Leitsatz (amtlich)

1. Zur Anrechnung auf das Altersruhegeld können freiwillige Beiträge nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auch für Zeiten vorher wirksam entrichtet werden; RVO § 1419 Abs 1 steht dem nicht entgegen.

2. Die in ArVNG Art 2 § 42 S 2 geforderten mindestens 9 Monatsbeiträge durften innerhalb der Fristen der RVO §§ 1418 ff auch noch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit für einen nachfolgenden Versicherungsfall entrichtet werden.

 

Normenkette

RVO § 1419 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1418 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 S. 2 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 7. November 1963 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

Streitig ist die Höhe des dem Kläger seit Oktober 1960 gewährten Altersruhegeldes. Die Beklagte ermittelte den Betrag dieser Rente in der seit dem Jahre 1957 geltenden Berechnungsweise. Sie lehnte es ab, vergleichsweise die nach früherem Recht maßgebende Berechnungsart anzustellen und die Rente nach Maßgabe des Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) zu bewilligen. Sie sah sich darin gehindert, weil der Kläger für 1957 zunächst nur 8 und nicht - wie vorgeschrieben - 9 Beiträge entrichtet hatte. Zwar hatte der Kläger den fehlenden Beitrag im Jahre 1959 nachgeholt. Vorher, im Oktober 1958, war er aber bereits berufsunfähig geworden. Ihm war auch die Versichertenrente wegen Berufsunfähigkeit vom selben Monat an zugebilligt worden. - Die Beklagte ist der Ansicht, Art. 2 § 42 ArVNG sei erkennbar dem Anwartschaftsinstitut des früheren Rechts nachgebildet. Deshalb habe man von einer im wesentlichen übereinstimmenden Rechtsgestaltung auszugehen. So wie früher mit dem Versicherungsfall der Invalidität das Versicherungsverhältnis endgültig abgeschlossen und die Anwartschaft nicht nachträglich herzustellen gewesen sei, so könnten auch jetzt nach Eintritt der Berufsunfähigkeit nicht mehr die bis dahin fehlenden Voraussetzungen für die Vergleichsberechnung geschaffen werden. § 1419 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gestatte die Fortführung der Versicherung im Hinblick auf künftige Leistungsfälle auch nach der Verwirklichung der dort aufgeführten Tatbestände; nach Eintritt der Berufsunfähigkeit - oder Erwerbsunfähigkeit - sei die Entrichtung freiwilliger Beiträge aber nur mit Wirkung für die Gegenwart und Zukunft, nicht jedoch für Zeiten vorher wirksam.

Der Kläger war im ersten Rechtszuge erfolglos (Urteil des Sozialgerichts - SG - Landshut vom 12. September 1961), in zweiter Instanz ist die Beklagte verurteilt worden, dem Kläger das nach Art. 2 § 42 ArVNG zu errechnende höhere Altersruhegeld zu zahlen. Das Landessozialgericht (LSG) hat - im Gegensatz zur Beklagten - angenommen, daß das Recht zur freiwilligen Versicherung und zur Entrichtung von Beiträgen für das Altersruhegeld durch § 1419 RVO nicht berührt werde.

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt und beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger ist im gegenwärtigen Rechtszug nicht vertreten.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§§ 153, 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Der Kläger hat - wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat - Anspruch auf die Berechnung und Gewährung der für ihn günstigeren "Vergleichsrente" gemäß Art. 2 § 42 ArVNG.

Die Revision erhebt gegen dieses Ergebnis deshalb Bedenken, weil die für 1957 erforderlichen 9 Monatsbeiträge nicht sämtlich vor dem Versicherungsfall der Berufsunfähigkeit im Oktober 1958 erbracht gewesen seien. Sie meint, an den Voraussetzungen für die Vergleichsberechnung habe nach dem Eintritt der Berufsunfähigkeit durch freiwillige Beiträge nichts mehr geändert werden können. Diese Rechtsfolge leitet sie einmal aus Art. 2 § 42 ArVNG und zum anderen aus § 1419 Abs. 1 RVO her.

Der Wortlaut des Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG gibt zu solchen Bedenken keinen Anlaß. Danach genügt es, daß "ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles" - das ist hier die Vollendung des 65. Lebensjahres - "für mindestens 9 Monate Beiträge entrichtet sind." An dieser Fassung fällt auf, daß das Gesetz sich des Zustandspassivs in der Gegenwartsform bedient. Es wird kein in der Vergangenheit liegender Zeitpunkt genannt, zu dem die 9 Monatsbeiträge je Jahr anrechenbar vorhanden sein sollen. Anders lautet hingegen der erste Teil von Satz 2 des Art. 2 § 42 ArVNG, durch den die Verwirklichung eines zum 31. Dezember 1956 vorausgesetzten Rechtszustandes verlangt wird. An dieser Stelle verwendet das Gesetz die Vergangenheitsform: "Dies gilt nur, wenn aus den vor dem 1. Januar 1957 entrichteten Beiträgen die Anwartschaft zu diesem Zeitpunkt ... erhalten war." Dieser Wechsel im Ausdruck läßt den Schluß zu, daß das Gesetz auch Unterschiedliches meint. Deshalb ist dem Text des Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG nicht zu entnehmen, daß Beiträge, die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit entrichtet worden sind, nicht für das Altersruhegeld wirksam sein sollen.

Die Revision meint denn auch, der eigentliche Inhalt des Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG gehe über seine Wortfassung hinaus. Sie bezieht sich dafür auf mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts, in denen ausgesprochen worden ist, Art. 2 § 42 ArVNG lehne sich an das frühere Anwartschaftsrecht an (vgl. BSG 11, 254, 256; SozR Nr. 11 zu Art. 2 § 42 ArVNG). In diesen Urteilen habe das Bundessozialgericht selbständige, aus Art. 2 § 42 aaO unmittelbar nicht zu gewinnende Folgerungen gezogen. Es habe erklärt, daß nach dem Eintritt des - ersten - Versicherungsfalles "die Anwartschaft auf die Vergleichsrente" nicht mehr erlöschen könne, und zwar ungeachtet der Möglichkeit, daß künftig andere Versicherungsfälle eintreten könnten, die sich von dem ersten Versicherungsfall sowohl in ihren Tatbestandserfordernissen als auch in ihrer rechtlichen Bedeutung unterschieden. Hieraus ergebe sich, daß die stufenweise Aufeinanderfolge mehrerer Versicherungsfälle insoweit unerheblich sein müsse. Das Versicherungsverhältnis sei mit dem - ersten - Versicherungsfall endgültig abgeschlossen. Deshalb habe die Rechtslage nicht mehr nachher für die eine oder andere Seite verschlechtert oder verbessert werden können. Der Nutzen, den sich der Kläger von dem nach seiner Berufsunfähigkeit für 1957 freiwillig entrichteten Beitrag versprochen habe, müsse ausbleiben.

Diesen Ausführungen der Revision kann nicht gefolgt werden. Richtig ist allerdings, daß nach früherem Recht die Beiträge, die zur Zeit des Versicherungsfalles anwartschaftlich von Bestand waren, nicht mehr verfallen konnten (§ 1264 Abs. 3 RVO aF). Dieser Grundsatz - aber nicht die daraus von der Revision hergeleitete weitere Überlegung - ist in dem Urteil BSG 11, 254 für Art. 2 § 42 ArVNG übernommen worden. Mit der Regel, daß der Versicherungsfall eine anwartschaftswahrende Wirkung habe, stimmte schon früher nicht uneingeschränkt überein, daß der Versicherte mit der Verwirklichung eines der in § 1264 Abs. 3 RVO genannten Tatbestände die Versicherung freiwillig nicht mehr fortsetzen konnte. Die Unwirksamkeit freiwillig entrichteter Beiträge war in § 1443 RVO aF nur für die Zeit nach Eintritt der Invalidität oder des Todes angeordnet; die Vollendung des 65. Lebensjahres war jedoch ein Sachverhalt, der zwar wohl vor dem Verfall bisher aufgewendeter Beiträge schützte, aber nicht eine freiwillige Versicherung in der Folgezeit hinderte. In der Argumentation der Revision werden also zwei Gedanken miteinander vermengt, die rechtlich jeder für sich allein bestehen. Deshalb ist die Auffassung der Revision nicht zwingend. Sie ist auch nicht richtig. Nach dem heute geltenden Recht (§ 1233 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 und § 1419 Abs. 1 RVO) steht die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit der Weiterversicherung für die Gewährung des Altersruhegeldes nicht entgegen; deswegen sind später verwendete Beiträge nicht ungültig. Sie sind auch nicht für die Rechtsfolge des Art. 2 § 42 ArVNG unbeachtlich. Eine davon selbständig zu beantwortende Frage ist es aber, ob der Versicherte, der vor Erreichen der Altersgrenze berufs- oder erwerbsunfähig geworden ist, auch für jedes Kalenderjahr seit dem 1. Januar 1957 mindestens 9 Monatsbeiträge beibringen muß, um an dem Rechtsvorteil des Art. 2 § 42 ArVNG teilhaben zu können. Diese Frage ist in BSG 11, 254 nur für den Anspruch auf Hinterbliebenenrente verneint worden. Für diese Entscheidung war gewiß mitentscheidend, daß die wartezeitlichen Bedingungen für die Hinterbliebenenrente sich mit denen für die Renten wegen Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit decken (vgl. BSG 14, 289). Ob und unter welchen Umständen das gleiche auch für den Anspruch auf das Altersruhegeld zu gelten hätte, für den eine Mindestversicherungszeit nicht wie beim Hinterbliebenenanspruch von 60, sondern von 180 Kalendermonaten verlangt wird (§ 1248 Abs. 1 RVO), hatte das Bundessozialgericht in dem zitierten Urteil nicht zu entscheiden. Das kann in diesem Rechtsstreit ebenfalls offenbleiben. Eine Lösung des vorliegenden Streitfalls ist selbst dann nicht vorgezeichnet, wenn man aus Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG die stillschweigende Forderung herausliest, daß im Zusammenhang mit dieser Vorschrift die Grundzüge des früheren Anwartschaftsrechts fortgelten. Keineswegs folgt daraus, daß die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit, aber vor Vollendung des 65. Lebensjahres entrichteten Beiträge für das Altersruhegeld bei der Anwendung des Art. 2 § 42 ArVNG außer acht bleiben müssen.

Die für 1957 entwertete 9. Beitragsmarke ist gültig nachverwendet worden. Die rückbezügliche Wirksamkeit freiwilliger Beiträge ist durch § 1419 Abs. 1 RVO nur für die in dieser Gesetzesbestimmung aufgeführten Versicherungsfälle, nicht jedoch allgemein unterbunden. Auf die Entrichtung freiwilliger Beiträge für die Gewährung des Altersruhegeldes bezieht sich § 1419 Abs. 1 RVO nicht (dazu die Entscheidungen des Senats in BSG 18, 212; Sozialrecht Nr. 3 zu § 1233 RVO). § 1419 Abs. 1 RVO wird vielfach zu Unrecht als die Stelle angeführt, in der das Gesetz allgemein den versicherungsrechtlichen Risikogedanken wonach die Rentenversicherung nur bis zum Eintritt des Versicherungsfalls durchgeführt werden könne, ausgesprochen habe. Mit größerer Berechtigung wäre der Beleg für diesen versicherungsrechtlichen Gesichtspunkt in einer Reihe anderer Vorschriften, nämlich in den §§ 1246 Abs. 3, 1247 Abs. 3, 1255 Abs. 8, 1258 Abs. 4 RVO zu suchen. Mit diesen Vorschriften wird der Versicherung jeweils, und zwar nur im Hinblick auf die Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit ein Endpunkt gesetzt. Eine entsprechende Zäsur findet sich für den Versicherungsfall des Alters in der RVO oder im ArVNG nirgendwo. Eine Besonderheit stellt § 50 Abs. 5 des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) dar. Dort ist bestimmt, daß auf die Wartezeit nur die bis zum jeweiligen Versicherungsfall entrichteten Beiträge angerechnet werden dürfen. Welche Tragweite dieser Vorschrift für die knappschaftliche Rentenversicherung und die anderen Rentenversicherungszweige zukommt, braucht im vorliegenden Fall nicht geklärt zu werden. § 50 Abs. 5 RKG ordnet keine Zwischenzäsur für den Fall an, daß dem Altersversicherungsfall ein anderer Versicherungsfall vorausgeht. § 1248 Abs. 4 RVO besagt umgekehrt, daß die Wartezeit durch Zurücklegung einer Versicherungszeit von 180 Kalendermonaten erfüllt werde; es fehlt der in den vergleichbaren §§ 1246 Abs. 3 und 1247 Abs. 3 RVO enthaltene einschränkende Zusatz, daß dieser Tatbestand vor Eintritt eines bestimmten Ereignisses verwirklicht sein müsse. Mit einer solchen auf dem versicherungsrechtlichen Risikogedanken beruhenden Einschränkung wäre es auch nicht zu vereinbaren, daß die Grenze der Versicherungsberechtigung in § 1233 Abs. 1 Satz 2 RVO so weit wie nur eben denkbar hinausgeschoben worden ist. § 1419 Abs. 1 RVO stellt - im Hinblick auf die in § 1418 RVO für die Nachentrichtung von Beiträgen eingeräumten Fristen - einen Anwendungsfall des für die Berufsunfähigkeit und Erwerbsunfähigkeit andernorts formulierten Risikogedankens dar. Mit der Entrichtung freiwilliger Beiträge für das Altersruhegeld hat § 1419 RVO nichts zu tun. Diese Auffassung findet ihre Bestätigung in der dem Regierungsentwurf zum ArVNG (Bundestagsdrucksache 2437/1953) beigegebenen Begründung zu § 1419 RVO. Dort wird die Bestimmung, daß freiwillige Beiträge nach dem Eintritt der Invalidität "für die Zeit vorher" ausgeschlossen sein sollen, mit der Bemerkung erläutert, die Beitragsnachentrichtung sei "also zur Anrechnung für eine Leistung aus einem bereits eingetretenen Versicherungsfall" gesperrt. Die Möglichkeit, daß ein Versicherter noch nach einem eingetretenen Versicherungsfall für eine Zeit vorher Beiträge für das Altersruhegeld nachbringen will, hat der Gesetzgeber nicht ausschließen wollen.

Nach alledem sind die streitigen Rechtsfragen nicht im Sinne der Revision zu entscheiden. Das LSG hat der Klage mit Recht stattgegeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 236

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