Leitsatz (amtlich)

Sind Gegenstand des Rechtsstreits Kürzungen des Honorars eines Kassenarztes, die sich auf mehrere Abrechnungszeiträume (Vierteljahre) erstrecken, so betrifft die Klage einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen. Die Berufung ist daher nicht nach SGG § 144 Abs 1 Nr 2 SGG ausgeschlossen (Ergänzung BSG 1959-11-27 6 RKa 4/58 = BSGE 11, 102).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 18. November 1960 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

I.

Der Kläger ist praktischer Arzt in Heide/Holstein und als Kassenarzt Mitglied der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KV). An seinen Honorarforderungen für das 1. und 2. Vierteljahr 1958 sowie an seinen Wegegebührenforderungen für die vier Vierteljahre des Jahres 1958 nahm der Prüfungsausschuß der beklagten KV für die Kreisstelle Norderdithmarschen Kürzungen vor. Gegen diese Kürzungsbescheide legte der Kläger jeweils Einspruch ein. Sämtliche Einsprüche wies der RVO-Beschwerdeausschuß der beklagten KV in seiner Sitzung vom 8. Juli 1957 zurück. Der Kläger erhielt hierüber einen ausführlich begründeten Bescheid vom 12. August 1959.

Der Kläger hält diesen Bescheid aus mehreren Gründen für nichtig. Er beanstandet, daß an der dem genannten Bescheid zugrunde liegenden Entscheidung mehrere Ärzte mitgewirkt hätten, die er wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt habe. Der Bescheid kranke ferner daran, daß er auf Prüfungsvorschriften und -richtlinien beruhe, die ihrerseits mangels gesetzlicher Ermächtigung und wegen Verstoßes gegen die Reichsversicherungsordnung (RVO) nichtig seien. Auch sei ihm vom Kreisprüfungsausschuß nicht rechtliches Gehör gewährt worden. Der Kläger hat vor dem Sozialgericht (SG) beantragt,

die Nichtigkeit des Bescheides vom 12. August 1959 festzustellen,

hilfsweise:

den Bescheid aufzuheben.

Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. März 1960). Es hat das Gesuch des Klägers auf Ablehnung aller Kassenärzte als Sozialrichter als unzulässig angesehen. In der Sache selbst hat es weder die Nichtigkeitsfeststellungsklage noch die - hilfsweise erhobene - Aufhebungsklage für begründet erachtet.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung eingelegt mit dem Antrag

1.) das angefochtene Urteil aufzuheben,

2.) die Nichtigkeit des Bescheides der beklagten KV vom 12. August 1959 festzustellen,

hilfsweise:

den Bescheid aufzuheben.

Er lehnte erneut Kassenärzte als ehrenamtliche Beisitzer im gerichtlichen Verfahren ab und machte ergänzend zu seinem bisherigen Vorbringen noch geltend, daß auch die Satzung der beklagten KV nichtig sei.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung als unzulässig verworfen; die Revision wurde zugelassen (Urteil vom 18. November 1960). Das LSG ist davon ausgegangen, daß die Honorarforderungen eines Kassenarztes gegenüber seiner KV "wiederkehrende Leistungen" im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) seien. Entgegen der in BSG 11, 108 vertretenen Auffassung des Senats ist es jedoch der Meinung, daß jede für ein Quartal geltend gemachte Honorarforderung ein selbständiger Anspruch sei, für den im Sinne der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) die Zulässigkeit des Rechtsmittels jeweils gesondert zu prüfen sei. Da der Rechtsstreit somit vier selbständige Ansprüche betreffe, von denen jeder sich nur auf einen Zeitraum bis zu 13 Wochen beziehe, sei die Berufung nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG ausgeschlossen. Da das SG die Berufung nicht zugelassen habe, müsse sie als unzulässig verworfen werden.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger - nach Bewilligung des Armenrechts für das Verfahren vor dem BSG und Beiordnung eines Rechtsanwalts als Prozeßbevollmächtigten - innerhalb eines Monats nach Zustellung des Beschlusses über die Bewilligung des Armenrechts Revision eingelegt mit dem Antrag,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils den in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG gestellten Anträgen stattzugeben

oder

den Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Ferner hat er beantragt,

ihm gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Revision Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.

Der Kläger rügt in erster Linie, daß das LSG, anstatt eine Entscheidung in der Sache selbst zu treffen, ein Prozeßurteil erlassen habe. Gegenstand des Rechtsstreits seien nicht vier selbständige Ansprüche, sondern ein Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von mehr als dreizehn Wochen.

Weiterhin macht der Kläger geltend, daß die Berufung auch nach § 150 SGG zulässig gewesen sei. Es sei ein wesentlicher Mangel des Verfahrens gewesen, daß das SG die Berufung nicht wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache zugelassen habe. Zum mindesten hätte das LSG die Sache an das SG zur Nachholung seiner Entscheidung über die Zulassung zurückverweisen müssen.

Die beklagte KV hat um

Zurückweisung der Revision

gebeten. Sie tritt der Auffassung des LSG bei, daß die Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die KV'en zwar als wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG anzusehen seien, daß sie aber für jedes Abrechnungsquartal einen selbständigen Anspruch begründeten.

II.

1.) Dem Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einlegung und Begründung der Revision (§ 164 Abs. 1 SGG) ist stattzugeben. Der Revisionskläger war durch seine wirtschaftliche Lage daran gehindert, die Revision in der richtigen Form - nämlich durch einen vor dem BSG zugelassenen Prozeßbevollmächtigten (§ 166 SGG) - einzulegen. Dieses Hindernis ist mit der Bewilligung des Armenrechts weggefallen. Innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses (vgl. § 67 Abs. 2 Sätze 1 und 3 SGG) ist die versäumte Rechtshandlung - Einlegung und Begründung der Revision (BSG 8, 207) - nachgeholt worden. Demnach sind die Voraussetzungen für die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erfüllt.

Einer besonderen förmlichen Entscheidung über den Wiedereinsetzungsantrag bedurfte es nicht. Sie konnte in den Entscheidungsgründen des Urteils mit getroffen werden (BSG 6, 80, 82).

2.) Die Revision ist begründet. Zu Unrecht hat das LSG die Berufung als unzulässig verworfen, anstatt in der Sache selbst zu entscheiden.

Streitgegenstand ist der die Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses bestätigende Bescheid des Beschwerdeausschusses der beklagten KV, dessen Nichtigkeit der Kläger in erster Linie festgestellt wissen will. Aus der prozessualen Einkleidung der Klage (Aufhebungs-, Leistungs-, Feststellungsbegehren) läßt sich jedoch noch nicht entnehmen, ob die Berufung nach § 144 Abs. 1 SGG ausgeschlossen ist; denn diese Vorschrift stellt nicht auf den prozessualen Gegenstand der Klage, sondern auf "Ansprüche" ab. Die Berufungsfähigkeit eines Urteils hängt somit im Rahmen des § 144 Abs. 1 SGG davon ab, ob der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Verwaltungsakt "Ansprüche" der in dieser Vorschrift genannten Art betrifft (BSG 4, 206, 108).

Zutreffend hat das LSG in Anlehnung an die Entscheidung des erkennenden Senats vom 27. November 1959 (BSG 11, 102, 107) die Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die KV als Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG angesehen. Diese Ansprüche beruhen auf einem einheitlichen Stammrecht - dem Mitgliedschaftsverhältnis bei der KV - und werden der Art nach immer gleich regelmäßig wiederkehrend in vierteljährlichen Zeitabständen geltend gemacht ("abgerechnet"). Daß sie auch nach dem sozialpolitischen Zweck des § 144 Abs. 1 SGG den - zweifelsfrei unter die genannte Vorschrift fallenden - auf wiederkehrende Leistungen gerichteten "Sozialleistungsansprüchen" der Sozialversicherten und Versorgungsberechtigten gleichzustellen sind, hat der Senat bereits in der genannten Entscheidung näher dargelegt.

Der den Gegenstand des Rechtsstreits bildende Verwaltungsakt betrifft jedoch nicht, wie das LSG - abweichend von BSG 11, 102, 108 - angenommen hat, vier selbständige Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von jeweils einem Vierteljahr, sondern einen Anspruch auf wiederkehrende Leistungen für einen Zeitraum von einem Jahr. Mit der auch vom LSG gebilligten Auffassung, daß es sich bei den Honorarforderungen der Kassenärzte gegen die KV um Ansprüche auf wiederkehrende Leistungen handelt, ist die Folgerung unvereinbar, daß die jeweils für ein Vierteljahr als Abrechnungszeitraum geltend gemachten Honorarforderungen auf selbständigen "Klagegründen" (vgl. ≪!X!≫azu § 90 Abs. 3 SGG) beruhen. Die wiederkehrenden Leistungen im Sinne des § 144 SGG sind gerade dadurch gekennzeichnet, daß sie auf einem einheitlichen Stammrecht beruhen, das in regelmäßiger Wiederkehr dem Grunde nach gleichartige - wenn auch nicht der Höhe nach gleichbleibende - Einzelansprüche auslöst. Wären die für verschiedene Vierteljahre geltend gemachten Honorarforderungen der Kassenärzte als prozessual selbständige, auf verschiedenen Klagegründen beruhenden Ansprüche anzusehen, so schlösse das in sich ein, daß die Honorarforderungen als Ansprüche auf einmalige Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG angesehen werden müßten.

Zu Unrecht erblickt das LSG in der hier vertretenen Auffassung einen Widerspruch zu der Entscheidung des BSG vom 13. November 1958 (BSG 8, 228, 231). Wenn in dieser Entscheidung ausgeführt wird, daß bei objektiver Klagenhäufung durch Verbindung mehrerer selbständiger prozessualer Ansprüche in einer Klage die Statthaftigkeit des Rechtsmittels für jeden Anspruch gesondert zu prüfen ist, so wird - wie der Zusammenhang und die Hinweise auf Literatur und Rechtsprechung (insbesondere BSG 3, 135, 138) zeigen - hierbei gerade vorausgesetzt, daß "die vom Kläger erhobenen Ansprüche" (§ 123 SGG) auf verschiedenen Klagegründen beruhen.

Dem LSG ist allerdings darin zuzustimmen, daß es systematisch gesehen wenig befriedigt, daß ein mehr oder weniger zufälliger Umstand - ob nämlich die auf Honorarkürzungsbescheiden beruhende Beschwer den Kassenarzt nur in einem Abrechnungsquartal oder in mehreren trifft - darüber entscheidet, ob die Honorarforderung grundsätzlich berufungsfähig (§ 143 in Verbindung mit § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG) ist oder ob die Berufung nur ausnahmsweise (§ 150 Nr. 1 und 2 SGG) statthaft ist. Doch gilt diese Erwägung nicht nur für Honorarforderungen von Kassenärzten. Vielmehr genügen die vom Gesetzgeber in § 144 SGG zur Abgrenzung der Bagatellstreitigkeiten von bedeutsameren Rechtsstreitigkeiten gewählten Kriterien ganz allgemein nur unvollkommen diesem Zweck (vgl. z.B. BSG 10, 186 und SozR § 131, § 74 Bl. Aa 4 Nr. 9, wonach Beitragserstattungen nach § 1303 RVO und § 74, § 131 als "einmalige Leistungen" unter § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG fallen). Immerhin spricht bei Streitigkeiten über Honorarforderungen von Kassenärzten die Vermutung dafür, daß die strittigen Beträge höher sind, wenn Kürzungsbescheide über mehrere Vierteljahre - und nicht nur über ein Quartal - angefochten sind, so daß sich bei diesen Streitigkeiten die Abgrenzung der Berufungsfähigkeit nach dem Merkmal der in Frage stehenden Zeiträume mit dem Zweckgedanken der Vorschrift verträgt.

Wenn das LSG es schließlich für bedenklich erachtet, daß das Gericht die Berufungsfähigkeit dadurch herbeiführen - oder auch beseitigen - kann, daß es mehrere bei ihm anhängige Rechtsstreitigkeiten zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbindet (§ 113 Abs. 1 SGG) oder diese Verbindung wieder aufhebt (§ 115 Abs. 2 SGG), so übersieht es, daß diese Erwägung gerade nicht die Fälle der vorliegenden Art trifft. Hier ist die Einheit des Klageverfahrens bereits dadurch herbeigeführt, daß der Beschwerdeausschuß der beklagten KV einen Bescheid über die Widersprüche des Klägers gegen die Kürzungsbescheide des Prüfungsausschusses für die vier Vierteljahre 1958 erlassen hat.

Zusammenfassend ist somit festzustellen, daß die Berufung des Klägers nicht nach §§ 144 ff SGG - insbesondere nicht nach § 144 Abs. 1 Nr. 2 SGG - ausgeschlossen ist, so daß die Regel des § 143 SGG Platz greift. Die Rüge der Revision, daß das LSG zu Unrecht ein Prozeßurteil anstelle einer Entscheidung in der Sache selbst erlassen hat, ist begründet. Da die für die Entscheidung in der Sache selbst notwendigen Feststellungen nicht vorliegen, mußte der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung vorbehalten.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2277260

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