Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Verweisbarkeit eines Vorarbeiters (Führer einer Betonbauerkolonne). Begriff des Vorarbeiters im engeren Sinne

 

Orientierungssatz

1. Verweisbarkeit eines Vorarbeiters (Führer einer Betonbauerkolonne) - Begriff des Vorarbeiters im engeren Sinne:

2. Der Kreis der für einen Vorarbeiter im engeren Sinne in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten wird nicht weitgehend auf Tätigkeiten, die mit der Verantwortung für die Menschenführung, die Unterweisung und Leitung anderer verbunden sind, eingeschränkt.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 14.01.1977; Aktenzeichen L 14 J 98/76)

SG Duisburg (Entscheidung vom 09.04.1976; Aktenzeichen S 12(8) J 16/75)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 14. Januar 1977 aufgehoben.

Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Der Kläger beansprucht Rente wegen Berufsunfähigkeit. Er ist 1920 geboren und gelernter Dreher. Seit 1948 hat er als Betonbauer, seit 1958 als Vorarbeiter einer Betonbauer- (Stahlbetonbauer-) Kolonne gearbeitet. Seit Mai 1974 kann er diese Tätigkeit wegen eines Herzmuskelschadens und anderer Gesundheitsstörungen nicht mehr ausüben.

Seinen Rentenantrag vom September 1974 hat die Beklagte abgelehnt, weil der Kläger mit gewissen Einschränkungen noch leichte Arbeiten vollschichtig leisten könne (Bescheid vom 14. Dezember 1974). Das Sozialgericht (SG) hat ihn dagegen nach Einholung eines ärztlichen Gutachtens, das die Einschätzung seines Leistungsvermögens durch die Beklagte im wesentlichen bestätigt hat, für berufsunfähig gehalten, weil ihm als Vorarbeiter nur noch gehobene Tätigkeiten zuzumuten seien, er solche aber nicht mehr verrichten könne (Urteil vom 9. April 1976). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im Urteil vom 14. Januar 1977 ua ausgeführt: Der bisherige Beruf des Klägers sei der eines Betonfacharbeiter-Vorarbeiters, den er mehr als 10 Jahre ausgeübt habe. Für diese Tätigkeit sei die Fähigkeit zur Menschenführung, dh zur Kontrolle der Verhaltensweise anderer, und damit eine erheblich über die Arbeit eines Facharbeiters hinausgehende Qualifikation erforderlich gewesen. Deshalb sei er noch oberhalb der Gruppe der Facharbeiter einzuordnen. Da er als Kolonnenführer im Baugewerbe unstreitig nicht mehr einsetzbar sei (dazu müßte er nämlich körperlich mitarbeiten), könne er nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die in ähnlicher Weise wiederum mit der Verantwortung für die Menschenführung und Unterweisung und Leitung anderer verbunden wären. Außerhalb des Baugewerbes fehlten ihm dafür aber die notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen.

Die Beklagte hat sich mit der vom Senat zugelassenen Revision gegen die Bildung einer besonderen, noch über den Facharbeitern stehenden Gruppe der Vorarbeiter gewandt; entgegen der Auffassung des LSG sei vielmehr an der bewährten Einteilung in drei Berufsgruppen mit den Leitberufen des Facharbeiters, des angelernten Arbeiters und des ungelernten Arbeiters festzuhalten. Auch als Kolonnenführer sei der Kläger daher Facharbeiter und müsse sich als solcher auf alle Tätigkeiten verweisen lassen, die tariflich wie Anlerntätigkeiten bewertet seien. Die Beklagte beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend und beantragt, die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet, ohne daß der Senat den Rechtsstreit schon abschließend entscheiden kann. Die Feststellungen des LSG reichen nicht aus, um den "bisherigen Beruf" des Klägers und damit den Kreis der ihm noch zumutbaren Tätigkeiten (§ 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung - RVO -) beurteilen zu können.

Nach der - von der Revision nicht beanstandeten und auch vom Senat gebilligten - Ansicht des LSG hat der Kläger, ein gelernter Dreher, durch eine etwa 25-jährige Tätigkeit als Betonbauer die Qualifikation eines Facharbeiters erworben (zum Ausbildungsberuf des Beton- und Stahlbetonbauers mit einer Ausbildungsdauer von 2 3/4 Jahren vgl jetzt die Bekanntmachung des Verzeichnisses der anerkannten Ausbildungsberufe vom 18.Juli 1978, Beilage zum Bundesanzeiger Nr 196 vom 17. Oktober 1978, S. 11).

Das LSG hat ferner festgestellt, daß der Kläger seit 1958 im wesentlichen als Vorarbeiter einer Betonbauer- (Stahlbetonbauer-) Kolonne tätig gewesen ist. Mit ihr habe er nach Zeichnung Decken, Stürze, Unterzüge, Wände, gerade und gewendelte Treppen einzuschalen und mit der statischen Bewehrung zu versehen gehabt. Weil er dabei andere, ihm unterstellte Arbeiter zu unterweisen und verantwortlich einzusetzen gehabt habe, habe seine Tätigkeit eine erheblich über die Arbeit eines Facharbeiters hinausgehende Qualifikation erfordert. Deshalb sei er einer noch über den Facharbeitern stehenden Gruppe der Vorarbeiter zuzuordnen und könne, nachdem er als Kolonnenführer im Baugewerbe nicht mehr einsetzbar sei (dazu müßte er körperlich mitarbeiten), nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, "die in ähnlicher Weise wiederum mit der Verantwortung für die Menschenführung und Unterweisung und Leitung anderer verbunden wären".

Die Angriffe der Beklagten gegen diese Abgrenzung der Verweisungstätigkeiten sind begründet. Nicht folgen kann der Senat der Beklagten allerdings darin, daß auch ein Kolonnenführer schlechthin wie ein Facharbeiter, dh nach Ansicht der Revision: auf angelernte Tätigkeiten, verweisbar sei. Diese Auffassung ist jedenfalls mit der neueren, von allen Rentensenaten des Bundessozialgerichts (BSG) im wesentlich einheitlich vertretenen Rechtsprechung nicht mehr vereinbar. Nach ihr können Vorarbeiter im engeren Sinne - anders als "schlichte" Vorarbeiter - in der Regel nur auf Tätigkeiten verwiesen werden, die ihrer tariflichen Einstufung nach zu den Facharbeitertätigkeiten gehören (BSGE 43, 243, 246; 45, 276, 278; SozR 2200 § 1246 Nr 29; Urteil des Senats vom 28. März 1979, 4 RJ 7/78). Zwar hat der 5. Senat dazu für Vorarbeiter im engeren Sinne - in Ergänzung des bisherigen Dreistufenschemas (gelernte, angelernte und ungelernte Versicherte) - eine neue, vierte Gruppe gebildet; indes ergibt sich eine Einschränkung der Verweisbarkeit eines Vorarbeiters im engeren Sinne, der nach der Berufssystematik keinen besonderen Beruf ausübt, sondern, wenn er Facharbeiter ist, dies auch als Vorarbeiter bleibt, nach Auffassung des erkennenden Senats schon daraus, daß das Merkmal des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO "der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit" die Tätigkeit als Vorarbeiter umfassen kann.

Vorausgesetzt wird dabei allerdings, daß es sich im konkreten Fall um einen Vorarbeiter im engeren Sinne der Rechtsprechung handelt. Das trifft dann zu, wenn der Betreffende selbst Facharbeiter ist, ferner Weisungsbefugnisse nicht nur gegenüber Angelernten und Hilfsarbeitern, sondern regelmäßig (auch) gegenüber mehreren Facharbeitern hat, außerdem nicht seinerseits Weisungen eines im Arbeiterverhältnis stehenden Vorgesetzten unterliegt und schließlich aufgrund der besonderen Qualifikation seiner Tätigkeit - nicht nur wegen seines Lebensalters oder wegen langjähriger Betriebszugehörigkeit - zur Spitzengruppe der Lohnskala der Arbeiter gehört (vgl die angeführten Entscheidungen und das Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage in der Sache 4 RJ 53/78). Ob die genannten Voraussetzungen auch beim Kläger vorlagen, läßt sich - abgesehen von seiner Eigenschaft als Facharbeiter - dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Schon deswegen kann das Urteil nicht bestehen bleiben.

Sollten die neuen Ermittlungen des LSG ergeben, daß der Kläger bis 1974 tatsächlich Vorarbeiter im engeren Sinne gewesen ist, so wäre der Kreis der für ihn in Betracht kommenden Verweisungstätigkeiten, wie ausgeführt, auf Facharbeitertätigkeiten (oder ihnen tariflich gleichgestellte) beschränkt. Zu einer weitergehenden Einschränkung, insbesondere in der vom LSG angenommenen Richtung (Tätigkeiten, die mit der Verantwortung für die Menschenführung, die Unterweisung und Leitung anderer verbunden sind), besteht dagegen kein Anlaß. Sollte der Kläger andererseits nur "schlichter" Vorarbeiter gewesen sein, weil eine der o.g. Voraussetzungen bei ihm nicht vorgelegen hat, so müßte er sich wie ein Facharbeiter auch auf angelernte und sogar ungelernte Tätigkeiten verweisen lassen, sofern letztere sich aus den einfachen ungelernten deutlich herausheben; dafür wäre jedenfalls ihre tarifliche Gleichstellung mit den angelernten ausreichend (vgl aus der Rechtsprechung des Senats zuletzt dessen Urteil vom 28. März 1979 - 4 RJ 11/78 -).

Der Senat hat hiernach das Urteil des LSG aufgehoben und den Rechtsstreit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen; dabei wird das LSG auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mitentscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654981

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