Leitsatz (amtlich)

Löst eine überdurchschnittliche Anstrengung während der Arbeit einen Blutpfropfen (Thrombus) aus, der zum Herztod führt, so muß ein entschädigungspflichtiger Unfall nicht in jedem Falle gegeben sein.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1963-04-30

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 23. November 1965 und das Urteil des Sozialgerichts Duisburg vom 11. Oktober 1963 werden aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I

Der im Jahre 1921 geborene Ehemann der Klägerin, E P (P.), war als Packer im Zweigbetrieb Essen des Zeitungsverlages "Die Welt" beschäftigt. In der Nacht zum 26. Januar 1961 hatte P. von 19.15. bis 3.00 Uhr früh gearbeitet. Als er anschließend mit seinem auf dem firmeneigenen Parkplatz abgestellten Pkw nach Hause fahren wollte, bemerkte er, daß der Motor des neben ihm geparkten Wagens seines Arbeitskollegen P nicht ansprang. Dies war noch bei den Wagen mehrerer Arbeitskollegen der Fall, die zu dieser Zeit nach Schichtende ebenfalls nach Hause fahren wollten. Der Parkplatz, auf dem etwa 50-70 Fahrzeuge Platz haben und der voll besetzt war, war verschneit und teilweise vereist; die Temperatur betrug um diese Zeit minus 8 Grad, es herrschte starkes Schneetreiben.

P. und einige andere Arbeitskollegen schoben den Wagen P etwa 30-50 m weit über den Parkplatz zur S.-straße, wobei zunächst sein Besitzer und später einer der helfenden Arbeitskollegen versuchten, den Motor in Gang zu setzten. Dies mißglückte. Auch auf der S.-straße gelang es zunächst nicht, den Motor anzulassen, obwohl die Arbeitskollegen hier durch mehrfaches kurzes Anschieben, teilweise im Laufschritt, eine Strecke von insgesamt 15-18 m zurücklegten. Der Ehemann der Klägerin stellt wegen plötzlichen Luftmangels seine Mithilfe in. Er wurde von einem Arbeitskollegen zu seinem Hausarzt gebracht und auf dessen Weisung nach Hause gefahren. P. machte bei der auf der Straße durchgeführten ärztlichen Untersuchung einen ruhigen Eindruck. Sein Puls erschien dem Arzt regelmäßig und gut gefüllt; P. war ohne fremde Hilfe aus dem Wagen ausgestiegen. Der Arzt verordnete Bettruhe. Als die Klägerin zu ihm eilte, weil ihr Ehemann über Atemnot klagte, und dieser gegen 5.00 Uhr früh in der Wohnung erschien, war P. bereits tot.

Den Bemühungen der übrigen Arbeitskollegen gelang es schließlich, daß P mit seinem Wagen seinen 4 km langen Heimweg, auf dem um diese Zeit keine öffentlichen Verkehrsmittel fuhren, antreten konnte. Der Wagen eines anderen Arbeitskollegen wurde durch Vermittlung eines Abteilungsleiters durch einen firmeneigenen Kraftwagen angezogen, bis der Motor ansprang. Zu Beginn der einige Stunden später beginnenden Frühschicht war der Parkplatz wieder vollständig besetzt; er reichte damals nicht aus, daß alle Arbeitnehmer ihren Wagen parken konnten.

Auf Veranlassung des Hausarztes wurde die Leiche des Ehemannes der Klägerin geöffnet. Prof. Dr. M, Chefarzt des Pathologischen Instituts der Städtischen Krankenanstalten E, führte im Gutachten vom 19. April 1961 aus, daß unmittelbare Todesursache eine Lungenembolie gewesen und diese auf Gerinselbildungen im Bereich ausgedehnter Narben nach einer alten Knochenmarkseiterung am linken Oberschenkel - bei einer frischen eitrigen Entzündung - zurückzuführen sei. Die Thrombose habe sicher schon vor der außergewöhnlichen Kraftanstrengung des Anschiebens des Wagens bestanden. Bei dem körperlichen Zustand Ps. habe die Gefahr einer Verschleppung des Gerinsels in die Lungenschlagader bei jeder Verrichtung des täglichen Lebens, sogar schon bei einer Lageänderung des Körpers bestanden; dem Anschieben des Wagens könne nur eine letzte auslösende Bedeutung für die Embolie zuerkannt werden, etwa in dem Sinn, daß ein Letzter Tropfen ein schon volles Faß zum Überlaufen gebracht habe.

Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 16. Mai 1961 die begehrte Hinterbliebenenentschädigung weil die Hilfeleistung des Ehemannes der Klägerin mit seiner betrieblichen Tätigkeit nicht in innerem Zusammenhang stehe und die mit ihr verbundene körperliche Anstrengung höchstens als Gelegenheitsursache des Todes anzusehen sei.

Die Klägerin hat daraufhin Klage beim Sozialgericht (SG) Duisburg erhoben. Auf dessen Ersuchen hat sich der Facharzt für Pathologie Dr. H am 2. Mai 1963 gutachtlich geäußert. Dieser ist der Ansicht, daß der Blutpfropfen nicht durch das Anschieben des Wagens entstanden, sondern schon vorher vorhanden gewesen sei. Infolge der bei der Hilfeleistung gemachten körperlichen Anstrengung habe er sich von der Venenwand gelöst, sei in den herzwärts führenden Blutstrom gelangt und zum Lungenembolus geworden. Hätte diese körperliche Anstrengung erst etwa eine Woche später stattgefunden, wäre er wahrscheinlich durch Organisationsvorgänge mit der Venenwand verbunden gewesen und nicht mehr abgeschwommen. Dieses Ereignis sei aber nur eine Gelegenheitsursache für die tödliche Lungenembolie gewesen, weil diese, solange der Blutpfropfen noch abschwemmbar gewesen sei, auch bei anderen Vorgängen des täglichen Lebens, wie häuslichen Reparaturarbeiten, und bei etwas stärkeren körperlichen beruflichen Anstrengungen hätte eintreten können. Da das Anschieben des Wagens indessen das Ausmaß der körperlichen Beanspruchung überschritten habe, die P. sich bei seinem Gesundheitszustand sonst wohl zugemutet habe, sei die Gelegenheitsursache der Lungenembolie für die körperliche Belastungsfähigkeit des Ehemannes der Klägerin ein ungewöhnliches Ereignis gewesen und somit als Unfall anzusehen.

Das SG hat die Anspruchsvoraussetzungen der Hinterbliebenenentschädigung an die Klägerin als gegeben angesehen und deshalb die Beklagte durch Urteil vom 11. Oktober 1963 unter Aufhebung ihres Bescheides zur erneuten Bescheiderteilung verpflichtet.

Gegen die Entscheidung des SG hat die Beklagte Berufung eingelegt.

Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat in der mündlichen Verhandlung vom 23. November 1965 den Facharzt für innere Krankheiten Dr. R als Sachverständigen zugezogen und in dessen Gegenwart vier Arbeitskollegen Ps. als Zeugen vernommen. Der Gutachter ist der Ansicht, daß bei dem Entwicklungsstadium des Blutgerinsels (sogenannter frischer Thrombus) dessen Abschwemmen bei jeder sich bietenden Gelegenheit im täglichen Leben möglich gewesen sei. Die außergewöhnliche Kraftanstrengung beim Anschieben des Wagens, die, wie sich aus den Aussagen der Zeugen ergebe, nicht als zufälliges Ereignis, sondern als ungewöhnliche, das normale Maß übersteigende Kraftanstrengung bezeichnet werden müsse, habe das Abschwemmen des noch beweglichen Blutgerinsels geradezu in die Wege leiten müssen.

Das LSG hat durch Urteil vom 23. November 1965 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.

Zur Begründung hat es ausgeführt: Die Hilfeleistung des Ehemannes der Klägerin sei, obwohl dessen Arbeit beendet gewesen sei, seiner betrieblichen Tätigkeit zuzurechnen, weil sie dem Unternehmen, in dem er beschäftigt gewesen sei, wesentlich gedient habe. Es müsse davon ausgegangen werden, daß dieses ein erhebliches Interesse gehabt habe, daß der Parkplatz für die zur Frühschicht kommenden motorisierten Arbeitnehmer frei gemacht werde. Ein betriebliches Interesse bestehe auch darin, daß die Arbeitnehmer der Nachtschicht bald nach Hause gelangten, um keine Zeit ihres Nachtschlafes zu verlieren und wieder ausgeruht zur nächsten Nachtschicht zu kommen; öffentliche Verkehrsmittel hätten um diese Zeit aber nicht verkehrt. Hätte der Ehemann der Klägerin sich der Hilfeleistung versagt, wäre dies von den Arbeitskameraden als unkollegial angesehen worden und hätte zu einer Störung des Betriebsklimas geführt. Der Tod sei auch eine Folge dieser somit noch dem Betrieb zuzurechnenden Tätigkeit. Zwar stimmten die ärztlichen Sachverständigen darin überein, daß die Auswirkungen einer Lungenembolie die Todesursache seien und der Tod auch ohne die Kraftanstrengung am morgen des 26. Januar 1961 bei jeder Verrichtung des täglichen Lebens jederzeit habe eintreten können. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. R sei bei dieser Hilfeleistung das Maß der bei normalen Verrichtungen des täglichen Lebens aufgetretenen Anstrengungen jedoch erheblich überschritten worden. Dieser Ansicht sei auch Prof. Dr. H. Da der Tod des Ehemannes der Klägerin bereits 90 Minuten nach dessen erheblicher körperlicher Beanspruchung eingetreten sei, sei diese als wesentlich mitwirkende Ursache für den Tod anzusehen. Der Anspruch der Klägerin auf Hinterbliebenenentschädigung sei sonach begründet.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es im wesentlichen wie folgt begründet:

Bei der Hilfeleistung des Ehemannes der Klägerin habe es sich um eine einem Arbeitskollegen erwiesene Gefälligkeitsleistung gehandelt. Ein innerer Zusammenhang mit dem Unternehmen könne allenfalls angenommen werden, soweit durch die Betätigung Ps. der firmeneigene Parkplatz geräumt worden sei.

Abgesehen davon hänge der Tod des Ehemannes der Klägerin mit dessen betrieblicher Tätigkeit nicht ursächlich zusammen. Das LSG hätte, wenn es sich über das Gutachten Prof. Dr. M hinwegsetzen wollte, noch einen anderen Gutachter hören müssen. Auf das Gutachten Dr. R habe es sich nicht stützen können, weil dieses in sich widerspruchsvoll sei. Selbst wenn jedoch der ursächliche Zusammenhang in medizinischer Hinsicht zu bejahen sei, habe die bei der Hilfeleistung aufgewendete Kraftanstrengung nur eine äußere Gelegenheitsursache gebildet, weil, wie die gehörten Sachverständigen darlegten, das unfallunabhängige Knochenmarksleiden derart im Vordergrund gestanden habe, daß der Ehemann der Klägerin auch bei jeder anderen Gelegenheit des täglichen Lebens gestorben wäre.

Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Versicherungsschutz sei jedenfalls nach § 573 Nr. 10 RVO (idF vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes - RVO aF) gegeben, weil der Parkplatz im Interesse des Betriebes, wären die Arbeitskollegen nicht behilflich gewesen, durch dazu beauftragte Arbeitnehmer des Unternehmens hätte freigemacht werden müssen. Zwar sei der Tod auf eine innere Ursache zurückzuführen; er sei aber die Folge einer übermäßigen Kraftanstrengung. Deshalb sei der ursächliche Zusammenhang des Todes mit dem Arbeitsunfall gegeben.

Die Beklagte beantragt,

die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,

hilfsweise,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

II

Die Revision ist begründet.

Es bedarf vorliegendenfalls keiner Entscheidung, ob der Ehemann der Klägerin einen Arbeitsunfall erlitten hat, denn seine Hilfeleistung ist nicht Ursache im Rechtssinne (BSG 1, 254; 3, 240) für den Tod gewesen.

Aufgrund der ärztlichen Gutachten hat das Berufungsgericht festgestellt, daß ein philosophisch-naturwissenschaftlicher Zusammenhang der anlässlich der Hilfeleistung von P. ausgeführten körperlichen Kraftanstrengung mit dem Tod gegeben ist. Diese Feststellung hat das LSG verfahrensrechtlich bedenkenfrei getroffen. Die hiergegen erhobenen Verfahrensrügen der Revision sind nicht begründet.

Die Gutachter Prof. Dr. H und Dr. R, denen das LSG gefolgt ist, ohne die ihm in § 128 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gesetzten Grenzen freier richterlicher Überzeugungsbildung zu überschreiten, sind der Ansicht, daß der schon vor der erheblichen Kraftanstrengung des Wagenanschiebens beim Ehemann der Klägerin vorhanden gewesene Blutpfropf, bei dem es sich um einen sogenannten frischen Thrombus gehandelt habe, infolge dieser Kraftanstrengung sich von der Venenwand abgelöst hat, in den Blutstrom gelangt ist und die zum Tode führende Embolie herbeigeführt hat. Damit haben die Gutachter aber nur dargetan, daß der Tod durch jenes Ereignis "ausgelöst" worden ist (vgl. Martineck, Breithaupt 1950, 1133, 1137).

Die von den Gutachtern mit Recht der Entscheidung des Gerichts überlassene Rechtsfrage, ob trotz Vorhandenseins der unfallunabhängigen Knochenmarkeiterung jener körperlichen Beanspruchung die rechtliche Bedeutung einer den Tod wesentlich mit bewirkenden Teilursache zukommt, beantwortet sich indessen danach, ob die Krankheitsanlage Ps. so leicht ansprechbar gewesen ist, daß es zur Auslösung akuter Erscheinungen aus ihr nicht besonderer, in ihrer Eigenart unersetzlicher äußerer Einwirkungen bedurft hat, sondern jedes andere alltäglich vorkommende ähnlich gelagerte Ereignis zu derselben Zeit den Tod ausgelöst hätte (Martineck, aaO). Nach den auf die - insoweit übereinstimmenden - ärztlichen Gutachten gestützten Feststellungen des LSG hätte der Tod aber auch ohne die als Unfallereignis angeschuldigte Kraftanstrengung bei jeder Verrichtung des täglichen Lebens durch das Abschwemmen des frischen Thrombus jederzeit eintreten können. Da das Leiden des Ehemannes der Klägerin sonach schon so weit fortgeschritten war, daß dieser bei jedem anderen ähnlichen äußeren Anlaß zu derselben Zeit hätte sterben können, kommt der bei der Hilfeleistung am 26. Januar 1961 aufgetretenen körperlichen Beanspruchung nicht die Bedeutung einer rechtlich wesentlichen Mitursache zu; unter diesen Umständen ist auch nicht entscheidend, daß eine erhebliche Kraftanstrengung vorgelegen hat. Diese ist vielmehr als - rechtlich unerhebliche - Gelegenheitsursache anzusehen (vgl. die ständige Rechtsprechung des erkennenden Senats - MDR 1958, S. 281 Nr. 155; BG 1961, 222; ferner BayLSG, Bayer. Amtsbl. 1954 Teil B S. 17c Nr. 42 sowie zum Dienstunfallfürsorgerecht BVerwG 26, 332). Bei dieser Rechtslage ist die Frage der Lebensverkürzung um ein Jahr (RVA, EuM 15,98; SozR Nr. 10 zu § 542 RVO aF; BSG 12, 247) nach der Rechtsprechung des Senats ohne rechtliche Bedeutung (Breithaupt 1965, 815; BG 1961, 222 am Ende). Deshalb waren die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben. Die Klage war abzuweisen.

Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2324290

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