Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. eingebrachtes Leiden

 

Orientierungssatz

Beruht die RV auf gesetzlicher Pflicht, so führen weder bekannte noch unbekannte eingebrachte Gesundheitsschäden zum Verlust des Berufsschutzes, jedenfalls wenn der Beruf mindestens während der Dauer eines der Wartezeit von 60 Kalendermonaten entsprechenden Zeitraums voll ausgeübt worden ist, dh wenn die dem Beruf eigentümlichen Arbeiten tatsächlich verrichtet wurden.

 

Normenkette

RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Verfahrensgang

LSG Berlin (Entscheidung vom 12.01.1978; Aktenzeichen L 8 J 100/77)

SG Berlin (Entscheidung vom 18.05.1977; Aktenzeichen S 29 J 2950/74)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Januar 1978 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.

 

Tatbestand

Im Prozeß geht es um die Frage, ob "bisheriger Beruf" iS des § 1246 Abs 2 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) auch ein Beruf ist, den der Versicherte zwar viele Jahre ausgeübt hat, aber wegen eines in das Berufsleben eingebrachten, zunächst nicht erkannten Leidens nicht hätte ausüben sollen.

Der im Jahr 1932 geborene Kläger lernte von 1946 bis 1950 den Beruf des Gärtners und arbeitete anschließend überwiegend als Gärtner, zwischendurch als Transportarbeiter und Arbeiter. Bereits bei Aufnahme der Gärtnertätigkeit im Jahr 1946 bestand bei ihm, ohne daß er davon wußte, ein anlagebedingtes Wirbelsäulenleiden mit einer Belastungsschwäche der Wirbelsäule. Trotzdem war er damals noch in der Lage, den Gärtnerberuf voll auszufüllen. Erst später sank seine Fähigkeit, diesen Beruf auszuüben, herab. Nachdem er frühestens im Jahr 1956 erstmals über Wirbelsäulenbeschwerden geklagt hatte, ist er seit 1961 nur noch in der Lage, vorwiegend im Sitzen in geschlossenen Räumen mit der Möglichkeit ... gelegentlichen Haltungswechsels ganztags zu arbeiten.

Nachdem der Kläger in den Jahren 1962/63 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf Zeit bezogen, dann aber weiterhin als Gärtner gearbeitet hatte, beantragte er im August 1974 Rente. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26.November 1974 den Antrag ab, weil der Kläger weder berufsunfähig noch erwerbsunfähig sei. Im Bescheid heißt es weiter: "Wir weisen zusätzlich noch darauf hin, daß die Frage der Berufsunfähigkeit sich nicht nach der Berufsgruppe eines Gärtners richten kann, weil das bei Ihnen festgestellte Leiden bereits bei Aufnahme in das Berufsleben mit eingeholt" (verschrieben für: eingebracht) "worden ist und mithin nicht den Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit auslösen kann."

Die Klage ist durch Urteil des Sozialgerichts (SG) Berlin vom 18. Mai 1977 abgewiesen worden. Auf die Berufung hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 12. Januar 1978 das Urteil des SG aufgehoben, die Beklagte verurteilt, dem Kläger Rente wegen Berufsunfähigkeit für die Zeit vom 1. August 1974 an zu gewähren, und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit sei trotz des anlagebedingten Leidens von dem Beruf des Gärtners auszugehen. Dem Versicherungsprinzip widerspreche es nur, sich gegen Schäden zu versichern, die bereits erkennbar aufgetreten seien. Der Kläger könne nicht mehr als Gärtner arbeiten. Eine andere zumutbare Tätigkeit, auf die er verweisbar sei, habe nicht festgestellt werden können. Jedenfalls wären solche Tätigkeiten so selten, daß sie für den Kläger nicht ohne weiteres zugänglich seien.

Mit der Revision trägt die Beklagte vor: Die vom Berufungsgericht gegebene Begründung für die im Zeitpunkt der Berufsaufnahme angenommene Fähigkeit des Klägers zur Ausübung des Gärtnerberufs vermöge keinesfalls durchzudringen. Der Kläger sei bereits seit dem Eintritt in das Erwerbsleben für die Ausübung des Gärtnerberufs objektiv gesehen gesundheitlich unfähig gewesen. Es sei rechtlich unbeachtlich, ob das Wirbelsäulenleiden damals bereits bekannt oder für den Kläger erkennbar gewesen sei; entscheidend sei ausschließlich die objektive medizinische Feststellung, daß der Kläger seit jeher auf Kosten der Gesundheit gearbeitet habe. Außerdem habe das Berufungsgericht zu Unrecht weitere Ermittlungen hinsichtlich zumutbarer Verweisungstätigkeiten unterlassen. Das SG habe zutreffend darauf hingewiesen, daß der Kläger auf Tätigkeiten als Lagerverwalter, Materialausgeber, Betriebshelfer, Hausmeister, Revisor, Anlagenkontrolleur, Meß- und Schalttafelwart ua verwiesen werden könne. Der Kläger sei seit 1. Juni 1975 als Hausmeister bei einem Bruttolohn von 1.620,- DM monatlich beschäftigt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 12. Januar 1978 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 18. Mai 1977 als unbegründet zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er räumt ein, daß die Behauptung der Beklagten über seine neue Tätigkeit zutreffe, meint aber, er könne auf diese Tätigkeit nicht zumutbar verwiesen werden.

Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheidet.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist jedenfalls insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zurückzuverweisen ist. Ob das Berufungsgericht die Beklagte zu Recht zur Rentenzahlung verurteilt hat, kann aufgrund der vorhandenen Feststellungen nicht abschließend entschieden werden.

Der Anspruch des Klägers auf Rente wegen Berufsunfähigkeit hängt davon ab, ob seine Erwerbsfähigkeit auf weniger als die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten herabgesunken ist (§ 1246 Abs 2 Satz 1 RVO). Die Erwerbsfähigkeit wird dabei ua nach dem bisherigen Beruf des Versicherten beurteilt (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO).

Trotz eines vom Kläger "eingebrachten" Leidens ist ein wirksames Rentenversicherungsverhältnis zustande gekommen. Denn bei Eintritt in die Rentenversicherung (Invalidenversicherung) im Jahre 1946 war der Kläger nicht dauernd oder vorübergehend invalide (§ 1253 RVO idF vor dem Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz - ArVNG -); auch war seine Erwerbsfähigkeit nicht auf weniger als die Hälfte derjenigen einer gesunden Vergleichsperson herabgesunken (§ 1246 Abs 2 RVO). Das ergibt sich aus den Feststellungen des Berufungsgerichts. Da gegen sie keine Revisionsgründe vorgebracht wurden, binden sie den Senat. Der Kläger hat von 1946 bis 1974 mit einer Unterbrechung in den Jahren 1962/1963 ganztags gearbeitet, war also entweder voll oder doch weit über der Grenze des § 1246 Abs 2 Satz 1 RVO erwerbsfähig (vgl BSG vom 26. September 1975 - 12 RJ 208/75 - SozR 2200 § 1247 Nr 12; vgl auch 1 RA 5/78 vom 14. Dezember 1978). Der Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit bzw Invalidität war bei Beginn der Versicherung noch nicht eingetreten (vgl dazu auch Verbandskommentar zur RVO, Anm 5 zu § 1246, Stand: 1. Januar 1975). Ein "Berufsschutz" iS des § 1246 Abs 2 RVO gilt allerdings nicht für solche Tätigkeiten, die der Versicherte schon bei ihrer Aufnahme nicht oder nicht vollwertig oder nur auf Kosten seiner Gesundheit ausüben konnte (Urteil vom 27. Oktober 1966 - 5 RKn 132/64 - BSGE 25, 227 = SozR Nr 62 zu § 1246 RVO; Urteil vom 10. Dezember 1964 - 5 RKn 54/60 - BSGE 22, 140 = SozR Nr 24 zu § 35 RKG aF). Daß diese Hindernisse eines Berufsschutzes als Gärtner - das Berufungsgericht ist zutreffend von dem Lehrberuf des Gärtners als dem "bisherigen Beruf" des Klägers ausgegangen - nicht bestanden, hat das LSG unter eingehender Auseinandersetzung mit den Gutachten des Prof.Dr.W. geprüft. Nach seinen Feststellungen hat die Mißbildung der Wirbelsäule den Kläger nicht daran gehindert, den Gärtnerberuf etwa zehn Jahre lang auszuüben, ohne daß Beschwerden aufgetreten sind; der Kläger war vielmehr in der Lage, diesen Beruf voll auszufüllen; erst Jahre nach der Berufsaufnahme hat die angeborene Mißbildung der Wirbelsäule Krankheitswert erlangt, so daß dadurch die Fähigkeit, den Beruf auszuüben, herabgesunken ist.

Unter diesen Umständen braucht hier nicht generell geprüft zu werden, ob es dem Versicherungsprinzip, wie das LSG angenommen hat, widersprechen würde, wenn es zulässig wäre, sich auch gegen bekannte eingebrachte Schäden zu versichern. Für die Anwendung des § 1246 Abs 2 RVO kann jedenfalls der Auffassung der Beklagten nicht gefolgt werden. Beruht die Rentenversicherung auf gesetzlicher Pflicht, so führen weder bekannte noch unbekannte eingebrachte Gesundheitsschäden zum Verlust des Berufsschutzes, jedenfalls wenn der Beruf mindestens während der Dauer eines der Wartezeit von 60 Kalendermonaten entsprechenden Zeitraums voll ausgeübt worden ist, d.h. wenn die dem Beruf eigentümlichen Arbeiten tatsächlich verrichtet wurden.

Die Auffassung der Beklagten entspricht etwa dem Leistungsausschluß in einer freiwilligen Versicherung, wie dieser zB in § 15 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen der privaten Krankenversicherung vorgesehen ist; dort gilt in der Tat der objektive Krankheitsbegriff, für den es genügt, daß die Krankheit bei rückschauender Betrachtung schon vor Versicherungsbeginn oder während der Wartezeit bestanden hat (vgl Prölß/Martin, Versicherungsvertragsgesetz, 21. Aufl, Anm 1 zu § 15 AVK). Auch § 310 Abs 2 RVO schließt bei der freiwilligen Krankenversicherung den Versicherungsschutz "in strenger Durchführung des Versicherungsprinzips" für Erkrankungen aus, die beim Beitritt bereits bestehen oder innerhalb der satzungsmäßig bestimmten Wartezeit eintreten; allerdings wird der Leistungsausschluß an die Behandlungsbedürftigkeit einer Krankheit gebunden (BSGE 23, 202, 205). Ein sogenannter mißglückter Arbeitsversuch, der in der gesetzlichen Krankenversicherung ein Versicherungsverhältnis nicht entstehen läßt und hier - trotz aller Verschiedenheit zur Rentenversicherung - in die Überlegungen zum eingebrachten Leiden einbezogen werden kann, liegt nur dann vor, wenn es sich um eine wirtschaftlich nicht ins Gewicht fallende Zeit handelt, während der gearbeitet wurde und wenn die Tätigkeit mindestens unter schwerwiegender Gefährdung der Gesundheit verrichtet wurde; dagegen wird von einem mißglückten Arbeitsversuch nicht gesprochen, wenn der Beschäftigte entgegen den Erwartungen tatsächlich brauchbare Arbeit über einen wirtschaftlich ins Gewicht fallenden Zeitraum geleistet hat (so zuletzt Urteil vom 19. Dezember 1978 - 3 RK 82/76).

Ist sonach dem Berufungsgericht hinsichtlich des bisherigen Berufes des Klägers zuzustimmen, so kann sein Urteil dennoch nicht aufrechterhalten werden, weil die Revisionsrüge der Verletzung der Amtsermittlungspflicht (§ 103 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) begründet ist. Wie die Beklagte zutreffend rügt, hat das LSG nicht ausreichend untersucht, ob der Kläger, der nicht (mehr) als Gärtner arbeiten kann, auf zumutbare andere Tätigkeiten (§ 1246 Abs 2 Satz 2 RVO) verwiesen werden kann. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) kann ein Facharbeiter auf alle Lehr- und Anlernberufe (Ausbildungsberufe) und jedenfalls auf solche gehobenen ungelernten Tätigkeiten verwiesen werden, die wegen ihrer betrieblichen Bedeutung angelernten Tätigkeiten gleichstehen und tariflich wie Anlerntätigkeiten eingestuft sind (BSG 44, 288, 291 = SozR 2200 § 1246 Nr 23 mit weiteren Nachweisen; Urteil vom 28. November 1978 - 4 RJ 123/77). Die allgemeine und nicht weiter begründete Erklärung des Berufungsgerichts, eine andere zumutbare Tätigkeit habe nicht festgestellt werden können, genügt nicht. Denn mindestens hätte das Gericht die Zumutbarkeit derjenigen Tätigkeit prüfen müssen, die der Kläger seit November 1975 ausübt. Dem Berufungsgericht war anscheinend nicht bekannt, daß der Kläger, der in der mündlichen Verhandlung anwesend war, im Zeitpunkt des Berufungsurteils schon über zweieinhalb Jahre wieder beschäftigt war, und zwar als Hausmeister. Die Hausmeisterarbeit kann durchaus einer angelernten oder gelernten Tätigkeit entsprechen. So sind beispielsweise nach dem Tarifvertrag über das Lohngruppenverzeichnis zum Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes (MTB II), Stand: 1.Juni 1977, die Hausmeister den Lohngruppen VI (angelernte Arbeiter) bis IV (Facharbeiter) zugeordnet, kommen also zumindest nach ihrer tariflichen Einstufung für einen Facharbeiter in Betracht. Schon das SG hatte darauf hingewiesen (S.9 seines Urteils), daß für den Kläger auch der Beruf eines Hausmeisters in Frage komme. Der Senat kann die Beschäftigung des Klägers als Hausmeister als "neue Tatsache" nicht berücksichtigen (vgl Meyer-Ladewig, SGG, Randnr 4 zu § 163 SGG) und die erforderlichen Ermittlungen nicht selbst vornehmen. Die Sache war daher zurückzuverweisen.

Das LSG wird auch abschließend über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1654228

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