Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachlaß. anzuzeigende Arbeitsunfälle

 

Orientierungssatz

Im Beitragsnachlaßverfahren nach § 725 Abs 2 RVO sind nur die für anzuzeigende Unfälle (§ 1552 Abs 1 RVO) gezahlten Leistungen zu berücksichtigen.

 

Normenkette

RVO § 725 Abs 2 S 1, § 1552 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 08.07.1981; Aktenzeichen L 17 U 213/80)

SG Dortmund (Entscheidung vom 29.04.1980; Aktenzeichen S 17 U 147/78)

 

Tatbestand

Der Kläger ist als Unternehmer eines Betriebes Mitglied der Beklagten. Im Revisionsverfahren ist nur noch zu entscheiden, ob die Beklagte einen höheren Beitragsnachlaß für das Jahr 1976 gewähren muß.

Bei der Berechnung des Beitragsnachlasses stellt die Beklagte die sog Eigenbelastung des einzelnen Unternehmens der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen gegenüber. Dabei werden die Entschädigungsleistungen für Unfälle berücksichtigt, welche sich im Umlagejahr und in den vier vorangegangenen Kalenderjahren ereignet haben (§ 27 Abs 1 Nrn 1 und 5 der Satzung der Beklagten). Bei der Errechnung des Beitragsnachlasses für den Kläger berücksichtigte die Beklagte Entschädigungsleistungen für die Unfälle zweier Angestellten in Höhe von 50,30 DM und 23,10 DM. Hieraus errechnete sie eine Eigenbelastungsziffer von 1 vH und gewährte demgemäß einen Beitragsnachlaß von 29 vH (Bescheid vom 1. April 1977). Dem Widerspruch des Klägers, welcher auf die Nichtberücksichtigung beider Unfälle gerichtet war, half die Beklagte nicht ab (Widerspruchsbescheid vom 15. Juni 1978).

Das Sozialgericht (SG) Dortmund hat die Bescheide insoweit aufgehoben, als bei der Errechnung des Beitragsnachlasses eine Eigenbelastung für das Unternehmen des Klägers berücksichtigt worden war (Urteil vom 29. April 1980). Der Kläger habe nach Kenntnis der Entschädigungsleistungen "die Eigenbelastung durch die volle Übernahme der Kosten beseitigt". Das sei zulässig gewesen. Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein- Westfalen hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen (Urteil vom 8. Juli 1981). Soweit die Satzung der Beklagten bei der Errechnung der Eigenbelastung eines Unternehmens auch die nichtmeldepflichtigen Unfälle einbeziehe, liege ein Verstoß gegen die Regelung des § 725 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) vor, welcher nur die Berücksichtigung der anzuzeigenden Unfälle zulasse. Solche Unfälle lägen hier nicht vor. Die Beklagte hätte ihre Satzung durch eine entsprechende Klarstellung iS des § 725 Abs 2 RVO ändern müssen. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat das gegebene Rechtsmittel eingelegt. Sie vertritt die Meinung, daß § 725 Abs 2 RVO auch die Berücksichtigung nicht anzuzeigender Arbeitsunfälle zulasse. Der Wortlaut der Vorschrift gebiete lediglich die Berücksichtigung der anzeigepflichtigen Unfälle, schließe jedoch die Einbeziehung der übrigen Arbeitsunfälle nicht aus. Dies folge ua aus dem weiteren Wortlaut der Norm, in welchem nur noch unterschiedslos von Arbeitsunfällen die Rede sei. Der auf eine bessere Unfallverhütung gerichtete Zweck der Vorschrift gebiete die Berücksichtigung auch der nicht anzuzeigenden Unfälle. Die insoweit eindeutige Bestimmung in § 27 ihrer Satzung stimme folglich mit § 725 Abs 2 RVO überein. Im übrigen werde dieselbe Eigenbelastungsziffer von 1 vH auch bei Nichtberücksichtigung des nichtmeldepflichtigen zweiten Unfalles erreicht.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Sozialgerichts vom 29. April 1980 sowie des Landessozialgerichts vom 8. Juli 1981 abzuändern und die gegen den Bescheid vom 1. April 1977 gerichtete Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Nach seiner Auffassung dürfen bei der Errechnung des Beitragsnachlasses nur anzuzeigende Arbeitsunfälle berücksichtigt werden. Daher sei der Unfall aus dem Jahre 1976 nicht in Ansatz zu bringen. Der zweite Unfall im Unternehmen des Klägers sei infolge Einschränkung der Revision auf die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 1. April 1977 rechtsverbindlich aus der Belastung des Unternehmens des Klägers ausgenommen. Die Eigenbelastungsziffer betrage 0 vH.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.

Das LSG hat zutreffend entschieden, daß nur der anzeigepflichtige Unfall aus dem Jahre 1974 bei der Errechnung der Eigenbelastungsziffer in Ansatz gebracht werden durfte. Dabei wird eine anrechenbare Größe nicht erreicht, so daß der Kläger Anspruch auf einen höheren Beitragsnachlaß hat.

Nach § 725 Abs 2 Satz 1 RVO erfolgt die Bewilligung von Beitragsnachlässen "unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Arbeitsunfälle (§ 1552 Abs 1)". Die Beklagte versteht diese Vorschrift in dem Sinne, daß die anzeigepflichtigen Unfälle nicht ausgeklammert, alle übrigen Unfälle jedoch einbezogen werden dürfen. Dem vermag der Senat nicht zu folgen. Sowohl der Wortlaut und die Systematik sowie Sinn und Zweck des Gesetzes als auch die Entstehungsgeschichte des § 725 Abs 2 Satz 1 RVO in der seit dem 1. Januar 1976 geltenden Fassung (BGBl I 1976, 1373) sprechen gegen diese Auslegung.

Neben den "anzuzeigenden" Arbeitsunfällen in § 725 Abs 2 RVO hat der Gesetzgeber in § 731 Abs 1 RVO die "eingetretenen" Unfälle und in § 731 Abs 2 RVO die "Arbeitsunfälle, die einen Leistungsanspruch begründen", unterschieden. Wollte man mit der Beklagten davon ausgehen, daß unter den "anzuzeigenden" auch die Gesamtheit der "eingetretenen" Arbeitsunfälle verstanden werden könne, so würde die Unterscheidung des Normgebers nicht verständlich sein. Entgegen der Auffassung der Beklagten folgt etwas anderes auch nicht daraus, daß in den Sätzen 3 und 5 des § 725 Abs 2 RVO die Beschränkung auf "anzuzeigende" Arbeitsunfälle nicht wiederholt ist. Der Gesetzgeber hat nicht, wie die Beklagte meint, in Ergänzung des § 725 Abs 2 Satz 2 RVO noch einmal zum Ausdruck bringen müssen, daß nicht anzuzeigende Arbeitsunfälle außer Betracht bleiben. Dies ergibt sich bereits aus § 725 Abs 2 Satz 1 RVO. Ohne die besondere Regelung in § 725 Abs 2 Satz 2 RVO wären aber die anzuzeigenden Wegeunfälle bei der Berechnung von Beitragszuschlägen und -nachlässen nach § 725 Abs 2 Satz 1 RVO zu berücksichtigen gewesen. § 725 Abs 2 Satz 2 RVO war deshalb geboten, um auch die anzuzeigenden Wegeunfälle außer Ansatz zu lassen. Im übrigen bleibt es jedoch für die Regelungen in den Sätzen 3 bis 5 des § 725 Abs 2 RVO bei der insoweit allgemeinen Vorschrift des § 725 Abs 2 Satz 1 RVO. Somit beziehen sich die Sätze 3 bis 5 des § 725 Abs 2 RVO ausschließlich auf die - mit Ausnahme der Wegeunfälle - nach § 725 Abs 1 Satz 1 RVO zu berücksichtigenden - anzuzeigenden - Arbeitsunfälle, so daß es eine Wiederholung der allgemeinen Einschränkung auf "anzuzeigende" Arbeitsunfälle in den Sätzen 3 bis 5 dieser Vorschrift nicht bedurft hat.

Sinn und Zweck des § 725 Abs 2 RVO führen zu keiner andere Auslegung. Die Beklagte unterstellt, der Gesetzgeber habe mit der Formulierung des § 725 Abs 2 RVO in der seit dem 1. Januar 1976 geltenden Fassung, wie sie oben wiedergegeben worden ist, das Ziel verfolgt, zu verhindern, daß ausgerechnet die folgenschweren Unfälle bei der Berechnung des Beitragsnachlasses außer acht gelassen werden. Das wäre der Fall, wenn die anzuzeigenden Arbeitsunfälle außer Betracht bleiben würden. Anzuzeigen sind gem § 1552 Abs 1 RVO alle Unfälle, wenn durch den einzelnen Unfall ein Beschäftigter getötet oder so verletzt ist, daß er stirbt oder für mehr als drei Tage arbeitsunfähig wird. Es spricht nichts dafür, daß der Gesetzgeber davon ausgegangen ist, ohne diese Vorschrift würden bei der Berechnung der Beitragszuschläge und -nachlässe ausgerechnet die Unfälle mit den größten Folgen und höchsten Leistungsansprüchen unberücksichtigt bleiben. Eine solche Beitragsberechnung der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung würde schon nicht der Grundnorm des § 725 Abs 1 RVO entsprechen, wonach sich die Höhe der Beiträge der Unternehmer nach dem Grade der Unfallgefahr in dem Unternehmen richten muß. Insoweit war ein Regelungsbedürfnis iS der von der Beklagten vorgenommenen Auslegung des § 725 Abs 2 RVO nicht gegeben; die Vorschrift ergäbe keinen erkennbaren Sinn. Soweit die Beklagte meint, es sei kein einleuchtender Grund dafür ersichtlich, einzelne Arbeitsfälle nur deshalb aus dem Beitragsnachlaßverfahren auszunehmen, weil sie vom Unternehmer nicht angezeigt werden müssen, ist dem entgegenzuhalten, daß die Gründe, die eine Anzeigepflicht des Unternehmers bei den von § 1552 Abs 1 RVO nicht erfaßten Arbeitsunfällen entfallen lassen, auch dafür anzuführen sind, diese nicht anzuzeigenden Arbeitsunfälle bei der Berechnung der Beitragszuschläge oder -nachlässe nicht zu berücksichtigen.

Die Entstehungsgeschichte des § 725 Abs 2 RVO rechtfertigt ebenfalls nicht die von der Beklagten vertretene Gesetzesauslegung. Bis zum Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes (UVNG) war es zulässig, Nachlässe unter Berücksichtigung der Unfälle, die in dem Betrieb "vorgekommen" sind, zu bewilligen (§ 712 Abs 1 RVO aF). Dies ist in § 725 Abs 2 Satz 1 RVO idF des UVNG (BGBl 1963, 241, 269) beibehalten worden ("... der vorgekommenen Arbeitsunfälle"). Erst der Ausschuß für Arbeit und Sozialordnung hat im Zusammenhang mit der Beratung des 19. Rentenanpassungsgesetzes (RAG) eine Änderung des § 725 Abs 2 RVO vorgeschlagen (BT Drucksache 7/4951) und dabei auch die nunmehr geltende Formulierung gewählt. Zwar ist ausgerechnet bezüglich der hier interessierenden Umformung der Norm eine Begründung - soweit ersichtlich - nicht festgehalten worden. Es spricht jedoch nichts dafür, daß der neue Wortlaut ohne Rücksicht auf bereits in § 731 Abs 1 und 2 RVO vorhandene Formulierungen gewählt worden ist; vielmehr ist davon auszugehen, daß durch die neue Festlegung der Gruppe der "anzuzeigenden" Unfälle eine Unterscheidung zu den "eingetretenen" und den zu einem Leistungsanspruch führenden Arbeitsunfällen bewußt herbeigeführt worden ist. Demzufolge zeigt auch die Geschichte der Vorschrift des § 725 Abs 2 RVO, daß das LSG zutreffend davon ausgegangen ist, bei der Bewilligung eines Beitragsnachlasses seien ausschließlich die anzuzeigenden Arbeitsunfälle einzubeziehen (vgl Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Unfallversicherung, 4. Aufl, § 725 Anm 10 Buchst b; Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl, § 725 Anm 12a Buchst a).

Bei dieser Rechtslage durfte die Beklagte den Unfall aus dem Jahre 1976 mit einer Entschädigungsleistung von 23,10 DM nicht mitberücksichtigen. Der Senat ist der Auffassung, daß die Vorschrift des § 27 der Satzung der Beklagten dieser Auslegung nicht widerspricht. Zwar stammt der Wortlaut dieser Vorschrift noch aus der Zeit vor Inkrafttreten des 19. RAG und enthält demgemäß keine Festlegung der Gruppe der "anzuzeigenden" Arbeitsunfälle. Bei der Abfassung der Satzungsbestimmung ist aber auch keine Gruppenfestlegung in anderem Sinne erfolgt. Auch Nr 2 der Vorschrift, wonach die Eigenbelastung von der "gezahlten Leistung" abhängt, läßt es ohne weiteres zu, diese Vorschrift nunmehr gesetzeskonform, dh iS von § 725 Abs 2 RVO mit dem dargelegten Inhalt, in der Weise zu interpretieren, daß nur die für anzuzeigende Unfälle gezahlten Leistungen berücksichtigt werden. Die Satzung der Beklagten ist iS der höherwertigen Norm des § 725 Abs 2 Satz 1 RVO anwendbar und daher auch entsprechend auszulegen.

Der nach Gesetz und Satzung zu berechnende Beitragsnachlaß erfolgt nach alledem unter ausschließlicher Berücksichtigung der Entschädigungsleistung für den Unfall aus dem Jahre 1974 in Höhe von 50,30 DM. Die verletzte Beschäftigte war vom Unfalltage - 30. August - bis zum 10. September 1974 arbeitsunfähig. Es ergibt sich danach aber nur eine Eigenbelastungsziffer, welche nach § 27 Abs 1 Nr 2 der Satzung nicht zu einer Verringerung des Beitragsnachlasses führt. Daher braucht der Senat hier nicht darzulegen, ob der Auffassung des Klägers zugestimmt werden kann, wonach die Entschädigungsleistung für diesen Unfall aus anderen Gründen außer Betracht bleiben muß.

Die anrechenbare Eigenbelastung beträgt nach § 27 Abs 1 Nr 2 Satz 1 der Satzung 40 vH der gezahlten Leistung, im vorliegenden Fall mithin 20,12 DM. Dieser Betrag ist nach Satz 2 derselben Norm in einen vollen v-H-Satz zur Beitragsleistung umzurechnen. Bei einem errechneten Beitrag von 2.198,25 DM beläuft sich die anrechenbare Eigenbelastung auf weniger als 1 vH. Die Durchschnittsbelastungsziffer des Unternehmens des Klägers, welche der Durchschnittsbelastungsziffer aller Unternehmen gegenüberzustellen ist, ergibt sich nach § 27 Abs 1 Nr 2 Satz 2 der Satzung aus dem "vollen Vomhundertsatz" der Beiträge. Bei einem Vomhundertsatz von - wie hier - weniger als 1 vH liegt ein "voller Vomhundertsatz" iS dieser Satzungsbestimmung nicht vor. Der Satzung der Beklagten ist nicht zu entnehmen, daß insoweit eine Aufrundung auf den - jeweils - vollen Hundertsatz vorzunehmen ist. Für eine solche, den Betroffenen belastende Beitragsberechnung bedarf es jedoch einer sicheren Rechtsgrundlage in der Satzung, an der es hier fehlt. Daher ergibt sich beim Kläger eine Eigenbelastungsziffer von Null. Da die Durchschnittsbelastung aller Unternehmen für das Jahr 1976 30 vH beträgt und der Beitrag um die Differenz zur Eigenbelastung von Null zu ermäßigen ist (§ 27 Abs 1 Nr 4 der Satzung), ist dem Kläger nach der mit dem Gesetz übereinstimmenden Satzung der Beklagten ein Nachlaß von 30 vH zu gewähren. Da die Beklagte insofern bei der Berechnung des Nachlasses keinen Ermessensspielraum hat, war der Urteilsausspruch des SG entsprechend der Entscheidung des erstinstanzlichen Gerichts richtigzustellen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1662318

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