Entscheidungsstichwort (Thema)

Gedrängte Darstellung des Tatbestandes

 

Orientierungssatz

Ein Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 5 SGG liegt nicht vor, wenn das Gericht eine unrichtige Feststellung getroffen hat; hierbei handelt es sich vielmehr nur um einen sich im Tatbestand des Urteils niederschlagenden Mangel des Inhalts der getroffenen Entscheidung.

 

Normenkette

SGG § 136 Abs 1 Nr 5 Fassung: 1953-09-03, §§ 139, 150 Nr 2, § 160 Nr 3

 

Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 08.02.1984; Aktenzeichen L 4 Kr 66/82)

SG Braunschweig (Entscheidung vom 08.09.1982; Aktenzeichen S 6 Kr 4/81)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte dem Kläger die diesem für ärztliche Behandlungen in Ägypten entstandenen Kosten zu erstatten und Krankengeld zu zahlen hat.

Der Kläger ist ägyptischer Staatsangehöriger. Er war ab Juli 1979 in Salzgitter versicherungspflichtig beschäftigtes Mitglied der Beklagten. Wegen einer Erkrankung im linken Knie war er ärztlich behandelt und vom 16. bis 23. Oktober 1979 für arbeitsunfähig beurteilt worden. Am 23. Oktober 1979 hatte sein Arbeitgeber ihm bescheinigt, daß der Kläger vom 24. Oktober bis 30. November 1979 seinen Jahresurlaub und anschließend bis zum 31. Dezember 1979 einen "unbezahlten Urlaub" nehme. Ab 24. Oktober 1979 hielt sich der Kläger in Ägypten auf. Am 27. November 1979 teilte er seinem Arbeitgeber eine behandlungsbedürftige Erkrankung im Bereich des linken Knies mit. Ägyptische Ärzte haben am 1. November und 1. Dezember 1979 sowie am 5. Januar 1980 die Fortdauer der Erkrankung des linken Knies bescheinigt. Am 14. Februar 1980 kehrte der Kläger nach Salzgitter zurück. An diesem Tage wurde er von einem dortigen Arzt als arbeitsunfähig krank beurteilt.

Das Arbeitsverhältnis des Klägers ist einvernehmlich zum 24. Februar 1980 aufgelöst worden.

Die Beklagte hat mit Bescheid vom 2. September 1980 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Januar 1981 die Gewährung des vom Kläger für die Zeit vom 4. Januar bis 22. Februar 1980 beanspruchten Krankengeldes und des Ersatzes der ihm in Ägypten entstandenen Kosten der ärztlichen Behandlung in Höhe von insgesamt 1.200,- DM abgelehnt.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat mit Urteil vom 8. September 1982 die Klage abgewiesen: Nach dem Beweisergebnis erster Instanz sei der Kläger erst am 27. November 1979 wiedererkrankt. Er habe sich aber bereits ab 1. November 1979 in einem unbezahlten Urlaub befunden, so daß seine Mitgliedschaft bei der Beklagten auch unter Berücksichtigung der Vorschrift des § 311 Abs 1 Nr 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) am 21. November 1979 und damit vor dem Beginn der Wiedererkrankung beendet gewesen sei.

Das SG hat die Berufung nicht zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat in seinem Urteil vom 8. Februar 1984 die Berufung als zulässig angesehen, weil das Verfahren vor dem SG an einem wesentlichen Mangel gelitten habe. Das SG habe nicht davon ausgehen dürfen, daß der Versicherungsfall erst am 27. November 1979 eingetreten ist. Vielmehr habe es aufgrund des Beweisergebnisses feststellen müssen, daß der Kläger ab 16. Oktober 1979 ununterbrochen krank gewesen sei. Dementsprechend beruhe das SG-Urteil auf einem nicht richtig dargestellten Tatbestand, so daß das Verfahren vor dem SG an einem - vom Kläger auch zutreffend gerügten - Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) leide. Hierauf beruhe auch die fehlerhafte Anwendung des § 311 Abs 1 Nr 1 RVO.

Gleichwohl stünden dem Kläger die von ihm beanspruchten Leistungen nicht zu. Der seinem Erstattungsbegehren zugrunde liegende Anspruch auf Krankenpflege habe zunächst gemäß § 216 Abs 1 Nr 2 RVO geruht, weil der Kläger seit dem 16. Oktober 1979 ununterbrochen krank gewesen sei und sich ohne Zustimmung der Beklagten ins Ausland begeben habe. Ab 13. Februar 1980 habe der Anspruch des Klägers gemäß § 216 Abs 3 RVO geruht, weil der Kläger der Beklagten die Erkrankung nicht gemeldet habe.

Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom erkennenden Senat zugelassene - Revision des Klägers. Er rügt einen Verstoß des LSG gegen § 103 SGG, weil das LSG bezüglich der von ihm für entscheidungserheblich gehaltenen Frage der Fortdauer der Erkrankung über dem 23. Oktober 1979 hinaus dem hinreichend substantiierten Beweisantrag des Klägers vom 30. November 1982, das Gutachten eines Sachverständigen einzuholen, ohne Begründung nicht gefolgt sei; insbesondere habe das LSG nicht dargelegt, daß es selbst über die erforderliche Sachkunde für die Beurteilung dieser Tatsache verfügt habe. Die Beklagte sei auch leistungspflichtig, weil es sich um eine innerhalb der Frist des § 311 Satz 1 Nr 1 RVO eingetretene Wiedererkrankung handele.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts vom 8. Februar 1984 und das Urteil des Sozialgerichts vom 8. September 1982 sowie den Bescheid der Beklagten vom 2. September 1980 in der Gestalt des Widerspruchs- bescheides vom 29. Januar 1981 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit vom 1. Januar 1980 bis zum 22. Februar 1980 Krankengeld in gesetzlicher Höhe zu zahlen und 1.200,- DM für ärztliche Behandlungskosten zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an dieses Gericht, weil das angefochtene Urteil an einem wesentlichen Mangel des Verfahrens leidet.

Wie die Revision zutreffend geltend macht, war nach der - vom Revisionsgericht als zutreffend zugrunde zu legenden - Rechtsauffassung des LSG entscheidungserheblich, ob der am 16. Oktober 1979 eingetretene Versicherungsfall über den 23. Oktober 1979 hinaus angedauert hat, weil das Ruhen des Anspruchs gemäß § 216 Abs 1 Nr 2 RVO nur eintreten konnte, wenn der Kläger sich nach dem Eintritt des - noch andauernden - Versicherungsfalles ohne Zustimmung der Beklagten ins Ausland begeben hat. Ob der Versicherungsfall über den 23. Oktober 1979 hinaus noch angedauert hat, der Kläger also, falls die Arbeitsunfähigkeit am 23. Oktober 1979 geendet hätte, über diesen Tag hinaus mindestens behandlungsbedürftig geblieben ist, ist demnach eine entscheidungserhebliche und feststellungsbedürftige Tatsache. Das LSG hat sich zur Feststellung dieser Tatsache auf die Bescheinigung des Arztes Dr. K vom 18. August 1980 gestützt, in der es nur heißt, es sei "anzunehmen", daß der Kläger "nach dem 23. Oktober 1979 wegen des Reizzustandes des linken Knies behandlungsbedürftig war". Ferner hat das LSG die Schlußfolgerung der Fortdauer des Versicherungsfalles auch auf "die Art der Erkrankung" und das Fehlen eines "objektiven Hinweises" auf den zwischenzeitlichen Wegfall der Krankheit gestützt. Diese Feststellungen rechtfertigen die - vom LSG zudem in seinem Urteil nicht begründete - Nichtbefolgung des vom Kläger im Schriftsatz vom 30. November 1982 gestellten Beweisantrages nicht. Der Kläger hat in diesem Beweisantrag das Beweisthema hinreichend gekennzeichnet; der Beachtlichkeit des Antrages steht nicht entgegen, daß der Kläger keinen Sachverständigen namentlich benannt hat, weil dies für die von Amts wegen durchzuführende Beweisaufnahme gemäß § 103 SGG nicht erforderlich ist.

Das LSG hätte sich auch zur Durchführung der beantragten Beweisaufnahme - Einholung eines Sachverständigengutachtens - gedrängt fühlen müssen. Das Schreiben des Arztes Dr. K vom 18. August 1980 an die Beklagte läßt nicht erkennen, aufgrund welcher Befunde oder sonstiger Anknüpfungstatsachen dieser Arzt zu seiner "Annahme" gelangt ist, der Kläger sei auch in der Zeit zwischen dem 21. und 30. Oktober 1979 wegen eines Reizzustandes des linken Knies behandlungsbedürftig gewesen. Zudem bezieht sich das Schreiben dieses Arztes nur auf die Anfrage der Beklagten vom 4. August 1980, in der die Beklagte dem Sachverständigen die Anamnese nur unvollständig mitgeteilt hat. Das LSG konnte infolgedessen dieses Schreiben nicht einmal inhaltlich verwerten. Weiter hat das LSG - wie die Revision zu Recht rügt - auch nicht belegt, worauf es seine Schlußfolgerung gestützt hat, daß die "Art der Erkrankung" die Annahme der Fortdauer des Versicherungsfalles rechtfertige. Dementsprechend beruht das angefochtene Urteil auf dem geltend gemachten Verstoß gegen § 103 SGG.

Das LSG ist im Ergebnis zutreffend davon ausgegangen, daß die - nicht gemäß § 150 Nrn 1 oder 3 SGG statthafte - Berufung wegen eines gerügten Mangels im Verfahren vor dem SG gemäß § 150 Nr 2 SGG statthaft ist. Zwar ist der vom LSG angenommene Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 5 SGG als wesentlicher Mangel des Verfahrens vor dem SG nicht gegeben. Nach § 136 Abs 1 Nr 5 SGG muß das Urteil zwar auch eine gedrängte Darstellung des Tatbestandes enthalten, die in der in § 136 Abs 2 SGG näher abgegrenzten vereinfachten Form erfolgen darf. Der Tatbestandsteil des erstinstanzlichen Urteils erfüllt jedoch diese Voraussetzungen. Fehler, die dem Gericht bei der Zusammenstellung der wesentlichen Gründe des Urteils unterlaufen sind und nicht nach § 139 SGG berichtigt werden können, sind nur dann Verfahrensmängel iS von § 150 Nr 2 SGG (§ 160 Nr 3 SGG), wenn sie schwerwiegend sind; das ist insbesondere beim völligen Fehlen des Tatbestandes oder der wesentlichen tatsächlichen Grundlagen des Urteils, bei Widersprüchlichkeit und Unklarheit der Fall (Meyer-Ladewig, SGG, 2. Aufl, RdNr 15 zu § 150; vgl zu § 117 VwGO: Eyermann/Fröhler, VwGO, 8. Aufl, RdNr 9 zu § 117; zu § 313 ZPO: Baumbach/Lauterbach, ZPO, 40. Aufl, Anm 6 zu § 313; Thomas/Putzo, ZPO, 11. Aufl, Erläuterung E zu § 313). Ein Verstoß gegen § 136 Abs 1 Nr 5 SGG liegt jedoch nicht vor, wenn das Gericht eine unrichtige Feststellung getroffen hat; hierbei handelt es sich vielmehr nur um einen sich im Tatbestand des Urteils niederschlagenden Mangel des Inhalts der getroffenen Entscheidung. In dem hier vorliegenden Fall ist das SG möglicherweise nur aufgrund einer fehlerhaften Erfassung des Sachvortrages des Klägers zu der Tatsachenfeststellung gelangt, daß der Kläger erst am 27. November 1979 wiedererkrankt war. Das SG hat aber - in sich widerspruchsfrei - diesen Zeitpunkt sowohl im Tatbestand als auch in den Gründen seines Urteils als von ihm festgestellte Tatsache angesehen. Ein derartiger Fehler wäre daher nur ein Irrtum bei der Tatsachenfeststellung, ohne daß das SG gegen § 136 Abs 1 Nr 5 SGG verstoßen hat (Meyer-Ladewig aaO RdNr 17 zu § 150).

Die Berufung ist aber statthaft, weil der Kläger auch einen Verstoß gegen § 103 SGG gerügt hat. Denn auch das SG hätte sich von seinem rechtlichen Ausgangspunkt - Erlöschen der Mitgliedschaft gemäß § 311 RVO am 21. November 1979 - gedrängt fühlen müssen, zu der dann entscheidungserheblichen Tatfrage der Wiedererkrankung bis zum 21. November 1979 Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu erheben, zumal da der Kläger unter Vorlage mehrerer Bescheinigungen ägyptischer Ärzte die Wiedererkrankung bereits Anfang November 1979 behauptet hat.

Sollte das LSG nach Durchführung der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangen, daß der am 16. Oktober 1979 eingetretene Versicherungsfall nicht über den 23. Oktober hinaus angedauert hat, wird es auch zu prüfen haben, ob und bis wann das Arbeitsverhältnis im Hinblick auf die Vereinbarung eines unbezahlten Urlaubes fortbestanden hat (vgl dazu Urteile des 3. Senats des BSG vom 14. Dezember 1976 - 3 RK 50/74 -, BSGE 43, 86; vom 20. September 1972 - 3 RK 7/71 - SozR Nr 70 zu § 165 RVO) und wie lange im Zusammenhang damit die Mitgliedschaft des Klägers bei der Beklagten gemäß § 311 Satz 1 Nr 1 RVO erhalten geblieben ist, sowie, ob gegebenenfalls nach der Beendigung der Mitgliedschaft ein nachgehender Leistungsanspruch gemäß § 214 RVO bestanden hat (vgl dazu BSG, Urteil vom 20. September 1972, aa0, und Urteil vom 19. März 1970 - 5 RKn 47/67 -, BSGE 31, 100 = SozR Nr 39 zu § 182 RVO).

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660666

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