Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 20.12.1967; Aktenzeichen L 4 Kr 36/62)

 

Tenor

Die Revision der klagenden Ersatzkasse gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 20. Dezember 1967 wird zurückgewiesen.

Die Anschlußrevision der beklagten Bundesrepublik Deutschland wird zurückgewiesen, soweit es sich um ihren Bescheid vom 1. Februar 1961 handelt.

Der Bescheid der Beklagten vom 18. Dezember 1967 wird aufgehoben.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten in der Sache noch über den Umfang des Aufsichtsrechts der beklagten Bundesrepublik (Bundesversicherungsamt – BVA –) sowie darüber, ob die klagende Ersatzkasse sich bei der Abrechnung des Kostenersatzes mit dem Bund nach § 14 des Mutterschutzgesetzes (MuSchG) aF vom 24. Januar 1952 darauf berufen darf, daß ein außerhalb der Sechswochenfrist vor dem mutmaßlichen Entbindungstermin ausgestelltes ärztliches Zeugnis im Sinne des § 195 a Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF nicht ausreichend ist, obwohl sie dieses Zeugnis der Gewährung des Wochengeldes nach dem MuSchG aF zugrundegelegt hat.

Die Klägerin ist zunächst der Ansicht gewesen, daß sich ihre Eigenleistung an Wochengeld in den Fällen, in denen die Niederkunft später als sechs Wochen nach der Arbeitseinstellung erfolgt ist, nach dem für freiwillig weiterversicherte Mitglieder vorgesehenen Satz ihrer Versicherungsbedingungen bemesse. Nachdem die Klägerin auf dieser Grundlage mit dem Bund abgerechnet hatte, richtete das BVA am 1. Februar 1961 ein Schreiben an die Klägerin, in dem u. a. ausgeführt wurde; Die Kasse habe die Vorschrift des § 195 a Abs. 2 und 7 RVO in § 21 Nr. 2 und 5 ihrer Versicherungsbedingungen übernommen. Daraus folge im Endergebnis, daß die Kasse auch den wegen Schwangerschaft aus der Versicherungspflicht ausgeschiedenen und nach § 513 Satz 2 RVO freiwillig weiterversicherten Mitgliedern den vollen Anspruch aus der früheren Pflichtversicherung erhalten wollte. Bei der Abrechnung von Leistungsfällen in der vorliegenden Art mit dem Bund sei nach dieser Rechtsauffassung zu verfahren. Bereits eingereichte Abrechnungen seien zunächst bis zum II. Quartal 1960 zurück zu überprüfen und ggf. neu aufzuteilen. Dem BVA seien nun) vollständig neue Abrechnungen und nicht etwa lediglich in den falsch berechneten Fällen berichtigte Kostennachweise innerhalb einer Frist von 3 Monaten einzureichen. Es folgt dann die Rechtsbehelfsbelehrung.

Das Sozialgericht (SG) Hannover hat diese Anordnung mit Urteil vom 30. November 1962 aufgehoben.

Hiergegen hat das BVA Berufung eingelegt. Während des Berufungsverfahrens hat die Beklagte unter dem 18. Dezember 1967 ein weiteres Schreiben an die Klägerin gerichtet, in dem es u. a. heißt:

Im Verlauf des gegen die Anordnung vom 1. Februar 1961 gerichteten Klageverfahrens ist die Rechtsgrundlage, auf der sie beruht, streitig geworden. Sie wird von der Klägerin und dem SG Hannover im Urteil vom 30. November 1962 als Aufsichtsanordnung bezeichnet. „Das Bundesversicherungsamt ergänzt daher den Bescheid vom 1. Februar 1961 dahin, daß

  1. die von der Klägerin in den genannten Fällen geltend gemachten Erstattungsansprüche ab II. Quartal 1960 und künftighin vom Bundesversicherungsamt auch als mittelbewirtschaftende Stelle abgelehnt werden, soweit sie über die dargelegte und in dem Streitverfahren weiter erläuterte Rechtsauffassung des Bundesversicherungsamts hinausgehen, und
  2. der Klägerin aufgegeben wird, bei der Aufstellung der Kostennachweise ab II. Quartal 1960 und in allen künftigen auf demselben Tatbestand beruhenden Fällen der im vorstehenden ausgesprochenen Ablehnung ihrer weitergehenden Erstattungsansprüche Rechnung zu tragen.

Dieser Bescheid wird gemäß § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens.”

Die Klägerin hat sich der Berufung angeschlossen und klageerweiternd beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an sie in den Fällen

A)

Heidemarie L.

150,50 DM,

B)

Karin H.

329,50 DM,

C)

Heidemarie B.

150,50 DM,

D)

Gisela M.

707,75 DM,

E)

Renate F.

301,00 DM,

F)

Marlene D.

676,25 DM,

G)

Heidemarie H.

215,00 DM

zu zahlen.

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen hat sowohl die Berufung als auch die Anschlußberufung zurückgewiesen: Das Schreiben vom 1. Februar 1961 sei eine nach § 30 RVO erlassene Aufsichtsanordnung. Diese sei rechtswidrig, weil sie der gerichtlichen Entscheidung des Streites der Beklagten ohne zureichenden Grund vorgreife (BSG 25, 224), Der Bescheid vom 18. Dezember 1967 sei nicht gemäß §§ 96, 153 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gegenstand des Verfahrens geworden, da er als innerdienstliche Weisung eine Aufsichtsanordnung weder abändern noch ersetzen könne. In den streitigen Leistungsfällen habe die Klägerin keinen Anspruch auf Ersatz weiterer Kosten, als ihr nach eigenen Angaben von der Beklagten bereits ersetzt worden seien. Zu Unrecht sei die Klägerin der Auffassung, daß die Versicherten mit der Einstellung ihrer beruflichen Tätigkeit wegen Schwangerschaft oder mit Ende eines sich an die Arbeitseinstellung anschließenden kurzen unbezahlten Urlaubs aus der versicherungspflichtigen Beschäftigung ausgeschieden seien und deshalb im Zeitpunkt des Versicherungsfalls der Entbindung nicht mehr zu den pflichtversicherten, sondern zu den freiwillig weiterversicherten Mitgliedern gehört hätten. Einem versicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stünden die Zeiten eines Beschäftigungsverbotes nach dem MuSchG aF gleich. Bei den Versicherten, um die es hier gehe, habe die Zeit des sechswöchigen Beschäftigungsverbotes vor der Niederkunft (§ 3 Abs. 2 Buchst. b MuSchG aF) – vom ärztlich angenommenen Tage der mutmaßlichen Niederkunft zurückgerechnet – entweder noch in die Zeit der tatsächlichen Arbeitsleistung hineingereicht oder sich unmittelbar daran oder an einen kurzen unbezahlten Urlaub angeschlossen. Soweit die Niederkunft später als sechs Wochen nach Beginn der Schutzfrist erfolgt sei, habe sich diese nach § 5 Abs. 2 MuSchG aF bis zur Niederkunft verlängert. In jedem der einzelnen Fälle habe das versicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnis aber die Einstellung der beruflichen Tätigkeit hinaus bis zur Niederkunft und bis zum Ende der sich daran anschließenden Schutzfrist (§ 6 MuSchG aF) fortgedauert. Wie in BSG 25, 224 u. a. ausgesprochen sei, könne sich eine Kasse, die auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses über den mutmaßlichen Zeitpunkt der Niederkunft Wochengeld gewährt habe, auch der Beklagten gegenüber nicht mehr darauf berufen, daß sie nach § 195 a Abs. 2 RVO aF wegen eines dieser Vorschrift nicht genügenden Zeugnisses nicht verpflichtet gewesen sei, aus eigenen Mitteln Wochengeld zu zahlen.

Gegen dieses Urteil hat die Klägerin die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie hat zunächst das mit der Anschlußberufung verfolgte Leistungsbegehren erneuert. Mit Rücksicht auf das Urteil des erkennenden Senats vom 30. April 1968 – 3 RK 61/65 – (SozR Nr. 6 zu § 195 a RVO aF) hat sie jedoch die Revision eingeschränkt und beantragt nunmehr sinngemäß,

das Urteil des LSG Niedersachsen vom 20. Dezember 1967 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, an sie in den Fällen

B)

H.

157,50 DM,

D)

M.

299,25 DM,

F)

D.

267,75 DM

zu zahlen.

Die von der Klägerin noch geforderten Beträge in den Fällen H. M. und D. entsprechen jeweils dem – auf die fünfte und sechste Woche vor der Entbindung entfallenden – erweiterten Wochengeld nach § 195 a Abs. 2 RVO aF. Die Klägerin ist der Ansicht, insoweit bei der Gewährung des Wochengeldes keine eigene Pflicht erfüllt zu haben, sondern im Auftrage und für Rechnung des Bundes tätig geworden zu sein. Nach ihrer Auffassung sind die in den genannten Fällen vorgelegten Niederkunftsbescheinigungen jeweils so weit vor dem mutmaßlichen Entbindungstermin ausgestellt, daß sie keine genügend sichere Grundlage für die Gewährung des erweiterten Wochengeldes nach § 195 a Abs. 2 RVO aF bieten; Zwar habe sie auf Grund dieser Bescheinigungen das Wochengeld nach dem MuSchG aF gewährt, Dabei habe sie jedoch nicht in eigener Verantwortung, sondern auf Weisung der Beklagten gehandelt, die sie mit Anordnung vom 18. Mai 1961 dazu verpflichtet habe, § 195 a Abs. 2 RVO aF weit auszulegen, d. h., jede Niederkunftsbescheinigung, die vor der Sechswochenfrist ausgestellt sei, anzuerkennen.

Die Beklagte hat sich der Revision angeschlossen und beantragt,

1) das Urteil des LSG Niedersachsen vom 20. Dezember 1967, soweit es die Berufung zurückweist, sowie das Urteil des SG Hannover vom 30. November 1962 aufzuheben und die Anfechtungsklage abzuweisen,

2) die Revision zurückzuweisen.

Verfahrensrechtlich rügt sie zunächst die Auffassung des LSG, daß der Bescheid des BVA vom 18. Dezember 1967 nicht Gegenstand des Verfahrens geworden sei: Er sei auf die gleiche Rechtsfolge – Ablehnung der geltend gemachten Erstattungsansprüche – gerichtet wie die Anordnung des BVA vom 1. Februar 1961. Er betreffe deshalb denselben Streitgegenstand und ergänze die genannte Anordnung nur um einen weiteren, vom LSG noch nicht geprüften Gesichtspunkt. – Die Beklagte ist ferner der Ansicht, daß die Anordnung des BVA von; 1. Februar 1961 der gerichtlichen Entscheidung des Streites der Beteiligten nicht unzulässig vorgreife. Sie wendet sich dabei auch gegen die Ausführungen im Urteil des erkennenden Senats vom 27. Oktober 1966 (insoweit veröffentlicht in BSG 25, 224): In Fällen der vorliegenden Art sei die vom Senat geäußerte Befürchtung unbegründet, daß ein Eingreifen der Rechtsaufsicht die Gefahr sich widersprechender gerichtlicher Entscheidungen – nämlich einerseits zwischen den Versicherten und der Krankenkasse, andererseits zwischen der Kasse und dem Träger der Rechtsaufsicht – heraufbeschwören könne Denn für die Versicherten sei weder erkennbar noch von wirtschaftlichem Interesse, wie hoch die Kasse ihren Eigenanteil an der Gesamtleistung nach dem MuSchG aF ansetze. Auch werde durch eine Aufsichtsanordnung kein Streit entschieden, sondern gemäß § 54 Abs. 3 SGG gerade ein Rechtsweg eröffnet, der die Gerichte instandsetze, ihrer verfassungsmäßigen Aufgabe auch im Falle eines aufsichtsbehördlichen Eingreifens zu genügen. Schließlich sei das BVA seiner gesetzlichen Funktion auch nicht deshalb enthoben, weil es zugleich mittelbewirtschaftende Stelle für die Aufwendungen des Bundes nach dem MuSchG aF sei, hier also „in eigener Sache” tätig werde. Anders als der kraft Gesetzes ausgeschlossene Richter müsse eine Verwaltungsbehörde ihre Aufgaben wahrnehmen, weil kein anderer es für sie tun könne.

Ihren Antrag, die Revision zurückzuweisen, begründet die Beklagte in erster Linie damit, daß das Leistungsbegehren der Klägerin gemäß § 102 SGG unzulässig sei: Mit diesem Begehren werde die Klärung der Frage erstrebt, ob ärztliche Bescheinigungen über den mutmaßlichen Zeitpunkt der Entbindung, die früher als sechs Wochen vor diesem Zeitpunkt ausgestellt seien, den Anspruch auf das erweiterte Wochengeld nach der RVO auslösten. Diese Frage sei aber bereits Gegenstand eines früheren – zuletzt beim LSG Niedersachsen unter dem Az. L 4 Kr 23/62 geführten – Rechtsstreits der Beteiligten gewesen, der sich durch Klagerücknahme erledigt habe.

Im übrigen hält die Beklagte das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der klagenden Ersatzkasse ist unbegründet.

Nachdem die Klägerin die Revision in den Leistungsfällen T. B. E. und H. ganz, in den Fällen H. M. und D. teilweise zurückgenommen hat, ist das Urteil des LSG insoweit rechtskräftig. Auf die Revision ist deshalb nur darüber zu entscheiden, ob der Klägerin die in den zuletzt genannten Fällen noch geforderten Beträge zustehen. Das ist jedoch nicht der Fall.

Zum Ersatz dieser Beträge, die jeweils dem erweiterten, auf die fünfte und sechste Woche vor der Niederkunft entfallenden Wochengeld nach § 195 a Abs. 2 RVO aF entsprechen, ist der Bund nach § 14 MuSchG aF verpflichtet, wenn die Klägerin das Wochengeld insoweit nicht auf Grund des § 195 a Abs. 2 RVO aF als Eigenleistung, sondern nur nach § 13 MuSchG aF, also im Auftrage und für Rechnung des Bundes (vgl. § 13 Abs. 8 und § 14 MuSchG aF), zu gewähren brauchte. Dies beantwortet sich danach, ob die Klägerin die ihr in den Leistungsfällen H. M. und D. vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen über den voraussichtlichen Tag der Entbindung für ihre Eigenleistung nach § 195 a Abs. 2 RVO aF im Verhältnis zur Beklagten als nicht zuverlässig genug ablehnen darf, weil diese Bescheinigungen – zum Teil weit – über eine Woche früher als sechs Wochen vor der mutmaßlichen Niederkunft ausgestellt sind.

Zu Unrecht ist die Beklagte der Auffassung, daß die prozessuale Geltendmachung der noch streitbefangenen Erstattungsansprüche nach § 102 SGG unzulässig sei.

Allerdings hat die Klägerin in einem anderen Verfahren, das zuletzt unter dem Az. L 4 Kr 23/62 beim LSG Niedersachsen anhängig gewesen ist, die Klage gegen die Anordnungen des BVA vom 21. März 1960 und vom 18. Mai 1961 zurückgenommen, durch die das BVA der Klägerin gemäß § 30 RVO aufgegeben hatte, bei der Abrechnung der Bundesmittel in Wochenhilfefällen davon auszugehen, daß auch ein früher als sechs Wochen vor dem mutmaßlichen Zeitpunkt der Niederkunft ausgestelltes Entbindungszeugnis den Anspruch auf das erweiterte Wochengeld nach § 195 a Abs. 2 RVO aF begründe. Zurückgenommen worden ist dabei auch das als Hilfsantrag erhobene Begehren, die Beklagte dem Grunde nach zu verurteilen – oder hilfsweise festzustellen, daß sie verpflichtet sei –, der Klägerin nach § 14 MuSchG aF auch diejenigen Leistungen an erweiterter Wochenhilfe zu erstatten, die auf Grund einer früher als sechs Wochen vor dem voraussichtlichen Entbindungstag ausgestellten Niederkunftsbescheinigung nach dem MuSchG aF gewährt worden oder noch zu gewähren seien. Nach § 102 Satz 2 SGG erledigt die Klagerücknahme den Rechtsstreit in der Hauptsache. Wie der Senat in seinem Urteil vom 28. April 1967 (SozR Nr. 9 zu § 102 SGG) dargelegt hat, ist damit der prozessuale Anspruch auf gerichtliche Entscheidung über den Klagegegenstand verbraucht, eine Erneuerung der Klage bei unveränderter Sachlage unzulässig. Die Klagerücknahme ist als reine Prozeßhandlung sachlich-rechtlich wertfrei; sie bedeutet nicht das Eingeständnis des Klägers, daß seine Rechtsbehauptung unrichtig sei, insbesondere enthält sie keinen Verzicht auf den Klaganspruch (vgl. Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, § 102 Anm. 1; Rohwer-Kahlmann, Aufbau und Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit, § 102 Anm. 1; Fischer, DOK 1955, 378, 380; Böhme, BG 1961, 484, 485, Fußnote 20). Vielmehr begibt sich der Kläger seines prozessualen Rechts auf Entscheidung nur für dieses Verfahren, und lediglich dieses Verfahren zu erneuern – über denselben Streitgegenstand erneut zu klagen –, ist ihm nach § 102 Satz 2 SGG verwehrt (vgl. Böhme, aaO S. 485).

Geht man von einer solchen streng auf den Streitgegenstand beschränkten Beurteilung der Wirkungen der Klagerücknahme aus, so war die Klägerin, ungeachtet der Identität des sachlich-rechtlichen Streitthemas in beiden Prozessen, wegen der Verschiedenheit des Streitgegenstands nicht gehindert, ihren Leistungsanspruch mittels Klage in drei Fällen geltend zu machen, die nicht schon Streitgegenstand des früheren Verfahrens gewesen sind. Ebensowenig stand dieser Klage entgegen, daß die Klägerin ihre Anfechtungsklage gegen die Aufsichtsanordnungen zurückgenommen hatte. Wie das LSG mit Recht angenommen hat, sind die Anordnungen des BVA vom 21. März 1960 und vom 18. Mai 1961 nicht bindend geworden. Auf die Urteile des erkennenden Senats vom 27. Oktober 1966 – 3 RK 26 bis 30/64 – hat das BVA sie – noch bevor die Klagerücknahme erfolgte – ausdrücklich für „gegenstandslos” erklärt. Diese Erklärung besagte zumindest, daß die genannten Anordnungen „nicht mehr gelten”, d. h. keine Rechtswirkung mehr äußern sollten, was ihrer fomellen Aufhebung gleichkommt. Damit wurden sie aber nicht nur für die Zukunft (ex nunc), sondern auch für die Vergangenheit (ex tunc) hinfällig. Denn die Erklärung des BVA sollte – im Verein mit der Klagerücknahme – die Voraussetzung dafür schaffen, daß auch die bisher streitig gewesenen Leistungsfälle unmittelbar auf Grund der genannten Urteile des Senats neu überprüft werden konnten.

Die demnach zulässige Klage ist jedoch unbegründet. Zu der in der Sache selbst streitigen Rechtsfrage hat der Senat in seinem Urteil vom 27. Oktober 1966 – 3 RK 27/64 – (insoweit veröffentlicht in SozR Nr. 3 zu § 195 a RVO aF) ausgeführt: Sei das Zeugnis des Arztes, „daß die Entbindung voraussichtlich innerhalb sechs Wochen stattfinden wird” (§ 195 a Abs. 2 Satz 1 RVO aF), früher als sechs Wochen vor dem voraussichtlichen Entbindungstag ausgestellt worden, so habe die Krankenkasse in eigener Verantwortung zu prüfen, ob es genügend zuverlässig sei, um eine Gewährung des erweiterten Wochengeldes nach § 195 a Abs. 2 RVO aF zu rechtfertigen. Das gleiche gelte für das in §§ 5 Abs. 2, 13 Abs. 3 MuSchG aF vorgesehene Entbindungszeugnis. Habe die Kasse Wochengeld vor der Entbindung gewährt, so könne sie sich nicht darauf berufen, das ihr vorgelegte Zeugnis habe zwar für die Anwendung des § 13 MuSchG aF ausgereicht, nicht aber den Anforderungen des § 195 a Abs. 2 RVO aF genügt.

Es kann dahingestellt bleiben, ob sich die Klägerin darauf berufen kann, sie sei durch die Anordnung des BVA gehalten gewesen, auf jede noch so früh vor Beginn der 6-Wochenfrist ausgestellte Niederkunftsbescheinigung das erweiterte Wochengeld nach § 195 a Abs. 2 RVO aF zu gewähren. Denn selbst wenn sie die Möglichkeit gehabt hätte, diese Bescheinigungen in eigener Verantwortung zu prüfen und die Versicherten auf die Notwendigkeit fristgerechter Zeugnisse hinzuweisen, und diese vorgelegt worden wären, wäre der Umfang ihrer Eigenleistung unverändert geblieben. Auch die verfrüht ausgestellten Zeugnisse haben sich als richtig erwiesen. Der wahrscheinliche Tag der Entbindung war in diesen Zeugnissen – unter Berücksichtigung der üblichen Schwankungsbreite bei fristgerecht ausgestellten Niederkunftszeugnissen – zutreffend angegeben.

Die Anschlußrevision der Beklagten ist, soweit es sich um ihren Bescheid vom 1. Februar 1961 handelte, ebenfalls unbegründet. Das SG hat diese Anordnung des BVA mit Recht aufgehoben.

Wie die Vorinstanzen zutreffend angenommen haben und wie auch die Beklagte nicht mehr verkennt, handelt es sich bei dieser Anordnung um eine Maßnahme der Rechtsaufsicht im Sinne des § 30 RVO. Abgesehen davon, daß das BVA selbst in seiner späteren Anordnung vom 18. Mai 1961 den hier strittigen Bescheid wiederholt als „Aufsichtsanordnung” bezeichnet hat, läßt dieser nach Form und Inhalt keinen Zweifel daran, daß das BVA bei ihrem Erlaß als Aufsichtsbehörde für die bundesunmittelbaren Versicherungsträger tätig geworden ist (vgl. § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die Errichtung des Bundesversicherungsamts, die Aufsicht über die Sozialversicherungsträger und die Regelung von Verwaltungszuständigkeiten in der Sozialversicherung und der betrieblichen Altersfürsorge, Bundesversicherungsamtsgesetz – BVAG – vom 9. Mai 1956, BGBl I 415, i.V.m. § 3 Abs. 1 und 2 RVO, Abschnitt II Art. 3 § 1 des Aufbaugesetzes vom 5. Juli 1934, RGBl I 577). Sie ist nämlich in der Form eines Verwaltungsaktes ergangen und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung versehen, was bei einer „fachlichen Weisung”, als die sie das BVA zunächst hat verstanden wissen wollen, mindestens ungewöhnlich wäre. Sachlich enthält sie die jedenfalls im Zweifel für eine Aufsichtsanordnung sprechende – berichtigende Einflußnahme auf ein ausschließlich rechtlich beanstandetes Verwaltungsverhalten der Klägerin.

Entgegen den mit der Anschlußrevision und teilweise auch im Schrifttum (Stößner, Die Staatsaufsicht in der Sozialversicherung, 1969, 41 f; Brackmann, DOK 1969, 686, 687) erhobenen Einwänden hält der Senat an seiner in dem schon mehrfach erwähnten Urteil vom 27. Oktober 1966 – 3 RK 27/64 – (insoweit veröffentlicht in BSG 25, 224) dargelegten Auffassung fest, daß die Aufsichtsbehörde mit einer Aufsichtsanordnung grundsätzlich nicht der Entscheidung des Gerichts Über ein zwischen dem Versicherungsträger und einem Dritten streitiges Rechtsverhältnis vorgreifen darf (im Ergebnis zustimmend Wertenbruch, DÖV 1969, 593, 602; Schnapp BKK, 1969, 97, 100). Ob allerdings bei dem hier vorliegenden Streit zwischen Bund und Ersatzkasse über die richtige Abrechnung von Leistungen „Dritte”, die wegen der Ablehnung einer Leistung gegen die Kasse Klage erheben könnten (vgl. aaO S. 226), vorhanden sind, könnte fraglich sein. Jedenfalls greift das vom Senat in der genannten Entscheidung gleichfalls verwertete Bedenken durch, daß das BVA mit der strittigen Anordnung ein Rechtsverhältnis geregelt hat, an dem es – als Dienststelle des Bundes – unmittelbar beteiligt war, weil der Bund das BVA mit der Abrechnung der streitigen Erstattungsansprüche beauftragt hat, so daß das BVA durch Erlaß der angefochtenen Anordnung gewissermaßen in eigener Sache tätig geworden ist. Nach der Verordnung (VO) zur Durchführung des § 14 MuSchG aF vom 22. November 1955 (BGBl I 728) haben die Ersatzkassen die abgeschlossenen Fälle, in denen Leistungen nach § 13 MuSchG aF gewährt sind, in einem Kostennachweis zusammenzustellen und am Ende jedes Kalendervierteljahres dem Bundesminister „oder der von ihm bestimmten Stelle” einzureichen; diese überweist dann die zu erstattenden Beträge (§ 1, 21 Abs. 1, 3 Abs. 1 der VO). Der Bundesarbeitsminister hat durch Erlaß vom 21. November 1958 das BVA mit der Durchführung des Erstattungsverfahren nach § 14 MuSchG aF beauftragt und ihm insoweit zugleich die Bewirtschaftung der Haushaltsmittel sowie die Befugnis zur Erteilung von Annahme- und Auszahlungsanordnungen nach § 27 Abs. 1 der Wirtschaftsbestimmungen für die Reichsbehörden vom 11. Februar 1929 übertragen (BABl 1960, 5). Damit ist in diesem Umfange auch die Befugnis zur rechtsgeschäftlichen und gerichtlichen Vertretung des Bundes auf den Präsidenten des BVA übergegangen (vgl. dazu die Vertretungsordnungen für den Geschäftsbereich des Bundesjustizministers vom 25. April 1958, Bundesanzeiger Nr. 82, und des Bundesinnenministers vom 20. November 1962, Bundesanzeiger Nr. 231).

Bei einer solchen Kompetenzverbindung ist ein öffentliches Interesse daran, mit Maßnahmen der Staatsaufsicht einzugreifen, nicht ersichtlich. Ein Schaden für die Rechtsordnung, den abzuwenden die Staatsaufsicht berufen wäre (vgl. Stößner, aaO S. 30), kann hier nicht eintreten. Gegenüber überhöhten Forderungen einer Ersatzkasse im Abrechnungsverkehr mit dem Bund genügt die schlichte Ablehnung. Sie nötigt die Kasse, ihre vermeintlichen Ansprüche im Klagewege (§ 54 Abs. 5 SGG) zu verfolgen und damit die gerichtliche Klärung der sachlichen Streitfragen herbeizuführen. Ein öffentliches Interesse am Eingreifen der Staatsaufsicht besteht regelmäßig dann nicht, wenn die Beteiligten eines Rechtsverhältnisses über dessen Inhalt streiten und dieser Streit ohne weiteres zur Entscheidung eines Gerichts gebracht werden kann. Daraus folgt, als Aufsichtsbehörde (§ 30 RVO) darf das BVA das Mittel des Verwaltungsakts nur im öffentlichen Interesse, nicht aber zur Durchsetzung eines von ihm für die Abrechnung zwischen Versicherungsträgern und Bund vertretenen Rechtsauffassung einsetzen.

Die Anschlußrevision der beklagten Bundesrepublik ist aber insoweit begründet, als sie rügt, daß das LSG den Bescheid des BVA vom 18. Dezember 1967 zu Unrecht nicht gemäß § 96 i.V.m. § 153 Abs. 1 SGG in das Berufungsverfahren einbezogen hat.

Mit diesem Bescheid hat das BVA zum Ausdruck gebracht, es treffe die mit der Aufsichtsanordnung vom 1. Februar 1961 ergangene Regelung „auch als mittelbewirtschaftende Stelle”. Um eine inhaltlich unveränderte Regelung zu bekräftigen und weiter abzusichern, hat das BVA sich noch auf seine neben der aufsichtsbehördlichen bestehende Zuständigkeit als mittelbewirtschaftende Stelle des Bundes berufen. Mit dieser Inanspruchnahme einer neuen Zuständigkeit hat das BVA nicht bloß eine bereits getroffene Regelung unverändert wiederholt, sondern diese Regelung mit einem wesentlich die Beurteilungsgrundlage verändernden Gesichtspunkt ergänzt. Damit ist ein „neuer” Verwaltungsakt ergangen; so wollte ihn auch das BVA in der Rechtsbehelfsbelehrung dieses Bescheids aufgefaßt wissen. Mag auch die unmittelbare Anwendbarkeit des § 96 SGG fraglich sein, so würde es jedenfalls dem besonders auf Prozeßwirtschaftlichkeit gerichteten Zweck dieser Vorschrift zuwiderlaufen, sie nicht wenigstens entsprechend auf einen solchen Bescheid anzuwenden (vgl. BSG 25, 161, 162 f mit weiteren Nachweisen). Denn er steht nicht nur sachlich mit dem gesamten Prozeßstoff in einem inneren Zusammenhang, sondern er ist auch der ihm zugedachten Funktion nach unmittelbar darauf gerichtet, den anhängigen Prozeßstoff zu beeinflussen (vgl. auch die Begründung zu § 43 des Regierungsentwurfs zur Sozialgerichtsordnung, BT-Drucks. Nr. 4357/53).

Die sachliche Überprüfung des Bescheides vom 18. Dezember 1967 führt zu seiner Aufhebung, die der erkennende Senat (§ 170 Abs. 2 Satz 1 SGG) selbst aussprechen kann, da es einer Tatsachenfeststellung durch das LSG nicht mehr bedarf. Soweit das BVA die streitigen Ersatzansprüche als mittelbewirtschaftende Stelle abgelehnt hat, ist der genannte Bescheid rechtswidrig, weil es dem BVA als mittelverwaltender Stelle – insofern steht es dem ersatzberechtigten Versicherungsträger gleichrangig gegenüber – verwehrt ist, mit dem hoheitlichen Mittel des Verwaltungsakts das streitige Rechtsverhältnis zu regeln.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Unterschriften

Dr. Langkeit, Spielmeyer, Schroeder-Printzen

 

Fundstellen

Dokument-Index HI926672

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