der Währungsumstellung 1948 keine Vollstreckungsversuche mehr unternommen.

Die Landesversicherungsanstalt (LVA.) Berlin, die damals die Aufgaben der AV. für ihren Bezirk mit wahrnahm, lehnte den Rentenantrag der Klägerin ab (Bescheid vom 8.12.1953). Ihr Widerspruch blieb ohne Erfolg (Bescheid der Beklagten vom 5.4.1954), ebenso ihre Klage beim Sozialgericht (SG.) Berlin und ihre Berufung an das Landessozialgericht (LSG.) Berlin (Urteile vom 13.1.1956 und 28.8.1956). Das LSG. führte aus, Voraussetzung für die Gewährung einer Hinterbliebenenrente an die geschiedene Frau sei u.a. die bis zum Tode fortdauernde, auf dem Ehegesetz beruhende Unterhaltspflicht des Versicherten (§ 28 Abs. 3 Satz 2 AVG a.F. in Verbindung mit § 1256 Abs. 4 RVO a.F.; §§ 1, 54 des Berliner Rentenversicherungs-Überleitungsgesetzes - RVÜG -). Diese sei zu verneinen. Der Versicherte habe zur Zeit seines Todes etwa 600,-- DM brutto, die Klägerin selbst zu dieser Zeit etwa 180,-- DM im Monat verdient. Unter Berücksichtigung der beiderseitigen Einkommensverhältnisse und seiner neuen Unterhaltsverpflichtungen habe der Versicherte nach den Ehegesetz vom 20. Februar 1946 (EheG) der Klägerin keinen Unterhalt leisten müssen (§ 59 EheG). Auf das Unterhaltsurteil des OLG. Düsseldorf komme es nicht an.

Das LSG. ließ die Revision zu. Die Klägerin legte gegen das ihr am 18. September 1956 zugestellte Urteil des LSG. am 16. Oktober 1956 Revision ein und begründete sie - nach Verlängerung der Begründungsfrist bis zum 18. Dezember 1956 - am 11. Dezember 1956. Sie beantragte, die Entscheidungen aller Vorinstanzen aufzuheben und festzustellen, daß ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt im Sinne der §§ 1256 Abs. 4 RVO a.F., 59 EheG zu leisten hatte: Die Unterhaltspflicht ihres geschiedenen Mannes ergäbe sich aus dem Unterhaltsurteil des OLG. Düsseldorf; dieses Urteil sei weder aufgehoben noch gerichtlich geändert worden; es sei für die Versicherungsträger und die Sozialgerichte bindend; im übrigen entfalle im Sinne des § 1256 Abs. 4 RVO a.F. die Unterhaltspflicht eines schuldig geschiedenen Mannes nur dann, wenn die Frau Vermögen habe und ihren Unterhalt aus dessen Stamm bestreiten könne (§ 59 Abs. 2 EheG).

Die Beklagte beantragte zunächst, die Revision vollen Umfangs zurückzuweisen. Mit Schriftsatz vom 5. September 1958 erkannte sie jedoch den Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Januar 1957 an und bat im Schriftsatz vom 31. Oktober 1958, die Hauptsache insoweit für erledigt zu erklären. Die Klägerin nahm das Anerkenntnis der Beklagten an.

Die Revision ist zulässig, für den streitig gebliebenen Teil aber unbegründet.

Der Versicherte ist im August 1952 gestorben, die Hinterbliebenenrente im Oktober 1952 beantragt worden. Der Anspruch der Klägerin ist für die Zeit bis zum 31. Dezember 1956 nach dem damals geltenden - "altem" - Recht zu beurteilen. Es sind dies die Vorschriften in den 28 Abs. 3 Satz 2 AVG a.F., 1256 Abs. 4 RVO a.F., 1, 54 RVÜG. Das "Gesetz zur Neuregelung des Rechte der Rentenversicherung der Angestellten" vom 23. Februar 1957 (AnVNG) hat insoweit keine Änderung gebracht. Dies folgt, wie das Bundessozialgericht (BSG.) bereits klargestellt hat, aus Artikel 2 §§ 43, 18, 24 Abs. 2 und Artikel 3 § 7 AnVNG (vgl. BSG. 5 S. 276).

Nach altem Recht ist die Hinterbliebenenrente an die geschiedene Ehefrau eine Kannleistung. Bevor der Versicherungsträger jedoch prüfen darf, ob er nach seinem Ermessen eine solche Rente gewähren will oder nicht, müssen die Voraussetzungen, die das Gesetz für ihre Bewilligung aufstellt, gegeben sein: Erfüllung der Wartezeit, Erhaltung der Anwartschaft, Eintritt des Versicherungsfalls und Verpflichtung des Versicherten zur Leistung von Unterhalt nach dem EheG an die geschiedene Frau bis zur Zeit des Todes hin (§§ 28 Abs. 3 Satz 2 AVG a.F., 1256 Abs. 4 RVO a.F.; BSG. 3 S. 197). Fehlt es an einer dieser Voraussetzungen, so ist der Antrag; abzulehnen. Von dieser Rechtsauffassung sind sowohl die beteiligten Versicherungsträger als auch die Vorinstanzen ausgegangen. Sie haben den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Hinterbliebenenrente abgelehnt, weil sie übereinstimmend eine Unterhaltspflicht des geschiedenen Mannes nach den Vorschriften des EheG zur Zeit seines Todes verneint haben. Die übrigen gesetzlichen Voraussetzungen haben sie - mit Recht - bejaht.

Der allein oder überwiegend für schuldig erklärte Mann ist grundsätzlich verpflichtet, der geschiedenen Frau den nach den Lebensverhältnissen der Ehegatten angemessenen Unterhalt zu gewähren, soweit die Einkünfte aus dem Vermögen der Frau und die Erträgnisse ihrer etwaigen Erwerbstätigkeit nicht ausreichen (§ 58 EheG). Gefährdet der geschiedene Mann durch das Gewähren dieses Unterhalts bei Berücksichtigung seiner sonstigen - auch der später hinzugetretenen - Verpflichtungen den eigenen angemessenen Unterhalt, so braucht er nur soviel zu leisten, als es mit Rücksicht auf die Bedürfnisse und die Vermögens- und Erwerbsverhältnisse der geschiedenen Ehegatten der Billigkeit entspricht (§ 59 EheG). Beim Abwägen aller Möglichkeiten und Interessen kann seine Pflicht zur Unterhaltsleistung ganz entfallen, auch wenn die Frau kein Vermögen hat und daher nicht in der Lage ist, ihren Unterhalt daraus zu bestreiten (BSG. 3 S. 197; 5 S. 276). Diese Folgerung muß im vorliegenden Rechtsstreit _ in Übereinstimmung mit den Vorinstanzen - gezogen werden. Der Versicherte hatte vor seinem Tode ein Bruttoeinkommen von rund 600,-- DM im Monat. Aus dem ihm davon verbleibenden Nettoeinkommen mußte er neben den notwendigen Ausgaben zur Erhaltung des Arbeitsplatzes den Lebensunterhalt für seine Frau, seine beiden Töchter und sich selbst bestreiten. Die Klägerin hatte nach ihren eigenen Angaben damals für sich Einnahmen von rund 180,-- DM monatlich. Das ist ein Betrag, der ihr etwa die gleiche Lebensführung ermöglichte wie dem Versicherten und seiner neuen Familie. Der geschiedene Mann hatte ihr daher bei einem Vergleich und Abwägen der gegenseitigen Verhältnisse zur Zeit seines Todes keinen Unterhalt nach den Vorschriften des EheG zu leisten (vgl. BSG. 5 S. 179). Damit fehlt für die Zeit bis Ende 1956 eine notwendige Voraussetzung für die Bewilligung der erstrebten Rente.

Diese Voraussetzung wird auch nicht dadurch erfüllt, daß die Klägerin ein vollstreckbares Unterhaltsurteil besitzt. § 1256 Abs. 4 RVO a.F. verlangt eindeutig eine Pflicht des Versicherten zur Unterhaltsleistung "nach den Vorschriften des EheG", und zwar "zur Zeit des Todes". Das Gesetz fordert also daß sich zu dieser Zeit unmittelbar aus dem EheG selbst ein Unterhaltsanspruch ergibt. Die Rente für die geschiedene Frau ist nach Grund und Höhe (vgl. auch § 1272 Abs. 4 RVO a.F.) auf den eherechtlichen Unterhaltsanspruch abgestimmt worden. Dieser muß vom Versicherungsträger und gegebenenfalls den Sozialgerichten selbständig geprüft und beurteilt werden (im Ergebnis ebenso: Barth, Die Sozialvorsicherung 1956 S.228; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 5. Auflage, S. 696; Hastler, Deutsche Versicherungszeitschrift 1950 S. 350). Ein solcher Anspruch bestand aber, wie bereits dargelegt worden ist, zur Zeit des Todes des Versicherten nicht. Das vollstreckbare Unterhaltsurteil begründet einen davon unterschiedlichen Vollstreckungsanspruch (vgl. Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage, S. 845 ff.). Diese formale Leistungsverpflichtung auf Grund des Vollstreckungstitels braucht sich aber nicht mit der Verpflichtung "nach den Vorschriften des Ehegesetzes" zu decken, zumal dann nicht, wenn die Zeit der Urteilsfällung und die Zeit des Todes weit auseinanderfallen. Das Unterhaltsurteil gewährt zwar einen äußeren Rechtsschutz, selbst wenn der sachlich-rechtliche Anspruch fehlt; der Schuldner kann aber durch eine Abänderungsklage nach § 323 Zivilprozeßordnung (ZPO) oder unter Umständen durch eine Vollstreckungsabwehrklage nach § 767 ZPO den Wegfall des materiellen Anspruchs geltend machen. Die sozialversicherungsrechtliche Vorschrift in ihrer damaligen Fassung macht jedoch die Rentengewährung an die geschiedene Frau gerade von dem Bestehen dieses materiellen Anspruchs abhängig. Ob ein solcher Anspruch vorliegt, haben die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit selbständig zu prüfen; sie sind an die Entscheidungen im Unterhaltsverfahren nicht gebunden. Erst das AnVNG hat eine Erweiterung der Voraussetzungen für Renten an geschiedene Frauen gebracht. Für die Zeit vom 1. Januar 1957 an muß der geschiedenen Frau die Hinterbliebenenrente auch dann gewährt werden, wenn - u.a. - ihr der Versicherte zur Zeit seines Todes Unterhalt "aus sonstigen Gründen" zu leisten hatte (§ 42 AVG n.F.). Nach der Rechtsprechung des Senats bildet ein Vollstreckungstitel einen "sonstigen Grund" für die Unterhaltspflicht im Sinne dieser Vorschrift (Urteil vom 29.7.1958 - 1 RA 109/57). Eine darüberhinausgehende Bedeutung kommt dem Unterhaltsurteil der Klägerin in diesem Zusammenhang nicht zu.

Die Beklagte hat folgerichtig ihre Pflicht zur Gewährung der Hinterbliebenenrente für die Zeit vom 1. Januar 1957 an anerkannt; sie lehnte mit Recht die Ansprüche der Klägerin für die vorhergehende Zeit ab. Der Senat vermag nicht festzustellen, daß der Versicherte zur Zeit seines Todes der Klägerin Unterhalt im Sinne des § 1256 Abs. 4 RVO a.F. zu leisten hatte.

Die Kostenentscheidung berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens: Erfolg der Klägerin für die Zeit vom 1. Januar 1957 an, Erfolg der Beklagten für die vorhergehende Zeit; sie beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1959, 311

MDR 1959, 157

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