Leitsatz (amtlich)

Zur Frage, welche prozessuale Folgen sich ergeben können, wenn der Versicherte die Beweisaufnahme im Verwaltungsverfahren vereitelt hat.

 

Normenkette

SGG § 53 Fassung: 1953-09-03, § 54 Abs. 4 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. August 1967 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Gründe

Der am 11. Juli 1908 geborene Kläger, der inner- und außerhalb des Bergbaus überwiegend als Dachdecker tätig gewesen ist, hatte im März 1956 die Knappschaftsrente beantragt. Auf Grund eines sozialgerichtlichen Urteils vom 18. März 1963 gewährte ihm die Ruhrknappschaft mit Bescheid vom 18. Juli 1963 für die Zeit vom 1. April 1956 an die (für die Zeit vom 1. Januar 1957 an in Bergmannsrente umgestellte) Knappschaftsrente alten Rechts.

In dem sich anschließenden Rechtsstreit über die Höhe dieser Rente erklärte sich die Beklagte bereit, das Widerspruchsschreiben des Klägers vom 22. August 1963 als Antrag auf Gewährung der Knappschaftsrente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit zu behandeln und den Kläger entsprechend zu bescheiden. Auf entsprechende Aufforderungen der Beklagten hin weigerte sich der Kläger wiederholt, sich von einem von der Knappschaft beauftragten Arzt untersuchen zu lassen; er berief sich auf die in dem voraufgegangenen sozialgerichtlichen Verfahren erstellten "gerichtsärztlichen Gutachten". Als sie ihn mit Schreiben vom 6. Dezember 1965 darauf hinwies, daß sie seinen Antrag ablehnen werde, wenn er sich weiterhin weigere, zu den für notwendig gehaltenen Untersuchungen zu erscheinen, erwiderte er der Ruhrknappschaft, er lehne sie auch weiterhin als befangen ab. Durch Bescheid vom 24. Januar 1966 lehnte die Ruhrknappschaft den Antrag auf Gewährung der Gesamtleistung mit der Begründung ab, nach den vorliegenden Befunden könne der Kläger noch die ihm als Dachdecker zumutbaren Tätigkeiten als Lampenstubenaufseher, Schalttafelwärter, Laboratoriumsarbeiter, Tafelführer und Apparatewärter verrichten und sei daher weder berufs- noch erwerbsunfähig. Der Widerspruch des Klägers wurde unter Bezugnahme auf die im sozialgerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten von Dr. K (28. September 1961) und Professor A (28. Januar 1963) aus den gleichen Gründen zurückgewiesen.

Mit der auf Gewährung der Rente wegen Berufsunfähigkeit gerichteten Klage hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) geltend gemacht, diese Leistung stehe ihm bereits auf Grund der Tatsache zu, daß er seinen Beruf als Dachdecker nicht mehr ausüben könne; er stelle sich nur noch einer gerichtsärztlichen Untersuchung zur Verfügung, von einem Arzt der Ruhrknappschaft wolle er sich nicht untersuchen lassen.

Das SG hat die Klage abgewiesen und den Kläger verurteilt, der Beklagten die Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Es hat die Klage zwar für zulässig, jedoch für unbegründet angesehen. Die Beklagte habe den Kläger zu Recht auf die ihm zumutbaren Tätigkeiten verwiesen, zu denen er nach den vorliegenden ärztlichen Gutachten noch tauglich sei; hiernach sei er nicht berufsunfähig. Das Recht, auf Veranlassung des Gerichts (§ 103 des Sozialgerichtsgesetz - SGG -) ärztlich untersucht zu werden, habe der Kläger verwirkt, weil er es beharrlich abgelehnt habe, sich auf Veranlassung der Beklagten untersuchen zu lassen; diese Ablehnung sei als willkürlich und demgemäß die Klageerhebung als mutwillig anzusehen.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil zurückgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat die Klage für unzulässig angesehen, weil für sie kein schutzwürdiges Interesse (Rechtsschutzbedürfnis) bestehe. Zwar habe die Beklagte den Rentenantrag des Klägers abgelehnt; der Kläger habe ihr aber durch seine Weigerung, sich untersuchen zu lassen, die Möglichkeit genommen, die Voraussetzungen für den geltend gemachten Rentenanspruch zu prüfen. Hätte er sich von einem Arzt der Beklagten untersuchen lassen, so wäre möglicherweise Berufs- oder gar Erwerbsunfähigkeit festgestellt worden; die Beklagte hätte dann den Anspruch anerkannt. Durch seine Weigerung habe er eine für ihn günstige Entscheidung der Beklagten von vornherein verhindert und sich damit selbst der Möglichkeit begeben, den Anspruch auf eine billigere und einfachere Weise zu realisieren. Ein triftiger Grund für die Weigerung des Klägers liege nicht vor; er lehne grundlos alle Ärzte der Beklagten als befangen ab.

Soweit der Kläger in der Berufungsinstanz ferner beantragt habe, die Beklagte "zum Ersatz des Schadens, der ihm durch seine Gesundheitsschäden entstanden ist", zu verurteilen, sei die Klage - abgesehen davon, daß der Kläger weder den Schaden konkretisiert noch die Verantwortlichkeit der Beklagten dafür substantiiert dargelegt habe - schon deshalb unzulässig, weil hierfür der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht gegeben sei.

Gegen das am 16. September 1967 zugestellte Urteil hat der Kläger, nachdem ihm auf seinen am 20. September 1967 eingegangenen Antrag hin das Armenrecht bewilligt und der Bewilligungsbeschluß am 19. Januar 1968 zugestellt worden war, am 6. Februar 1968 durch seinen Prozeßbevollmächtigten Revision eingelegt und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Mit der Revision wird die Verletzung formellen und materiellen Rechts gerügt. Die Vorinstanzen hätten den nicht durch einen Prozeßbevollmächtigten vertretenen Kläger auf die Möglichkeit eines Antrags nach § 109 SGG hinweisen müssen; wenn das Gesetz einem Versicherten, der bereits vom Vertrauensarzt untersucht wurde, das Recht auf Untersuchung durch einen anderen Arzt einräume, so könne diese Möglichkeit keinesfalls dann ausgeschlossen sein, wenn der Versicherte sich noch keiner vertrauensärztlichen Untersuchung unterzogen habe. Ein Hinweis auf § 109 SGG sei um so mehr geboten gewesen, als der Kläger sich auf eine Verschlimmerung seines Leidens berufen habe.

Sachlich hält die Revision es für rechtswidrig, den Kläger mit dem erlernten Beruf als Dachdecker auf ungelernte Tätigkeiten zu verweisen.

Der Kläger beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer angefochtenen Bescheide zu verurteilen, Rente wegen Berufsunfähigkeit auf der Grundlage seines Antrags vom 23. August 1963 zu gewähren,

hilfsweise,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an einen anderen als den 2. Senat des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen und dem Kläger die Kosten des Verfahrens, einschließlich der von der Beklagten zu entrichtenden Pauschgebühr als Mutwillenskosten (§ 192 SGG) aufzuerlegen.

Sie hält das angefochtene Urteil für richtig und die Revision für unbegründet. Die Prozeßführung des Klägers sei als mutwillig anzusehen.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

II

Die Revision ist zulässig. Wegen ihrer verspäteten Einlegung war dem Kläger nach § 67 SGG Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er vor der Bewilligung des Armenrechts verhindert war, die gesetzliche Revisionsfrist einzuhalten, und danach die versäumte Rechtshandlung innerhalb der Wiedereinsetzungsfrist nachgeholt hat.

Die Revision ist auch insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit an das Berufungsgericht zurückzuverweisen ist. Das LSG hat zu Unrecht die Klage - soweit sie mit der Revision noch aufrechterhalten wird - für unzulässig angesehen und aus diesem Grunde eine Sachentscheidung unterlassen.

Das LSG hat das Rechtsschutzbedürfnis des Klägers für die von ihm erhobene Klage deshalb verneint, weil er durch sein Verhalten im Verwaltungsverfahren eine möglicherweise für ihn günstigere Entscheidung vereitelt habe. Entgegen dieser Auffassung bestand jedoch im vorliegenden Fall für die erhobene Klage ein Rechtsschutzbedürfnis, da die Beklagte den Anspruch des Klägers durch den angefochtenen Bescheid abgelehnt hatte und der Kläger ein Interesse an der Aufhebung dieses Bescheids und der Verurteilung der Beklagten zur Zahlung der Rente hat und er dieses Ziel anderweitig nicht erreichen kann.

Davon abgesehen durfte allerdings auch nicht vergessen werden, daß dem Kläger durch rechtskräftiges Urteil vom 18. März 1963 die bereits im März 1956 beantragte Knappschaftsrente (a.R.) rückwirkend zugesprochen worden war. Er glaubte, daß ihm bereits auf Grund der in diesem Verfahren eingeholten ärztlichen Gutachten nicht nur die Knappschaftsrente alten Rechts (Bergmannsrente), sondern eine Knappschaftsrente neuen Rechts zustehe, und daß die Beklagte auf Grund ihrer in dem anschließenden Rechtsstreit abgegebenen Erklärung, seinen Widerspruch vom 22. August 1963 als Antrag auf Gewährung der Rente wegen Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit behandeln und bescheiden zu wollen, verpflichtet sei, ihm ohne weiteres auf Grund der alten Vorgänge einen positiven Bescheid zu erteilen. Tatsächlich konnte es sich dabei aber - schon wegen der Rechtskraftwirkung des Urteils vom 18. März 1963 - nur um einen neuen, auf eine Verschlechterung in den Verhältnissen des Klägers gestützten Antrag handeln. Für eine sachliche Prüfung dieses Antrags waren demnach - entgegen der allerdings entschuldbaren Ansicht des Klägers - Unterlagen über seinen nunmehr vorliegenden Gesundheitszustand erforderlich. Die Beklagte hat sich zudem nach vergeblichen Belehrungsversuchen auf das - auf rechtsirrtümlichen Vorstellungen beruhende - Verlangen des Klägers eingelassen und ihm einen sachlich ablehnenden Bescheid und einen entsprechenden Widerspruchsbescheid erteilt, wonach Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit bei ihm nicht vorliegen und ein Rentenanspruch nicht besteht. In dem Widerspruchsbescheid ist er zutreffend darauf hingewiesen worden, daß der Bescheid bindend wird, wenn keine Klage dagegen erhoben wird. Hielt sich der Kläger nun zu diesem Zeitpunkt für berufs- oder erwerbsunfähig und fühlte er sich demgemäß durch diesen Bescheid beschwert, so blieb ihm, wollte er den Verlust seines geltend gemachten Anspruchs vermeiden, nur die Möglichkeit der Klageerhebung. Für eine - gewissermaßen strafweise - Verwirkung des Rechtsschutzbedürfnisses aus voraufgegangenem Verhalten lägen - auch wenn man eine solche mit dem Landessozialgericht entgegen der Ansicht des Senats grundsätzlich für möglich halten wollte - im vorliegenden Fall jedenfalls keine hinreichenden Gründe vor. Das Verhalten des Klägers beruhte nach den Umständen des Falles erkennbar auf rechtsirrtümlichen Vorstellungen, insbesondere über die unterschiedliche Bedeutung der Begriffe "Knappschaftsrente" und "Berufsunfähigkeit" nach altem und neuem Recht, nicht aber auf der Absicht, das Verfahren zu verschleppen, aber auf willkürlicher Mißachtung gesetzlicher Vorschriften. Auch aus § 87 des Reichsknappschaftsgesetzes kann eine Verwirkung des Klagerechts oder gar des Rentenanspruchs selbst nicht hergeleitet werden; diese Vorschrift bezieht sich ausschließlich auf Rentenempfänger, die sich der Nachuntersuchung entziehen, nicht aber auf Rentenbewerber, die ja das Risiko der Unbeweisbarkeit ihrer Ansprüche selbst zu tragen haben. Das LSG hat daher zu Unrecht die Klage als unzulässig angesehen; es hätte vielmehr sachlich über den Klageanspruch entscheiden müssen.

Ob ein Tatsachengericht dann, wenn der Versicherte in dem vorhergehenden Verwaltungsverfahren durch sein Verhalten die Einholung von Gutachten schuldhaft vereitelt hat, seinerseits von der Einholung von Gutachten absehen und nach dem Grundsatz der objektiven Beweislast die Klage abweisen darf, ist hier nicht zu entscheiden. Denn aus der besonderen Situation des vorliegenden Falls kann dem Kläger sein Verhalten nicht in diesem Sinn angelastet werden. Da das LSG keine für eine Sachentscheidung erforderlichen tatsächlichen Feststellungen getroffen hat, auf Grund derer das Revisionsgericht selbst entscheiden könnte, muß der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.

Es handelt sich um eine zusammengefaßte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG), in welcher über einen noch nicht bindend abgelehnten Rentenantrag zu entscheiden ist. Das Berufungsgericht hat seiner Entscheidung die Sachlage zur Zeit der letzten mündlichen Verhandlung zugrunde zu legen (vgl. SozR Nr. 24, 25, 71, 72 zu § 54 SGG). Es wird also, falls sich aus dem Vorbringen des Klägers oder aus erkennbaren Umständen ein Anhalt dafür ergibt, auch zu prüfen haben, ob nicht etwa von einem späteren Zeitpunkt an die Voraussetzungen für die Gewährung der beantragten Leistung erfüllt sind. In einem solchen Falle könnte eine ärztliche Begutachtung nach §§ 103, 106 oder nach § 109 SGG - sofern nicht die Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen - jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen sein.

Zu der mit der Revision beantragten Zurückverweisung an einen anderen Senat des Berufungsgerichts bestand, auch wenn man die entsprechende Vorschrift in § 565 Abs. 1 Satz 2 der Zivilprozeßordnung für entsprechend anwendbar hält, kein Anlaß.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1668950

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