Leitsatz (amtlich)

Erhält ein Arbeitsloser nach dem Ausscheiden aus der bisherigen Beschäftigung für diese eine Nachzahlung, auf die er während seiner Arbeitnehmertätigkeit noch keinen Rechtsanspruch hatte, so ist für die Bemessung des Arbeitslosengeldes diese Nachzahlung nicht zu berücksichtigen.

 

Normenkette

AVAVG § 90 Fassung: 1957-04-03; RVO § 318 Fassung: 1924-12-15

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 7. April 1959 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

- Von Rechts wegen.

 

Gründe

I. Die Klägerin war vom 1. Mai 1952 bis zum 30. Juni 1957 als Angestellte beim Facharbeitsamt V B beschäftigt. Sie meldete sich am 9. Juli 1957 arbeitslos und beantragte am 31. Juli Arbeitslosengeld (Alg). Da sie bis zum 15. September 1957 Übergangsgeld erhielt, bewilligte ihr das Facharbeitsamt IV Alg vom 19. September an, und zwar nach einem Arbeitsentgelt von 1 540, 35 DM für die letzten drei Monate. Am 14. September zeigte die Klägerin unter Vorlegung einer neuen Arbeitsbescheinigung dem Arbeitsamt an, daß sich nach dem Tarifvertrag vom 3. Juli ihre Dienstbezüge rückwirkend vom 1. April an auf 1 705,05 DM für drei Monate erhöht hätten, und beantragte die Neuberechnung des Unterstützungssatzes. Dies lehnte das Arbeitsamt mit Bescheid vom 16. September 1957 gemäß § 90 des Gesetzes über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAVG) n.F. in Verbindung mit § 318 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung (RVO) ab. Der Widerspruch der Klägerin wurde mit Entscheidung vom 11. Oktober 1957 als unbegründet zurückgewiesen, weil eine rückwirkende Änderung des Entgelts nicht eine rückwirkende Erhöhung des Beitrags zur Sozialversicherung herbeiführe und deshalb bei der Bemessung des Alg nicht berücksichtigt werden könne.

II. Auf Klage hob das Sozialgericht Berlin mit Urteil vom 18. Juni 1958 die Verwaltungsbescheide des Arbeitsamts insoweit auf, "als der Bemessung des Arbeitslosengeldes nur ein Arbeitsentgelt von 1 540,35 DM zugrunde gelegt worden ist und nicht ein solches in Höhe von 1 705,05 DM". Es vertrat die Auffassung, daß die auf Tarifvertrag beruhende Erhöhung des Arbeitsentgelts bei der Bemessung des Alg gemäß § 90 AVAVG n.F. mit zu berücksichtigen sei. Diese Ansicht werde auch dadurch gestützt, daß nach § 105 AVAVG a.F. als Bemessungsmaßstab das "tatsächliche" Arbeitsentgelt gegolten habe, während im § 90 AVAVG n.F. dieses Wort weggelassen sei.

Berufung wurde nach § 150 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zugelassen.

Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht Berlin mit Urteil vom 7. April 1959 unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts vom 18. Juni 1958 die Verfügung des Facharbeitsamts IV Berlin vom 16. September 1957 und den Bescheid der Widerspruchsstelle vom 11. Oktober 1957 wiederhergestellt. Es ging von der ständigen Rechtsübung und Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts aus, wonach die für den Versicherungsanspruch maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse durch nachträgliche, wenn auch mit rückwirkender Kraft vereinbarte Lohn- oder Gehaltserhöhungen nicht mehr geändert werden können, solche Erhöhungen vielmehr erst vom Zeitpunkt ihrer Vereinbarung ab versicherungsrechtlich zu berücksichtigen sind. Diese Grundsätze hielt es auch nach dem neuen Recht für anwendbar, ohne daß es entscheidend auf die Änderung des Wortlauts des § 90 AVAVG n.F. im Verhältnis zum § 105 AVAVG a.F. ankomme.

Revision ist zugelassen worden.

III. Gegen das am 28. April 1959 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 5. Mai 1959 Revision eingelegt und beantragt, unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidung die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Juni 1958 zurückzuweisen. Am 9. Mai hat sie die Revision begründet. Sie geht zwar auch davon aus, daß "nach der absolut herrschenden Auffassung" nachträgliche Änderungen des Entgelts, auch wenn sie rückwirkend gälten, die für das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis maßgebenden tatsächlichen Verhältnisse nicht nachträglich beeinflussen, hält es aber für erforderlich, diese Frage nach neuem Recht zu überprüfen. Hierzu bezieht sie sich auf die bisherigen Schriftsätze und das Urteil des Sozialgerichts.

Die Klägerin hat beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

IV. Das AVAVG gilt in der Fassung des Änderungs- und Ergänzungsgesetzes vom 23. Dezember 1956 (BGBl.I S. 1018) gemäß Art. X § 9 aufgrund des Übernahmegesetzes vom 10. Januar 1957 (GVBl. Berlin S. 93) und in der Fassung der Bekanntmachung vom 3. April 1957 (BGBl.I S. 321, GVBl. Berlin S. 387) auch im Lande Berlin, stellt also revisibles Recht dar. Nach § 90 Abs.1 AVAVG in dieser Fassung - die Änderung durch das Gesetz vom 7. Dezember 1959 (BGBl.I S. 705) kommt hier nicht in Betracht (vgl. Art. II dieses Gesetzes) - bemißt sich der Hauptbetrag des Alg bei monatlicher Berechnung nach dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt (§ 160 RVO) der letzten 3 Monate der versicherungspflichtigen Beschäftigung, durch welche die Anwartschaftszeit erfüllt wird. Der Hinweis auf § 160 RVO hat in diesem Zusammenhang für den vorliegenden Fall keine Bedeutung. Diese Vorschrift bestimmt in Form einer gesetzlichen Auslegung des Entgeltbegriffes, was grundsätzlich neben Gehalt oder Lohn zum Entgelt zu rechnen ist, und § 90 n.F. erklärt sie als anwendbar auf die Arbeitslosenversicherung. Hier ist dagegen über die Frage zu entscheiden, ob zu dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt im Sinne des § 90 a.a.O. auch Beträge zu rechnen sind, die erst nach dem Ausscheiden aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung, z.B. infolge neuer tarifvertraglicher Vereinbarung, gezahlt werden. Im Gegensatz zum Landessozialgericht hat dies das Sozialgericht, auf dessen Urteilsbegründung die Revision mit gestützt ist, auf Grund der neuen Fassung des § 90 AVAVG gegenüber dem bisherigen § 105 AVAVG angenommen. Nach letzterer Vorschrift wurde die Hauptunterstützung nach dem tatsächlichen Arbeitsentgelt (§ 160 RVO) bemessen, das der Arbeitslose - bei monatlicher Berechnung - in den letzten drei Monaten durchschnittlich bezogen hatte. Aus dem Wegfall des Wortes "tatsächlich" im § 90 AVAVG n.F. hat das Sozialgericht geschlossen, daß es jetzt nicht mehr darauf ankomme, was tatsächlich an Arbeitsentgelt während der letzten drei Monate gezahlt worden ist, sondern daß das Arbeitsentgelt schlechthin maßgebend sei, demnach auch nachträgliche Erhöhungen mit berücksichtigt werden müßten. Diese Auffassung ist jedoch nicht zutreffend.

Das Wort "tatsächlich" hat nicht die besondere Bedeutung, die ihr das Sozialgericht beimißt. Es besagte nichts anderes, als daß nach Wegfall des durch die Verordnung über Arbeitslosenhilfe vom 5. September 1939 (RGBl. I S. 1674) eingeführten Orts- und Lohnklassensystems die Alu nach dem Entgelt zu berechnen war, das für die im § 105 a.a.O. bestimmte Zeit gezahlt worden war, und entspricht grundsätzlich dem vom Reichsversicherungsamt in früheren Entscheidungen in Anlehnung an § 180 RVO verwendeten Begriff des wirklich bezogenen Arbeitsentgelts (vgl. z.B. Grunds. Entsch. Nr. 3141 vom 21.2.1928, AN. S. 119).

Maßgebend war demnach in allen Fällen das Arbeitsentgelt, das gezahlt worden war. Das muß aber auch für die Berechnung des Alg nach § 90 AVAVG n.F. gelten. Deshalb kann aus dem Umstand, daß in dieser Vorschrift das Wort "tatsächlich" nicht wieder aufgenommen worden ist, kein Schluß in der Richtung gezogen werden, daß damit eine Änderung der Vorschrift beabsichtigt war. Dies würde auch nicht dem Sinn der Neuregelung durch die Große Novelle entsprechen. In der Begründung zu deren Entwurf ist beim § 105, der wörtlich mit der jetzigen Fassung des § 90 übereinstimmt, ausdrücklich gesagt: "Abs.1 entspricht geltendem Recht (§ 105 Abs.1 Satz 1 AVAVG)" - vgl. Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Drucks. Nr. 1274 S. 130 -. Der Wortlaut des § 90 kann darum bei der hier zu beurteilenden Frage nicht für die gegenteilige Ansicht herangezogen werden.

Unzutreffend ist aber auch die Auffassung der Beklagten, es müsse vom tatsächlichen Lohn oder Gehalt schon deshalb ausgegangen werden und nachträgliche Änderungen dürften nicht berücksichtigt werden, weil der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung auch nur nach dem s.Zt. tatsächlich gezahlten Arbeitsentgelt entrichtet worden sei und rückwirkend nicht geändert werden könne. Eine solche Beziehung zwischen Arbeitsentgelt und Beitrag enthielt das AVAVG vom 16. Juli 1927 nicht; sie ist erst durch die Notverordnung vom 26. Juli 1930 (RGBl.I S. 318) in den § 105 eingeführt worden, um die Ausnutzung der Arbeitslosenversicherung durch Unterversicherung möglichst einzuschränken. Deshalb war bestimmt worden, daß für die Zugehörigkeit zur Lohnklasse kein höherer Betrag zugrunde gelegt werden durfte als der Grundlohn, der bei der Entrichtung der Beiträge der Reichsanstalt zugrunde gelegt war (§ 105 Abs. 3 AVAVG). Für die Zeit vorher konnte deshalb das Reichsversicherungsamt in der schon erwähnten Grunds. Entsch. Nr. 3141 zutreffend erklären, die Arbeitslosenunterstützung (Alu) bemesse sich nach dem wirklich bezogenen Arbeitsentgelt, auch wenn die Beiträge nicht in der entsprechenden Höhe gezahlt worden seien. Nach Aufhebung des § 105 durch die bereits erwähnte Verordnung vom 5. September 1939 ist diese einschränkende Fassung des § 105 in das Recht nach 1945 nicht wieder aufgenommen worden und besteht auch nach neuem Recht grundsätzlich nicht (wegen einiger Ausnahmen vgl. § 90 Abs. 4 AVAVG n.F.).

Entscheidend für die hier zu beurteilende Frage hat vielmehr der Grundsatz zu sein, daß die Sozialversicherung mit klaren Verhältnissen rechnen muß, schon um einwandfrei feststellen zu können, ob Versicherungspflicht vorliegt und in welchem Umfang. Diesen Standpunkt hat das Reichsversicherungsamt in ständiger Rechtsprechung und in einem Gutachten vertreten, das inhaltlich in einem Erlaß des früheren Reichsfinanzministers vom 6. November 1926 (vgl. EuM. Bd. 20 S. 432) wiedergegeben ist. Das Reichsversicherungsamt führt dort zutreffend aus, daß eine von einer etwaigen nachträglichen Parteivereinbarung abhängige Ungewißheit für den Versicherungsträger wie für den Versicherten nicht tragbar sei. Es müsse deshalb auf die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebenen tatsächlichen Lohnverhältnisse abgestellt werden. Hätten diese aber die Versicherungspflicht in einem bestimmten Umfang begründet, so könnten die Beteiligten hieran rückwirkend nichts mehr mit versicherungsrechtlicher Wirkung ändern. Dieser Grundsatz ist auch im Schrifttum anerkannt worden (vgl. Angaben in EuM. a.a.O.). Derselbe Rechtsgedanke findet sich im § 318 Abs. 3 RVO, wonach bei Änderungen des Lohnes sich die Lohnstufe grundsätzlich erst mit der nächsten Beitragszahlung ändert. Nachträgliche Lohnänderungen haben demnach, auch wenn sie rückwirkend in Kraft gesetzt werden, frühestens vom Abschluß der Vereinbarung an Einfluß auf die versicherungsrechtliche Stellung. Der Zeitpunkt der Arbeitslosmeldung als solcher ist hierfür nicht erheblich. Diese Grundsätze über die Nichtzulässigkeit einer nachträglichen Änderung des Versicherungsstandes hat das RVA. in seiner Grunds. Entsch. Nr. 3630 vom 16. Oktober 1929 (AN 1930 S. 48) auch auf das Gebiet der Arbeitslosenversicherung übertragen.

Der Senat sieht keinen Grund, von der Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts abzugehen, da sie den Erfordernissen der Sozialversicherung und damit auch der Arbeitslosenversicherung gerecht wird. Erhält also ein Arbeitsloser - wie hier - nach dem Ausscheiden aus der bisherigen Beschäftigung für diese eine Nachzahlung, auf die er während seiner Arbeitnehmertätigkeit noch keinen Rechtsanspruch hatte, so ist für die Bemessung des Alg diese Nachzahlung nicht zu berücksichtigen. Maßgebend sind allein die Lohn- und Gehaltsverhältnisse in den letzten drei Monaten der versicherungspflichtigen Beschäftigung.

Deshalb mußte die Revision zurückgewiesen werden.

Die Entscheidung über die Kosten ergibt sich aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 55

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