Leitsatz (amtlich)

Hat der Versicherte (Rentner) nach Eintritt der Berufsunfähigkeit für Zeiten vorher innerhalb der Frist des RVO § 1418 Abs 1 Beiträge wirksam entrichtet, so sind sie für den späteren Versicherungsfall des Alters für die Berechnung des Altersruhegeldes gemäß ArVNG Art 2 § 42 auch bei der Prüfung zu berücksichtigen, ob ab 1957-01-01 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles des Alters für mindestens 9 Monate Beiträge entrichtet sind (Anschluß an BSG 1965-01-28 4 RJ 591/63 = BSGE 22, 236 = SozR Nr 29 zu Art 2 § 42 ArVNG).

 

Normenkette

RVO § 1418 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23, § 1419 Abs. 1 Fassung: 1957-02-23; ArVNG Art. 2 § 42 S. 1 Fassung: 1965-06-09, S. 2 Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Oktober 1964 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Gründe

I.

Die Beteiligten streiten darüber, ob nach Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit die durch Art. 2 § 42 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) geforderten 9 Monatsbeiträge für Zeiten vorher noch mit der Wirkung entrichtet werden können, daß sie für den späteren Versicherungsfall des Alters nicht nur auf die Wartezeit anzurechnen, sondern auch für die "Vergleichsberechnung" des Art. 2 § 42 ArVNG zu berücksichtigen sind.

Die Beklagte gewährte der Klägerin Rente wegen Berufsunfähigkeit in Höhe von monatlich 29,70 DM vom 1. Januar 1959 an, wobei sie annahm, daß die Klägerin seit Mai 1958 berufsunfähig war. Die Rente nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften gemäß Art. 2 § 42 ArVNG zu berechnen, lehnte die Beklagte ab, da anstelle der für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles erforderlichen 9 Monatsbeiträge für das Kalenderjahr 1957 nur 4 Monatsbeiträge nachgewiesen seien; die in der Versicherungskarte Nr. 22 für 1957 und 1958 nachgebrachten 14 freiwilligen Beiträge seien, da nach Eintritt des Versicherungsfalles der Berufsunfähigkeit im Mai 1958 entrichtet, gemäß § 1419 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht anrechenbar. Diese Beiträge würden rechtsgültig nur für die Wartezeit für das Altersruhegeld angerechnet (§ 1233 Abs. 2 RVO) (Bescheid vom 9. März 1959).

Nachdem die Klägerin am 15. Oktober 1961 das 65. Lebensjahr vollendet hatte, wandelte die Beklagte durch Bescheid vom 25. Oktober 1961 die Rente wegen Berufsunfähigkeit gemäß § 1254 Abs. 2 RVO ab 1. Oktober 1961 in das Altersruhegeld im Betrage von monatlich 54,70 DM um. Zu der Frage, ob das Altersruhegeld gemäß Art. 2 § 42 ArVNG nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften zu berechnen und ob dies für die Klägerin gegenüber der Berechnung des Altersruhegeldes nach den ab 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften günstiger ist, nahm die Beklagte in ihrem Bescheid nicht Stellung.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin ein nach Durchführung der "Vergleichsberechnung" nach Art. 2 § 42 ArVNG sich ergebendes höheres Altersruhegeld vom 1. Oktober 1961 an zu gewähren (Urteil vom 25. Mai 1962). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 16. Oktober 1964).

Die Beklagte hat Revision eingelegt. Sie rügt Verletzung der §§ 1418, 1419 RVO und des Art. 2 § 42 ArVNG durch das LSG. Sie hält an ihrer bisherigen Rechtsauffassung fest.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. Oktober 1964 und des Sozialgerichts Freiburg vom 25. Mai 1962 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

II.

Die Revision der Beklagten ist unbegründet.

Die Klägerin hat entgegen der Auffassung der Beklagten Anspruch darauf, daß diese die für sie - die Klägerin günstigere Berechnung des Altersruhegeldes gemäß Art. 2 § 42 ArVNG durchführt und eine entsprechende Rente gewährt. Nach dieser Vorschrift ist bei Versicherungsfällen, die in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1961 eintreten, die Rente nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften über die Zusammensetzung und die Berechnung der Renten einschließlich des Sonderzuschusses des § 36 Abs. 1 dieses Artikels aus den bis zum 31. Dezember 1956 zurückgelegten Versicherungszeiten zu berechnen, wenn dies für den Berechtigten gegenüber der Berechnung der Rente nach den ab 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften günstiger ist. Dies gilt nur, wenn aus den bis zum 28. Februar 1957 entrichteten Beiträgen die Anwartschaft zum 31. Dezember 1956 nach den bis dahin geltenden Vorschriften erhalten und ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet sind (Art. 2 § 42 Satz 1 und 2 des ArVNG i.d.F. des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes - RVÄndG - vom 9. Juni 1965; Art. 2 § 1 Nr. 9, Art. 5 § 10 Abs. 1 Buchstabe a) RVÄndG).

Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, sind für das der Klägerin vom 1. Oktober 1961 an zustehende Altersruhegeld die Voraussetzungen der für die Klägerin günstigeren Berechnung nach den vor dem 1. Januar 1957 geltenden Vorschriften gemäß Art. 2 § 42 Satz 1 und 2 ArVNG n.F. erfüllt. Der Versicherungsfall des Alters wegen Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 1248 Abs. 1 RVO) ist in der Zeit vom 1. Januar 1957 bis zum 31. Dezember 1961, nämlich am 15. Oktober 1961, eingetreten. Da die Klägerin bereits Rente wegen Berufsunfähigkeit bezog und die Voraussetzungen für ein Altersruhegeld erfüllte, hatte die Beklagte von Amts wegen die Rente wegen Berufsunfähigkeit in das Altersruhegeld umzuwandeln (§ 1254 Abs. 2 Satz 1 RVO). Sie hatte dabei nach Eintritt der Berufsunfähigkeit zurückgelegte Versicherungszeiten zusätzlich zu berücksichtigten (§§ 1254 Abs. 2 Satz 2, 1253 Abs. 2 Satz 4 RVO). Auf die vor Eintritt der Berufsunfähigkeit (Mai 1958) wirksam entrichteten Beiträge durfte sie sich bei der Berechnung des Altersruhegeldes nicht beschränken. Vielmehr mußte sie hierbei auch die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit für Zeiten vorher entrichteten Beiträge mit dem Aufdruck "59" berücksichtigen; denn auch diese Beiträge sind wirksam entrichtet, da sie innerhalb der Frist von zwei Jahren nach Schluß des Kalenderjahres, für das sie gelten sollen, entrichtet worden sind (§ 1418 Abs. 1 RVO).

Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat bereits in seinem Urteil vom 28. Januar 1965 - 4 RJ 591/63 - (BSG 22, 236 = SozR ArVNG Art. 2 § 42 Nr. 29), entschieden, daß zur Anrechnung auf das Altersruhegeld freiwillige Beiträge nach Eintritt der Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit auch für Zeiten vorher wirksam entrichtet werden können, daß dem § 1419 Abs. 1 RVO nicht entgegensteht und daß die in Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG geforderten mindestens neun Monatsbeiträge innerhalb der Fristen der §§ 1418 ff RVO auch noch nach Eintritt der Berufsunfähigkeit für einen nachfolgenden Versicherungsfall entrichtet werden durften. Der erkennende Senat schließt sich dieser Entscheidung an.

Gleichwohl sieht sich die Revision auch bei Anerkennung dieser Entscheidung des BSG an der Berechnung des Altersruhegeldes nach Art. 2 § 42 ArVNG wegen der Vorschrift des § 1443 RVO aF gehindert. Sie meint, die Vorschrift des Art. 2 § 42 ArVNG habe insofern den Charakter einer Anwartschaftserhaltung im Sinne des früheren Rechts, als sie fordere, daß ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles für mindestens neun Monate Beiträge entrichtet sind. Deshalb hätten auch § 1443 RVO a. F. i.V.m. § 1444 Abs. 2 RVO aF, obschon diese Vorschriften am 31. Dezember 1956 außer Kraft getreten seien, bei Prüfung der Voraussetzungen des Art. 2 § 42 Satz 2 ArVNG entsprechend zu gelten. Nach § 1443 RVO aF sei die Entrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität ausgeschlossen. Aus seiner entsprechenden Anwendung folge, daß die nach Eintritt der Berufsunfähigkeit im Mai 1958 für 1957 nachentrichteten Beiträge bei der Berechnung des Altersruhegeldes gemäß Art. 2 § 42 ArVNG nicht berücksichtigt werden dürften und damit eine "Vergleichsberechnung" des Altersruhegeldes gemäß Art. 2 § 42 ArVNG entfalle. Die Revision bezieht sich für ihre Auffassung auf die Urteile des BSG vom 23. November 1961 - 12/4 RJ 102/61 (BSG 15, 271 = SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 42 ArVNG), vom 25. April 1963 - 4 RJ 77/62 (SozR Nr. 11 zu Art 2 § 42 ArVNG und vom 4. August 1966 - 11 RA 302/65 (SozR Nr. 36 zu Art. 2 § 42 ArVNG).

Die Einwendungen der Beklagten gehen indessen fehl. Das BSG hat zwar in den genannten wie auch in weiteren Entscheidungen (vgl. z.B. BSG 11, 254, 256; 22, 236, 237) der Vorschrift des Art. 2 § 42 ArVNG anwartschaftserhaltenden Charakter beigemessen und dem Anwartschaftsrecht immanente Grundsätze bei der Auslegung des Art. 2 § 42 ArVNG übernommen (vgl. BSG SozR Nr. 36 zu Art. 2 § 42 ArVNG und die dort aufgeführte Rechtsprechung des BSG). Mit dem Hinweis auf das frühere Anwartschaftsrecht (§§ 1264 ff RVO aF) läßt sich die entsprechende Anwendung des § 1443 RVO aF aber nicht rechtfertigen; denn § 1443 RVO aF regelt die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge, nicht aber das Anwartschaftsrecht. Zwar hat das BSG den Grundgedanken des früheren § 1444 Abs. 2 RVO i.V.m. § 1443 RVO aF für besondere Fälle der "Vergleichsberechnung" nach Art. 2 § 42 ArVNG herangezogen (BSG SozR Nr. 36 zu Art. 2 § 42 ArVNG). Aber schon die Ausgangslage jenes Falles unterschied sich von derjenigen des hier anhängigen Falles. Streitig war, ob nach Eintritt des Versicherungsfalles während eines schwebenden Verfahrens auch für die Zeit vor Eintritt des Versicherungsfalles im Wege freiwilliger Beitragszahlung die in Art. 2 § 42 ArVNG geforderten mindestens neun Monatsbeiträge ab 1. Januar 1957 für jedes Kalenderjahr vor dem Kalenderjahr des Versicherungsfalles entrichtet werden dürfen. Dies hat das BSG bejaht.

Auch der Hinweis der Revision auf das Urteil des 4. Senats vom 20. April 1961 - 4 RJ 106/66 - (SozR Nr. 3zu Art. 2 § 42 ArVNG) geht fehl. Die Revision will dieser Entscheidung entnehmen, das BSG habe der Vorschrift des Art. 2 § 42 ArVNG die Eigenschaft einer Regelung zur Wahrung des Besitzstandes nach dem bis 1. Januar 1957 geltenden Recht zugeschrieben. Diese einseitige Zweckzuordnung hat das BSG aber gerade verworfen; es hat vielmehr in Art. 2 § 42 ArVNG sowohl die Merkmale einer Berechnungsvorschrift als auch diejenigen einer Besitzstandsklausel erblickt. Die Revision meint: bei Eintritt der Berufsunfähigkeit im Mai 1958 hätten für das Kalenderjahr 1957 fünf Monatsbeiträge gefehlt, so daß der am 1. Januar 1957 vorhandene Besitzstand verloren gegangen sei. Dieser einmal verlorene Besitzstand könne nicht später im Jahre 1959 mit Wirkung für das Jahr 1961 wieder aufleben. Der Begriff des Besitzstandes setze seinem Wesen nach voraus, daß er bestehen bleibe.

Die Wirksam- oder Unwirksamkeit der nachentrichteten Beiträge folgt nicht, wie die Revision meint, aus § 1443 RVO aF, sondern beantwortet sich aus § 1419 Abs. 1 RVO nF.

Das für das frühere Recht in § 1443 RVO aF enthaltene Verbot der Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach Eintritt des Versicherungsfalles der Invalidität beruht im übrigen auf dem damaligen Begriff des Versicherungsfalles der Invalidität (§ 1253 Abs. 1 RVO aF), der die Fälle der dauernden Invalidität, der vorübergehenden Invalidität und bei Vollendung des fünfundsechzigsten Lebensjahres umfaßte. Wegen des einheitlichen Versicherungsfalles der Invalidität, der das Versicherungsleben der Versicherten abschloß, war die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge nach dem Eintritt der Invalidität ausgeschlossen. Nachdem das neue Recht des ArVNG die gestuften Versicherungsfälle der Berufsunfähigkeit (§ 1246 RVO), der Erwerbsunfähigkeit (§ 1247 RVO) und des Altersruhegeldes (§ 1248 RVO) an die Stelle des einheitlichen Versicherungsfalles der Invalidität gesetzt hat, bedurfte es hinsichtlich der Wirksamkeit der Nachentrichtung freiwilliger Beiträge einer unterschiedlichen Regelung. Diese hat das Gesetz in § 1419 Abs. 1 RVO geschaffen (vgl. Hanow/Lehmann/Bogs, Reichsversicherungsordnung, 4. Buch, Rentenversicherung der Arbeiter, § 1233 Anm. 10, 11; Brockhoff in RVO-Gesamtkomm., § 1419 Anm. 1). § 1419 Abs. 1 RVO nF enthält für die Versicherungsfälle der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit sowie des Todes nur insoweit ein Nachentrichtungsverbot als zur Anrechnung auf den bereits eingetretenen Versicherungsfall für Zeiten vorher keine freiwilligen Beiträge mehr entrichtet werden dürfen. Die Nachentrichtung für spätere Versicherungsfälle ist aber wirksam.

Entgegen der Auffassung der Revision enthält die RVO i.d.F. des ArVNG keine Lücke, die durch die Heranziehung des § 1443 RVO aF geschlossen werden müßte.

Soweit die Revision gegen das Ergebnis einwendet, hierdurch würden die ohnehin schon bestehenden Schwierigkeiten bei der Feststellung von Nachentrichtungen nur noch vermehrt, ist dieser Einwand tatsächlicher und nicht rechtlicher Natur. Solange das Gesetz die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge grundsätzlich zuläßt, werden praktische Schwierigkeiten in der Feststellung von Nachentrichtungen nicht zu umgehen sein, mögen diese nun größer oder geringer sein.

Zusammenfassend ist daher - im Anschluß an das Urteil des 4. Senats des BSG vom 28. Januar 1965 - 4 RJ 591/63 - (BSG 22, 236, 239 = SozR Nr. 29 zu Art. 2 § 42 ArVNG) - festzustellen, daß zur Anrechnung auf das Altersruhegeld freiwillige Beiträge nach Eintritt der Berufsunfähigkeit auch für Zeiten vorher wirksam nachentrichtet werden dürfen. Dies gilt auch bei Beachtung der Fristen der §§ 1418 ff RVO nF für die in Art. 2 § 42 ArVNG geforderten mindestens neun Monatsbeiträge.

Bei Anwendung dieser Grundsätze hat die Klägerin - wie schon die Vorinstanzen zutreffend entschieden haben - Anspruch darauf, daß die Beklagte das Altersruhegeld als "Vergleichsrente" nach Art. 2 § 42 ArVNG berechnet und gewährt.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2374901

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